Sonntag, 30. Mai 2021

Das Ende des Gehorchens

 Jede von außen geforderte Disziplin ist mit der Erwartung von Gehorsam verbunden. Gehorsam ist gewissermaßen die zwischenmenschliche Komponente der Disziplin: Eine Disziplin, die für eine andere Person und deren Wollen ausgeübt werden soll. Es gibt auf der einen Seite eine Autoritätsperson, die bestimmte Handlungen einfordert, die sie will. Auf der anderen Seite gibt es die untergebene Person, deren Willen nichts zählt. 

Der Gehorsam kann mit verschiedenen Mitteln herbeigeführt werden, z.B. mit Zwang und Druck, mit Manipulation oder mit dem Versprechen von Belohnungen. Das Wort Gehorsam kommt im Deutschen von „Hören“, und es gibt auch die Redewendung: „Auf jemanden hören“ im Sinn von: „Jemandem folgen (im Sinn von Gefolgschaft leisten) oder gehorchen“. Der Stimme der Person, die den Gehorsam verlangt, muss gehorcht werden, sie hat das Sagen und ihr Wort ist mächtig. 

Die Forderung nach Gehorsam setzt also immer ein Machtgefälle voraus und ist typisch für Abhängigkeitsbeziehungen, die immer auch durch unterschiedliche Freiheitsgrade gekennzeichnet sind. Das Gehorchen wird in vielen Fällen von den Untergeordneten als unangenehm und missachtend erlebt, wenn der Sinn des Geforderten nicht nachvollziehbar ist. Manchmal kommen Gefühle der Erniedrigung und Demütigung dazu, vor allem dann, wenn der Befehl mit einer persönlichen Herabsetzung verbunden ist. 

Deshalb tun sich z.B. manche Menschen mit Corona-Regeln schwer, weil sie deren Begründungen nicht teilen und sich bevormundet und herabgesetzt fühlen. Andere wiederum, die an den Nutzen der Regeln glauben, erfüllen die Regeln freiwillig, und solche, die dazu noch viele Ängste vor einer Ansteckung haben, neigen zum Übererfüllen oder zum Einmahnen der Einhaltung der Regeln bei anderen, und fordern damit deren Gehorsam. 

Vor allem, wenn der Befehl mit einer Beschämung verbunden ist, ist der innere Widerstand gegen die Erfüllung des Geforderten groß. Selbst wenn die Einschätzung der Umstände zu dem Schluss führt, dass es opportuner ist, zu gehorchen, bleibt das verletzte, weil missachtete Selbstgefühl bestehen und bewirkt, dass das Anbefohlene nur widerwillig, fehlerhaft, langsam oder anderswie sabotiert wird. 

Denn ein beschämender Befehl, der mit der Abwertung der Person verbunden ist, von der der Gehorsam verlangt wird, will ihr das eigene Wollen absprechen. Anstelle des Eigenwillens soll der fremde Wille treten, der mit Gewalt gleichsam einen Teil des Selbst erobert. Dagegen muss sich das Selbst in irgendeiner Weise zur Wehr setzen und rächen, sei es auch nur mit der heimlichen Verachtung der Befehlsperson. 

Eine kleine Geschichte des Gehorsams

In der Abfolge der Generationen ist nicht selten zu beobachten, dass auf eine Generation mit sturen Regeln eine folgt, die die Zügel ganz locker lässt, worauf wieder eine folgt, die Regeln mit Nachdruck einfordert usw.  Zumindest in den sogenannten westlichen Kulturen gibt es darüber hinaus einen Trend, der wegführt von der Gehorsamsorientierung. Diese Erziehungsmaxime hat im Nationalsozialismus und in anderen Formen des Faschismus ihren Höhepunkt erlebt. Die dort propagierte Verbindung einer disziplinierenden, den Eigenwillen brechenden Erziehung und der Zurichtung von willfährigen Soldaten, die den Befehlen des Führers gedankenlos Gehorsam leisten, ist geradewegs in die Katastrophe des Weltkriegs gemündet. 

Gleichwohl hat die nachfolgende Generation die Militär- und Kriegstraumen der Väter abbekommen, indem viele Kriegsheimkehrer ihr Scheitern und ihren Frust auf ihre Kinder ausgelassen haben. Die erlittenen Demütigungen durch den erzwungenen Gehorsam wurden in vielen Fällen als autoritäres Gehabe an die Frauen und Kinder weitergegeben. Der Reflex auf diese destruktiven Dynamiken führte zur antiautoritären Welle der sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit der massiven Kritik an der Gehorsamserziehung. Experimente mit neuen Formen, Kinder großzuziehen, wurden gestartet. Die Rechte der Kinder wurden zunehmend für eminent wichtig erachtet und unter gesetzlichen Schutz gestellt. Oft wurde allerdings in der Erziehung übers Ziel hinausgeschossen, indem jede Grenzsetzung und Forderung an die Kinder von einem schlechten Gewissen begleitet war. Seither ist die Suche nach einer Balance zwischen Konsequenz und Freiheit in der Erziehung im Gange. Gewaltfreiheit im gesellschaftlichen Konsens außer Streit, die körperliche Züchtigung von Kindern ist geächtet, auch wenn damit noch lange nicht alle Elemente der physischen und emotionalen Gewalt aus den Eltern-Kind-Beziehungen verschwunden sind. Doch sind viele Eltern der festen Überzeugung, ihre Kinder nicht zu schlagen, auch wenn sie selber damals noch als „gesund“ gerechtfertigten Watschen bekommen haben.

Gehorsam ist das zentrale Erziehungsziel in einer hierarchischen Gesellschaftsform und Bewusstseinsstufe. Sie hat schon auf den darauf folgenden Entwicklungsstufen nur mehr einen nachgeordneten Rang. Denn sozioökonomisch erfordert schon der Kapitalismus mehr als Gehorsam und Unterordnung. Der äußere Zwang wird zunehmend durch einen inneren ersetzt: Statt dass der Fabriksherr seine Arbeiter mit der Peitsche zur Arbeit zwingt, setzt die Gesellschaft fest, dass nur der, der arbeitet, auch zu essen bekommt. Jeder ist grundsätzlich frei und ohne Zwang, aber wer sich nicht in die vorgegebenen Arbeitsverhältnisse einfügt, geht zugrunde. Also wird es zur Erziehungsleitlinie, das Leistungsprinzip im Inneren der Kinder zu verankern. Sie sollen von klein auf darauf vorbereitet werden, lesen, schreiben und rechnen und was sonst noch notwendig ist, zu lernen, damit sie später im Konkurrenzkampf bestehen und ihre wirtschaftliche Existenz sichern können. Kinder sollen also lernen, dem implantierten Leistungsdenken zu gehorchen.

Dazu kommt allerdings, dass im Fortschritt des Kapitalismus immer mehr Kreativität und Ideenreichtum der Leute notwendig wird. Diese Qualitäten gedeihen aber nicht in einer Atmosphäre des Befehlens und Gehorchens, sondern erfordern entspannte und angstfreie Räume. Mitarbeiter, die sich mit der Firma, für die sie arbeiten, identifizieren, leisten mehr als solche, die ihre Arbeit widerwillig oder unter Druck tun. Deshalb gibt es Modelle der partizipativen und kooperativen Führung, in denen die intrinsische Motivation über das Befehl-Gehorsamsschema gestellt wird.

Das Führen mit Gehorsamserwartung ist nicht mehr modern, auch deshalb, weil es dem wirtschaftlichen Erfolg widerspricht. Hier geht die Entwicklung des Kapitalismus mit den Gedanken der Menschenrechte zusammen, zu denen die Über- und Unterordnung der Menschen, die Voraussetzung für das Befehlen, nicht passt. Alle Menschen sind von Grund auf gleich, deshalb darf es nicht vorkommen, dass eine Person der anderen den eigenen Willen aufzwingt. Alle Menschen sollen sich auf Augenhöhe begegnen können. Jenen, die aufgrund ihres Alters oder wegen Behinderung dazu nicht in der Lage sind, soll mit Respekt und Achtung begegnet werden. Damit hat der Gehorsam als Funktion des Befehlens ausgedient. Wer es nicht schafft, andere vom eigenen Wollen zu überzeugen und das Wollen der Bezugspersonen zu achten, ist weder zum Erziehen noch zum Führen geeignet. 

Von der Bildungsforschung und aus eigenen Erfahrungen wissen wir, dass Lernen unter gewalt- und bedrohungsfreien Bedingungen weitaus besser funktioniert als unter Gehorsamsbedingungen. Im entspannten Zustand, in der Sicherheit vor unerbittlichen Ansprüchen von Personen, von denen man abhängig ist, speichert das Gehirn am besten. Die Motivation, die aus dem eigenen Selbst kommt, ist der beste Garant für das innere Wachstum und für den Aufbau emotionaler und kognitiver Kompetenzen.

Das Prinzip des Gehorsams wird mehr und mehr auf Randbereiche beschränkt, in denen es noch Sinn macht: In der militärischen Befehlskette im Ernstfall oder in anderen Notsituationen. In allen anderen Bereichen geht der Respekt vor dem Eigenwillen der Mitmenschen vor jede Form der Überordnung und Herabsetzung. Gehorsamserwartungen haben keinen Platz in der Kommunikation freier Bürger noch zwischen Eltern und Kindern.

Zum Weiterlesen:
Disziplinierung und Selbstdisziplin
Autonomie und Disziplin


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