Mittwoch, 8. Januar 2025

Frieden finden mit der politischen Krise

Die Rechts-Mitte-Links oder konservativ-liberal-sozialdemokratischen Regierungsverhandlungen sind gescheitert, die einzige mögliche Regierungsform heißt Blau-Schwarz, und diese Alternative erzeugt bei jenen, die die Erfahrungen der Schüssel/Haider- bzw. Kurz/Strache-Periode noch nicht verdrängt haben, zu viel Unsicherheit und Irritation. Wie ist es möglich, dass eine rechte bis rechtsextreme Partei, die laufend in Korruptionsskandale verwickelt ist, soviel Zulauf bei den Wählern und damit so viel Macht im Staat erlangt? Wie ist es möglich, dass eine konservativ rechte Partei nur mit den extrem Rechten eine Regierung bilden kann? Wie ist es möglich, dass ein Mann Regierungschef wird, der von einer großen Mehrheit abgelehnt wird?

Ein realistisches Zukunftsszenario

Realistisch betrachtet, werden auf unser Land viele Veränderungen zukommen, mit denen die schon erreichten Standards der Menschenrechte und Individualfreiheiten zurückgeschraubt werden. Es ist damit zu rechnen, dass der öffentlich-rechtliche Mediensektor privatisiert und in den Propagandaapparat der Regierung eingebaut wird. In der Flüchtlings- und Asylpolitik werden die Gesetze noch weiter verschärft werden und die humanitären Bemühungen vieler Freiwilliger, die gewohnheitsmäßig aus der rechten Ecke als Gutmenschen verspottet werden, werden zunichtegemacht. Viel individuelles Leid wird geschehen. Es wird ein Konfliktkurs mit der EU geführt werden, mit dem Österreich eine Randposition im Rahmen der Union einnehmen wird. Das Vorbild Ungarn wird zu schamloser Korruption und irrationaler Anti-EU-Polemik führen. Das russische Regime gewinnt einen weiteren Förderer im Westen und reibt sich die Hände wegen dem nächsten gelungenen Schrittes zur Destabilisierung der EU. Die sozialen Institutionen (Arbeiterkammer, Gewerkschaft) werden geschwächt, womit auch die Rechte und Unterstützungsformen für die arbeitende Bevölkerung untergraben werden. Vielleicht wird auch die Sozialversicherung mit Milliardenaufwand „reformiert“ und nachhaltig in ihrer Leistungsfähigkeit geschwächt. Auf die NGOs, die im Rahmen der Beförderung der Menschenrechte und der Individualfreiheiten arbeiten, kommen karge Jahre zu. 

In Österreich werden nur kosmetische Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels stattfinden, die Klimaziele werden verfehlt werden und das Land verliert wertvolle Jahre, um die Erhitzung der Atmosphäre abzuschwächen. Die Verkehrspolitik wird weiterhin die Autofahrer gegenüber allen anderen Verkehrsteilnehmern bevorzugen und der Umstieg auf die E-Mobilität wird erschwert. Alle ökologischen Projekte und Initiativen werden gegenüber Trachtenvereinen und Volkstanzgruppen, vielleicht auch Pferdezuchtvereinen auf Förderungen verzichten müssen. Die Verbesserung der Frauenrechte ist den zukünftigen Regierungspartnern vermutlich kein Anliegen, eher wird der Druck steigen, Frauen in ihre traditionelle Rolle am Herd zurückzudrängen, soweit sie in der Wirtschaft nicht dringend benötigt werden. Außerdem wird das Gendern verboten, wo immer es geht. Die Kultur wird mittels selektiver Subventionspolitik zur Nicht-Wokeness genötigt werden. 

Die unumgänglichen Sparmaßnahmen werden vor allem die schwächeren Bevölkerungsgruppen treffen, aber so, dass sie es möglichst nicht merken, und sie werden mit Symbolgeschenken ruhiggestellt. Die Großunternehmen werden unter dem Vorwand der Förderung eines Konjunkturaufschwungs Steuergeschenke bekommen, und die Reichen und Superreichen des Landes erfreuen sich weiterhin ihrer Steuerprivilegien. Die rechten und rechtsextremen Gruppierungen werden gefördert und ihre Sprache wird salonfähig gemacht. Die Verrohung der Sprache schreitet damit fort, die Debattenkultur verschwindet. Von höchster Stelle werden Verschwörungstheorien verkündet und als Wahrheit verkauft. Der Unterschied zwischen Realität und Fiktion wird systematisch verzerrt.

Was tun?

Mit solchen oder ähnlichen oder vielleicht anderen, unerwarteten Entwicklungen müssen wir rechnen. Es hilft nichts, über die Rückschritte in der Humanität zu jammern und sich resigniert in die eigene Hilflosigkeit zurückzuziehen. Es bringt uns auch nicht weiter, in Hass- und Wutgefühlen steckenzubleiben. Wir sind mündige Staatsbürger, und die Partizipation in der Demokratie beschränkt sich nicht auf ein periodisches Wählengehen. Wir müssen unsere Stimme umso mehr erheben, je mehr wir den Eindruck haben, dass sich die Gesellschaft unter dem Einfluss der Politik in eine falsche Richtung entwickelt. Wir brauchen eine starke und wehrhafte Zivilgesellschaft, die sich auf vielfältige und kreative Weise in die Vorgänge einmischt und auf jede Anpassung oder Unterordnung unter die neuen Machtstrukturen verzichtet.  Und wir sind diese Zivilgesellschaft und wirken umso mehr daran mit, je mehr wir uns einmischen.

Die Journalistin und Buchautorin Ingrid Brodnig (Wider die Verrohung. Über die gezielte Zerstörung öffentlicher Debatten. Wien: Brandstätter Verlag 2024) schreibt auf Facebook:

„Was wir alle tun können, wenn eine FPÖ-geführte Regierung kommt: Auf Fakten hinweisen, an Fakten festhalten. FPÖ-Politiker:innen verbreiten Falschmeldungen – z.B. über Geflüchtete oder zu Klima-Fragen. Auch geben sie Online-Medien Interviews, die mit Verschwörungsmythen, Fehlinformation und extremistischen Erzählungen auffallen. Umso wichtiger ist, Fakten selbst im eigenen Umfeld breit sichtbar zu machen! Das ist natürlich nicht (!) das einzige, was man tun kann/soll: Aber es ist ein Teil von möglichen Reaktionen, der uns parat steht. Denn gerade wenn diese Rhetorik und die Behauptungen der FPÖ nun noch sichtbarer werden, wird noch mehr Einordnung wichtig. Und wir alle können Teil der Einordnung sein.“

Verständnis für das gewinnen, was wir nicht verstehen

Was wir noch tun können, ist Verständnis für die Gründe zu finden, die diese Entwicklungen bewirkt haben. Es genügt nicht, entsetzt über die Dummheit oder Bösartigkeit anderer Menschen zu sein. Auch wenn es vielleicht weniger intelligente oder moralisch weniger reflektierte Mitmenschen gibt, hilft es nicht, sie dafür abzuwerten. Jeder Wähler/jede Wählerin von Rechtsparteien hat seine/ihre Gründe dafür. Je mehr wir verstehen können, welche Nöte und Ängste in diesen Wahlmotiven stecken, desto besser können wir verstehen, wie diesen Nöten und Ängsten auch auf andere Weise abgeholfen werden kann. Es gibt Mängel in allen politischen Parteien und Gruppierungen. Und es gibt menschliche Anliegen, die sie vertreten, die nicht alle für jeden nachvollziehbar sein mögen, aber die eine Berechtigung haben. Das Verständnis für die Motive anderer bringt uns dazu, innerlich Brücken aufzubauen, wo sonst Gräben sind. Wo Verbindung statt Trennung besteht, vermehrt sich der Friede.

Dazu kommt noch, dass viele der übergreifenden und globalen Veränderungen, in denen die Welt steckt, neue Bewältigungsstrategien erfordern. Die Demokratie hinkt in vielen Bereichen hinter diesen neuen Entwicklungen hinterher, wodurch die Bürger, die Subjekte und Objekte der Demokratie, den Eindruck bekommen, nicht gesehen und gehört zu werden. Dann neigen sie dazu, Parteien zu wählen, die ihnen „Volksnähe“ versprechen, die „auf den kleinen Mann hören“, die „gegen die Eliten“ oder „gegen das System“ auftreten. Durch die immer komplexer werdenden Probleme spüren immer mehr Menschen eine Entfremdung von der Demokratie, der sie nicht mehr vertrauen. (Vgl. dazu: Armin Schäfer/Michael Zürn: Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus. Berlin: Suhrkamp 2021)

Es sind also reale Nöte auf ökonomischer und psychologischer Ebene, die Menschen in die Fänge von radikalen Ideologien treiben, und nicht Intelligenz- oder Charaktermängel. Sie leiden an Umständen, für die sie keine andere Abhilfe sehen als eine Partei zu wählen, deren Versprechen noch glaubhaft erscheinen, weil sie länger nicht mehr in Regierungsverantwortung war. Wenn wir aus dem Verurteilen von Menschen herausfinden und sie in ihrem Problemhorizont verstehen, kommen wir selbst leichter in den Frieden mit dem, was uns an den Umständen leiden lässt.

Vertrauen aufbauen

Wir brauchen jede Menge Vertrauen, um mit den Herausforderungen umgehen zu können, die auf uns zukommen: Auf unsere Fähigkeiten vertrauen, auf unsere Mitmenschen vertrauen, dass sie im Grund alle auf ihre Weise das Gute wollen, auf die Kraft der Vernunft und der freien Rede vertrauen, auf die Lernfähigkeit in uns und in allen Menschen vertrauen, auf die Langzeitentwicklung vertrauen, die Fehler ausbügeln kann und irgendwann dann wieder dem Fortschreiten in der Menschlichkeit dient. Wir haben die Fähigkeit, uns einzubringen und uns für unsere Anliegen einzusetzen, wir können im Rahmen unserer Möglichkeiten mitgestalten und uns einbringen und die „schweigende Mehrheit“ anderen überlassen. Die Flinte ins Korn zu werfen, ist das, was sich die gerade Mächtigen von ihren Untertanen wünschen, aber den Gefallen sollten wir ihnen nie tun. Bleiben wir selbstbewusst und aufrecht und lassen wir uns nichts gefallen. Erheben wir Einspruch, wo die Grenzen der Humanität überschritten werden.

Aktiver Friede

Solange wir mit der Realität hadern, bleiben wir im Unfrieden mit der Welt und mit uns selbst. Wenn wir akzeptieren, was ist, kommen wir in Frieden mit der Wirklichkeit und mit uns selbst. Wir sind mit unserer Kraft und Zuversicht verbunden. Akzeptieren heißt nicht, Schlechtes oder Böses gut zu finden. Vielmehr erwächst aus dem Akzeptieren zunächst die genaue Beobachtung dessen, was geschieht, und darauf baut eine reflektierte Bewertung der Vorgänge auf. Das Handeln, der Einsatz für das Gute oder das Bessere bildet die notwendige Konsequenz aus dem Beobachten und Bewerten. 

Auf der Basis des inneren Friedens kommen wir zu einem Engagement für eine bessere Gesellschaft und Politik, ohne Hass und Besserwisserei. Es handelt sich um einen aktiven Frieden, der zum Tun auffordert, wenn es geboten ist. Für den Einsatz im Sinn des aktiven Friedens wird es in der Zukunft viel Gelegenheit geben. 


Dienstag, 7. Januar 2025

Die Redefreiheit in Gefahr

Die Redefreiheit zählt zu den liberalen Grundrechten, die in vielen Ländern mit hohem Blutzoll gegen autoritäre Regierungen erkämpft wurden. Andere autoritäre Regierungen haben die Redefreiheit inzwischen wieder drastisch eingeschränkt, wie z.B. Ungarn, Türkei, Thailand, China und Istanbul, von Russland ganz zu schweigen. In den USA gibt es Redebeschränkungen für Lehrer in einigen Bundesstaaten z.B. was Themen der Sexualität oder der Geschlechtsidentität anbetrifft.

Die Redefreiheit ist zudem eine Grundvoraussetzung für jede Demokratie. Wenn die Herrschaft beim Volk liegen soll, ist ein Medium erforderlich, in dem das Volk seinen Willen abstimmen und formulieren kann. Das Medium ist das Gespräch, die Diskussion, die Debatte unter gleichrangigen Staatsbürgern. Wenn das Grundrecht in einem Staat gesichert ist, indem es z.B. wie in den meisten liberalen Demokratien im Verfassungsrang steht, geht es darum, die Grenzen der Individualrechte abzustecken: Wo verletzen Meinungsäußerungen die Integrität und Würde einer Person?

Angriffe auf die Redefreiheit

Dass die Redefreiheit von rechts angegriffen wird, hat eine lange Tradition (siehe z.B. die nationalsozialistischen und faschistischen Regime). Denn diesen Bewegungen geht es um die Errichtung von autoritären Herrschaftsformen oder Diktaturen. Deshalb ist es auch heute nicht verwunderlich, dass sie von dieser Seite eingeschränkt wird, sobald die Macht erlangt wird. Das geschieht vor allem dadurch, dass die öffentlichen Medien an die Kandare genommen werden. Auch Mitarbeiter in Betrieben, die in öffentlicher Hand sind oder mit dem Staat kooperieren, werden der Meinungskontrolle unterworfen, indem sie gekündigt werden oder mit der Kündigung bedroht werden, falls sie regierungskritische Äußerungen machen. Dadurch wird ein Klima der Angst erzeugt, das daran hindert, frei seine Meinung zum Ausdruck zu bringen.

Es gibt aber auch Bedenken gegen die Redefreiheit von politisch linker Seite. Lange Zeit war es eine zentrale Forderung von linker Seite, die Redefreiheit vor den Tyrannen zu schützen. Doch im Zug der Identitätsbewegung ist aus dieser Ecke die Redefreiheit als Freiheit für rassistische und frauenfeindliche Äußerungen in Zweifel gezogen worden. Auf den linken Theoretiker Herbert Marcuse geht die Forderung zurück, eine „demokratische erzieherische Diktatur freier Menschen“ zu errichten, in der den Gruppen die Versammlungs- und Redefreiheit entzogen wird, die „eine aggressive Politik, Aufrüstung, Chauvinismus und Diskriminierung aus rassischen und religiösen Gründen befürworten.“ (Mounk S. 221) 

Unter dem Einfluss von Michel Foucault wurde die Abwertung der Redefreiheit mit dem zusätzlichen Argument vorgebracht, dass sie nur der Durchsetzung von Macht dient. Die Redefreiheit wäre nur ein weiteres Privileg der bevorzugten Gesellschaftsschichten mit dem Ziel, die Unterdrückung aufrechtzuerhalten. Im Zug der Ideenentwicklung im Rahmen der Identitätsbewegung sind neue Normen und Standards entstanden, die weniger durch politische Machtausübung, aber mehr durch „die Tyrannei der herrschenden Meinung und des herrschenden Gefühls“ (John Stuart Mill), also durch die Erweckung von Schamgefühlen die Redefreiheit beschränken. Das Verbot, bestimmte Formulierungen und Ausdrücke, wie z.B. das „N-Wort“ zu verwenden, wird mit der Drohung von sozialer Ächtung vorangetrieben. Es soll die Norm verinnerlicht werden, damit man sich in der Öffentlichkeit nicht blamiert und die Achtung der Mitmenschen (und unter Umständen den Job) verliert. Also hält man lieber den Mund, bevor man sich die Zunge durch eine möglicherweise rassistische oder chauvinistische Äußerung verbrennt.

Gegen die Zensur

Die Argumente für die Redefreiheit sind gravierend. Es entspricht einem menschlichen Grundbedürfnis, die eigene Meinung ausdrücken zu können und dafür von anderen geachtet zu werden. Wer eine Meinung haben darf, gehört zur Gesellschaft; wer mitreden darf, hat Teil an der Macht. Redeverbote sind immer eine Form der Unterdrückung und stellen eine Entwürdigung dar. Sie zersägen die Grundlagen einer egalitären Gesellschaft.

Dazu kommt, dass die unterschiedlichen Sichtweisen, die die Menschen haben, ein enormes kreatives Potenzial enthalten. Alle haben früher geglaubt, dass die Erde eine Scheibe ist; jemand hat die damals als verrückt erscheinende Idee gehabt, dass sie eine Kugel sein könnte und Recht behalten. Alle Fortschritte im Wissen und in der Erkenntnis sind der freien Meinungsäußerung geschuldet: Menschen haben Ideen, die außerhalb des gewohnten Horizontes führen und auf Neuland hinweisen. Andere greifen sie auf und entwickeln neue Einsichten. Der Fortschritt in den Techniken, Wissenschaften, Künsten, Wirtschaftsweisen und schließlich in der Evolution des Bewusstseins, das Vertiefen des Wissens und der ethischen Regeln erfolgt auf der Grundlage der unterschiedlichen Meinungen, die ausgesprochen oder schriftlich publiziert werden. 

Irreführung

Was ist mit Falschaussagen, „alternativen Fakten“, Verschwörungstheorien usw., also mit Meinungsäußerungen, die in die Irre führen oder manipulieren sollen? Sollten sie von der Redefreiheit ausgeschlossen werden? Jede Zensur der Redefreiheit birgt das Risiko der Willkür und der Unterdrückung. Es müssten Kriterien gefunden werden, nach denen bestimmte Wortmeldungen verboten werden, und diese müssten auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruhen. So gibt es z.B. in Österreich im Rahmen des Verbots der nationalsozialistischen Wiederbetätigung das Verbot der öffentlichen Äußerung von eindeutig nationalsozialistischen Parolen, Phrasen oder Gesten. Der Konsens über diese Einschränkung der Redefreiheit ist breit, auch wenn es rechtsextreme Gruppierungen gibt, die diese Verbote aufheben wollen.  Die Vergangenheit Österreichs ist so schwer mit den Gräueltaten des NS-Regimes verbunden, dass ein derartiges Verbot den meisten als gerechtfertigt erscheint und eine kleine Anerkennung der Leiden der Opfer des Regimes darstellt.

In anderen Bereichen wird es aber schwierig sein, einen derartigen Konsens zu finden. Da ist es geboten, dass Falschmeldungen richtiggestellt werden, dass Manipulationen entlarvt und Dummheiten ironisiert werden. Alle Nutzer der Kommunikationsmedien sind im Grunde verpflichtet, diese Medien frei von menschlicher Bosheit oder Ignoranz zu halten, so gut es eben geht. Wer nichts gegen die Verschmutzung dieser öffentlichen Räume tut, trägt zu diesem Missbrauch bei. 

Vielmehr sollten wir differierende Meinungen als Anlass für das Weiterforschen nach der Wahrheit nehmen. Wenn uns eine Nachricht als irreführend und falsch erscheint, haben wir die Möglichkeit, eine korrigierende Nachricht in die kommunikative Welt zu setzen. Auf Falschmeldungen können Richtigstellungen folgen, auf Manipulationen Entlarvungen und Aufklärungen. 

Redefreiheit und Hass

Was ist mit Hassbotschaften, Diffamierungen, Abwertungen, also mit Angriffen auf die Integrität von Personen? Die öffentliche Entwürdigung eines Menschen stellt eine schwere Verletzung der Persönlichkeitsrechte dar, und zu deren Schutz muss es einklagbare Rechte und Sanktionen geben. Es stellt einen Missbrauch der Redefreiheit dar, wenn jemand Hassgefühle gegen andere Menschen an die Öffentlichkeit bringt und sie damit in ein schlechtes Licht rückt, was mittels der sogenannten sozialen Medien heutzutage für jedermann und jederfrau ein Leichtes ist. Wo genau die Grenze zwischen dem Schutz der Würde und Überempfindlichkeit liegt, muss im Zweifelsfall von Gerichten bestimmt werden. In Deutschland wurde vor kurzem ein Rentner mit einer Strafe von € 800,- belegt, weil er über eine von ihm nicht geschätzte Politikerin geschrieben hatte, dass sie wohl beim Trampolinspringen zu oft an die Decke geknallt wäre. Manche meinten, die Politikerin wäre zu empfindlich, so eine Meldung zur Strafanzeige zu bringen. Andere finden es wichtig, dass solche Hassbotschaften nicht folgenlos bleiben und damit Nachahmer motivieren. Über das Ausmaß von Sanktionen kann und soll debattiert werden, aber nicht über die Aufgabe des Staates, Individuen vor aggressiven Grenzüberschreitungen zu schützen.

Im Internet ist viel Müll unterwegs – Wertloses Zeug, Unausgegorenes und Menschenfeindliches. Viele toben ihre unbewältigten inneren Themen fern von Vernunft und Redlichkeit im Netz aus. Sie sollen ihre Strafe kriegen, wenn sie die Grenzen des Gesetzes übertreten. Aber eine Zensur einzuführen stellt im besten Fall eine Problemzone ab, erzeugt freilich zugleich viele neue. Denn Zensur kann nie objektiv erfolgen, sondern enthält immer ein Moment der Willkür und damit der Unterdrückung. Wer Zensur ausüben kann, verfügt über eine große Macht, die mit der Demokratie nicht vereinbar ist. Wird die Meinungsfreiheit eingeschränkt, verliert die Gesellschaft einen wichtigen Mechanismus der Selbstkorrektur. Je mehr Menschen hingegen an der „Steuerung“ der Gesellschaft beteiligt sind, indem sie mitreden können, desto sicherer ist sie gefeit vor schmerzhaften Fehlentwicklungen. Dazu gehört auch, dass Unsinniges, Blödsinniges, Beschränktes oder sogar Boshaftes auftaucht. Das können wir in Kauf nehmen, damit können wir leben, solange es eine Rechtsordnung gibt, die vor Auswüchsen schützt.

Selbstzensur

Natürlich dürfen wir auch den frommen Wunsch nach mehr Selbstzensur hegen. Um die Redefreiheit nicht zu missbrauchen, sollte die Regel gelten, nicht sofort alles hinauszuposaunen, was einem gerade gegen den Strich geht, sondern eine Denkpause einzulegen, in der der Inhalt und die Formulierung aus einer inneren Distanz betrachtet werden können, bevor die Botschaft an die Öffentlichkeit kommt. Haben wir die Integrität anderer Personen mit unserer Äußerung geachtet? Sind wir uns des Grundsatzes  der Meinungsfreiheit bewusst, indem wir andere Ansichten achten, auch wenn sie uns als falsch oder unethisch erscheinen?

Dazu brauchen wir ein Stück Selbstdisziplin, die wir nur bei uns selbst aufbringen können. Mit unserem Beispiel können wir aber auch die Menschen in unserer Umgebung beeinflussen. Die öffentlichen Debattenräume frei von Hass, Aggression und Diffamierungen zu halten, ist ein wichtiges Anliegen, das die Grundlagen einer lebendigen und zukunftsfähigen Demokratie sichert.

Literatur: Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität.  Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Stuttgart: Klett-Cotta 2024, insbes. S. 215-242

Zum Weiterlesen:
Die Standpunkttheorie und ihre Schwächen
Identitätsideologie als Gefahr für die Demokratie


Freitag, 3. Januar 2025

Die Standpunkttheorie und ihre Schwächen

Der klassische Liberalismus setzt auf eine Verbesserung der Freiheitsrechte und der Gleichheit unter den Menschen. Dieses Programm muss immer wieder vor Ideologisierungen geschützt werden. Eine Form der Zweckentfremdung und Verkürzung stellt der Neoliberalismus dar, dem es vor allem um die Wirtschaftsfreiheiten geht, die dazu dienen, den Kapitalismus zu beflügeln und Geld in die Taschen der Unternehmen fließen zu lassen, während Freiheits- und Gleichheitsaspekte allenfalls Nebensache sind und nur gelten sollen, solange sie das Gewinnstreben nicht beschränken. Eine andere Form der Ideologisierung der liberalen Idee stellt die Identitätsideologie dar, die berechtigte Anliegen des klassischen Liberalismus aufgreift und einseitig verschärft, um zwingende politische Forderungen daraus abzuleiten. Die Radikalisierung stellt eine Ideologisierung dar, weil sie darauf beruht, wichtige Aspekte der Realität auszublenden. 

Das wird aus der Kritik an der Identitätssynthese von Yasha Mounk deutlich, die mit dem Anliegen verbunden ist, die universalistische Ethik, die lange Zeit sowohl im Zentrum des Liberalismus wie des Sozialismus gestanden ist,  wieder in ihr Recht zu setzen. Die  Ideologisierung des liberalen Programms entstand durch die Einbeziehung der pessimistischen Anthropologie nach Michel Foucault, wie im vorigen Blogartikel beschrieben wurde. Die Zuspitzung der Identitätsfragen liefert zugleich Wasser auf die Mühlen der Rechten, die sich bedroht fühlen und gegen alles kämpfen, was aus dieser Ecke kommt. Sie versuchen, das Kind mit dem Bade auszuschütten, also zusammen mit der Idee zugleich grundlegende Freiheitsrechte zu beschneiden, um an die Macht zu kommen und diese abzusichern. 

Verstehen wir die Grundlagen und Dynamiken der Identitätssynthese, so können wir leichter nachvollziehen, weshalb rechte und rechtsextreme bis faschistische Politiker und Parteien in vielen liberalen Ländern im Aufwind sind. Es scheint, dass die überzogenen Forderungen aus der Identitätsideologie viele Wähler in die Arme dieser Gruppierungen treiben, Bürger, die sich durch den Druck aus dieser Richtung überfordert und bedroht fühlen.

Mounk beschreibt fünf Hauptelemente der Identitätssynthese:

1. Standpunkttheorie: Personen aus verschiedenen (z.B. ethnischen) Gruppen können einander nie wirklich verstehen. Daraus folgt, dass sich die vergleichsweise Privilegierten den Behauptungen und Forderungen der Minderheiten beugen müssen. 

2. Kulturelle Aneignung: Gruppen verfügen über ein kollektives Eigentum an ihren Kulturprodukten, von Kleidungsstücken bis zu Essenszubereitungen. Menschen, die anderen Gruppen angehören, dürfen solche Produkte nur mit Einschränkungen benutzen. 

3. Beschränkungen der Redefreiheit: Der Staat soll dafür sorgen, dass keine Fehlinformationen und hasserfüllte oder vorurteilsbeladene Äußerungen verbreitet werden. 

4. Progressiver Separatismus: Die Menschen sollten motiviert werden, sich mit den ethnischen „rassischen“, religiösen, sexuellen und geschlechtlichen Gruppen zu identifizieren, denen sie angehören.  Sie sollten sich zusammenschließen und ihre Gruppenidentität stärken, um sich politisch besser gegen Ungerechtigkeiten wehren zu können.

5. Identitätssensible Politik: Da es sozioökonomisch benachteiligte Gruppen gibt, muss der Staat die Unterprivilegierten bevorzugen. Es soll der Staat also Menschen je nach ihrer Gruppenzugehörigkeit unterschiedlich behandeln. (S. 176-177)

Diese programmatischen Forderungen sind an sich nicht unvernünftig. Unrecht und Ungerechtigkeiten sollen beseitigt werden, das sollten die dominanten Gruppen einsehen und Korrekturen unterstützen, damit die Gesellschaft als Ganze mehr Stabilität gewinnt. Werden diese Forderungen allerdings zugespitzt und beladen mit ideologischen Ansprüchen vorgebracht, erzeugen sie Widerstand und Gegenforderungen. Dazu kommt, dass durch jede Verabsolutierung Widersprüche und Ungereimtheiten erzeugt werden, die nur zu Konflikten führen können. Wenn z.B. die Redefreiheit eingeschränkt werden soll, um Minderheiten zu schützen, gehen wichtige Elemente für demokratische Diskurse verloren, was zu Verunsicherung und Abwehr führt. Es kann auch keine Lösung darin liegen, dass sich die unterschiedlichen Gruppen dauerhaft voneinander abschotten („progressiver Separatismus“), um die Identifikation mit ihrer Identität zu verstärken. Denn aufgerichtete Grenzen vermehren das Misstrauen und verhindern die Verständigung zwischen den einzelnen Gruppen. Die Gruppenidentitäten verfestigen sich (z.B. als Angehöriger einer Nation), und die übergeordneten Identitäten verlieren an Attraktivität (z.B. als Angehöriger der Menschheit).

Die Ideologie bewirkt, dass die berechtigten Anliegen, die sie vertritt, den Widerstand verstärkt, den bestimmte Kreise der Gesellschaft ohnehin gegen solche Änderungen haben. Der Druck, der mit der Ideologie der Identität aufgebaut wird, erzeugt Angst und Abwehr, die wiederum zur Radikalisierung der Gegenpositionen führen. Je radikaler die Forderungen vorgebracht werden, desto hartnäckiger wird der Widerstand dagegen, der sich durch die Bedrohung im Recht oder sogar in der Pflicht fühlt.

Die Standpunktepistemologie

Ein wichtiges Element der Identitätssynthese stellt die Standpunkttheorie dar, auf die ich genauer eingehen möchte. Damit ist gemeint, dass der eigene Standpunkt die Erkenntnis bestimmt. Der Standpunkt (die Perspektive) wiederum bestimmt durch die eigene Identität, die einer Gruppe zugeordnet werden kann, z.B. weiße Mittelklasse oder schwarze Unterschicht. Es ist klar, dass der eigene soziale Hintergrund sowie die Position, an der man sich gerade befindet, die Wahrnehmung und die Interpretation der Wirklichkeit beeinflussen.  Das sind einfache Grundlagen der Erkenntnistheorie, in der spätestens seit Immanuel Kant klar ist, dass jede Erkenntnis subjektiv ist. Die Standpunkttheorie geht darüber hinaus, indem deren Autoren behaupten, dass die Informationen, die am Standpunkt gesammelt werden, nicht (oder nicht zureichend) an Menschen, die sich an anderen Standpunkten befinden, kommuniziert werden können. Wer als Schwarzer in einem schwarzen Wohnbezirk lebt, sieht die Wirklichkeit anders als jemand, der nicht dort wohnt. Wie er die Wirklichkeit erlebt, kann nur jemand nachvollziehen, der die gleiche Hautfarbe hat und auch dort lebt. Das führt z.B. zur Auffassung, dass ein Roman, den jemand von diesem Standpunkt aus schreibt, nur von jemandem übersetzt werden kann, der diesen Standpunkt teilt. Die Person muss also schwarz sein und in einer ähnlichen Wohnumgebung leben.

Das klingt wie eine willkürliche und absurde Einschränkung, denn Menschen verfügen über die Fähigkeit, sich in die Situation von anderen Menschen hineinzuversetzen, sie können sogar den Standpunkt anderer übernehmen. Außerdem sind sie in der Lage, über alles zu kommunizieren, auch wenn sie nicht immer verstehen, was gemeint ist. Wird die Kommunikation in einer guten Atmosphäre weitergeführt, kann das, was nicht verstanden wurde, aufgeklärt und verständlich gemacht werden. Es scheint, als wollten die Vertreter der Standpunkttheorie mit der Theorie der unvollständigen Kommunizierbarkeit standpunktgemäßer Informationen die praktischen Implikationen, die sie daraus ziehen, untermauern. Denn sie behaupten, dass die nicht-kommunizierbaren Erkenntnisse dennoch zur Grundlage für politische Entscheidungen genommen werden müssen.

Wenn wir vier Grundbehauptungen der Standpunkttheorie näher betrachten, zeigen sich die Verkürzungen, auf denen sie beruhen:

1. Alle Mitglieder unterdrückter Gruppen haben wichtige Erfahrungen gemeinsam.

2. Aufgrund dieser Erfahrungen verfügen die Mitglieder solcher Gruppen über eine spezielle Einsicht in das Wesen ihrer Unterdrückung und darüber hinaus.

3. Die Gruppenmitglieder können ihre Erfahrungen an Außenstehende nicht vollständig mitteilen. 

4. Politische Forderungen, die aus diesen Erfahrungen resultieren, sollten von Außenstehenden unterstützt werden, auch wenn sie von ihnen nicht verstanden werden. (S. 185)

Diese vier Annahmen haben zwei Sachen gemeinsam: Sie erscheinen intuitiv richtig und sie halten einer genaueren Prüfung nicht stand. 

Ad 1.: An einem Beispiel: Feministische Autoren meinen, dass Frauen eine besondere Perspektive auf die Kindererziehung haben, weil sie seit Jahrtausenden damit betraut sind. Das stimmt natürlich, lässt sich aber nicht verallgemeinern.  Erstens haben nicht alle Frauen Erfahrungen mit der Kindererziehung gemacht, weil nicht alle Frauen Kinder bekommen haben. Zweitens machen auch Männer, die Alleinerzieher sind, entsprechende Erfahrungen wie Frauen. Und Frauen machen unterschiedliche Erfahrungen bei der Kindererziehung, je nachdem, welcher Kultur sie angehören, ob sie alleine sind, ob sie mehrere Kinder haben usw. Es gibt also eine Vielzahl von Erfahrungen, aber nicht so etwas wie einen Kernkanon an Erfahrungen, den alle Frauen teilen und an dem die Männer nichts verstehen können.

Es trifft auf alle Gruppen von Benachteiligten zu, dass sie nicht homogen sind und deshalb ein breites Spektrum an Erfahrungen beinhalten und nicht einen Kern, den alle teilen. Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiedlichkeiten, die beide berücksichtigt werden müssen, wenn diese Phänomene verstanden werden sollen. 

Ad 2.: Auch wenn eine Gruppe über Erfahrungen verfügt, die die Angehörigen anderer Gruppen nicht teilen, folgt daraus nicht zwingend, dass sie ihre eigenen Erfahrungen besser verstehen und einordnen können als Außenstehende. Die Unterdrücker wissen üblicherweise genau so gut wie die Unterdrückten, wie die Unterdrückung funktioniert, sonst würden sie sie nicht so perfide anwenden können. Dazu kommt, dass die Unterdrückten oft wenig Zugang zu Bildung und Bildungsinstitutionen haben, sodass die Zusammenhänge der Unterdrückung nur selten von den Unterdrückten aufgezeigt wurden, sondern meistens von Angehörigen der oberen Gesellschaftsschichten, wie z.B. Karl Marx und Friedrich Engels.

Ad 3.: Verständlich ist, dass jemand, der nie Opfer eines sexuellen Missbrauchs war, das Ausmaß des Leides ermessen kann, das die Betroffenen tragen müssen. Es ist aber nicht notwendig, die Gefühle und Belastungen im Detail zu kennen, um die Schrecklichkeit solcher Verbrechen zu verstehen und gegen jede Form des Missbrauchs aufzutreten. Es leuchtet jedem Menschen mit einem intakten moralischen Empfinden ein, dass Missbrauch eine schwere Verletzung der menschlichen Würde darstellt und unterbunden werden muss. Es ist also nicht die Eigenerfahrung als Opfer notwendig, um den Opfern beistehen zu können, sondern die einfache Übung der Empathie, zu der jeder Mensch Zugang hat oder haben sollte. 

Ad 4.: Hier entsteht aus der Kette der Schlussfolgerung ein Machtanspruch. Die Angehörigen von unterprivilegierten Minderheiten oder Opfergruppen reklamieren nicht nur für sich, dass sie niemand Außenstehender verstehen kann, sondern auch, dass die anderen ihre politischen Forderungen unterstützen müssen, auch und gerade weil sie sie eben nicht verstehen könnten. 

Allerdings wissen wir, dass niemand für eine Sache eintreten will, die nicht verstanden wird, noch weniger für eine Sache, die man angeblich gar nicht verstehen kann. Der Appell der Benachteiligten, dass die Bevorzugten für sie eintreten sollen, gerät durch die Zumutung, dass der Grund für das Eintreten wegen des fehlenden Standpunktes nicht verstanden werden kann, zur Willkür. Und Willkür erzeugt Misstrauen und Abwehr. Wer einer Opfergruppe angehört, hätte dann jedes Recht, jede Form der Widergutmachung, die ihm angemessen erscheint, einzufordern, ohne dass darüber ein Diskurs stattfinden kann, weil ja nur eine Seite das Unrecht und den Schaden ermessen kann.

Klarerweise stoßen an sich gerechtfertigte Forderungen auf wesentlich mehr Widerstand, wenn sie mit den Begründungen der Standorttheorie vorgetragen werden. Damit erweisen die Vertreter dieser Theorien ihren eigenen Anliegen einen Bärendienst. Statt dass berechtigte Forderungen geprüft und gebilligt werden, wird durch die Radikalität der Forderungen bewirkt, dass möglichst viele Menschen dagegen sind; dann stellt sich die Erfahrung ein, dass wieder fast alle gegen die Minderheit sind, und der Opferstatus sowie der postmoderne Pessimismus ist bestätigt und verschärft.

Angriffspunkt für Rechte und Rechtsextreme

Die Standpunkttheorie erweist sich damit als wirksamer Köder für die Aggressionen der Rechtsparteien und der rechtsextremen Gruppierungen, die nicht wollen, dass bestehende Privilegien und eigene Freiheitsrechte beschnitten werden. Auf diese Weise wird der Konflikt zwischen links und rechts von beiden Seiten befeuert, statt Wege der Verständigung zu finden. 

Die Standpunktepistemologie bietet also einen reduzierten erkenntnistheoretischen Rahmen und verbindet ihn mit politischen Machtansprüchen. Dieser Ansatz ist nicht nur kurzschlüssig, sondern auch selbstdestruktiv, weil er in einer offenen Gesellschaft fast automatisch Widerstand hervorruft. 

Dazu kommt, dass mit dem Ableiten von Handlungsanweisungen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen und mit der Übersetzung in ein politisches Wunschprogramm der Raum der Theorie verlassen wird. An diesem Punkt wir unversehens aus der Theorie eine Ideologie. Beispiel dafür ist der Marxismus, für den Karl Marx umfassende theoretische Studien betrieben hat und daraus die Forderung abgeleitet hat, dass die kapitalistische Gesellschaft revolutionär umgestürzt werden muss. Diese Forderung wurde von den Anhängern und Nachfolgern von Marx als unumstößliche Notwendigkeit angesehen und deshalb z.B. in Russland mit äußerster Brutalität durchgesetzt. Es ist ein tragisches Missverständnis zu glauben, dass das Niedermetzeln von „Klassenfeinden“ durch wissenschaftliche Erkenntnisse gedeckt wäre.

Wissenschaftliche Wahrheitsfindung und politische Entscheidungsfindung

Vielmehr muss klar sein, dass bei jeder Praxisfolgerung aus Theorien vom wissenschaftlich-theoretischen Parkett auf das politische gewechselt wird. Hier herrschen andere Gesetzmäßigkeiten und Wahrheiten. Denn für die Umsetzung von theoretisch analysierten Missständen gibt es immer verschiedene Wege, Maßnahmen und Methoden. 

Beispielsweise haben die Wissenschaften erkannt, dass die CO2-Emissionen der letzten zwei Jahrhunderte und vor allem der letzten Jahrzehnte den Klimawandel stark beeinflusst haben. Die politische Forderung, z.B. Kohlekraftwerke zu schließen oder CO2-Abgaben einzuführen, folgt nicht direkt aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern erfordert politische Entschlüsse durch die zuständigen Gremien. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollten als Entscheidungsgrundlagen verwendet werden, bieten aber keine direkten Anleitungen zur praktischen Umsetzung. Wird diese Grenze missachtet, verwandelt sich die Theorie in eine Ideologie. Sie kann zwar von vielen übernommen werden, wird aber meist viel zu schnell mit Wahrheitsansprüchen befrachtet, die nicht verifiziert und auch nicht falsifiziert werden können. Menschen mit wenig Bezug zu den Wissenschaften und zur Wissenschaftstheorie verwechseln oft Ideologien mit begründeten Wahrheiten und vertreten sie dann entsprechend vehement und kompromisslos. Ideologische Konflikte sind in der Regel fruchtlos und furchtbar, weil es keine objektiven Kriterien von Richtig und Falsch gibt. Es handelt sich um den Zusammenprall von Glaubensannahmen, die für die Beteiligten mit tiefen Überlebensprogrammen verknüpft sind und deshalb emotional schwer aufgeladen sind.

Die wissenschaftliche Wahrheitsfindung funktioniert nur innerhalb der Wissenschaften. In der politischen Praxis geht es um Prozesse der Willensbildung, die anderen Gesetzmäßigkeiten folgt. Die Regeln der Willensbildung und Entscheidungsfindung müssen in Demokratien zwischen den einzelnen Interessensgruppen ausgehandelt werden. Diese Zusammenhänge wurden zwar auch schon wissenschaftlich erforscht, aber die entsprechenden Forschungsergebnisse können wiederum nicht als Ersatz, sondern nur als Hilfsmittel für politische Entscheidungen dienen. Ideologien hingegen behindern jeden rationalen demokratischen Diskurs, weil sie von ungeklärten Emotionen angetrieben sind. Für Streit ist gesorgt, ohne Hoffnung auf Lösungen.

Quelle: Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität.  Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Stuttgart: Klett-Cotta 2024 – engl. Original: The Identity Trap 2023


Dienstag, 31. Dezember 2024

Identitätsideologie als Gefahr für die Demokratie

Inklusion, Antirassismus, Frauenrechte, Toleranz und Gleichbehandlung sind Leitinhalte für den Fortschritt in der Humanität, wie er spätestens seit der Aufklärung verstanden wird. Eine menschliche und menschenwürdige Gesellschaft muss möglichst vielen Menschen einen sicheren Raum für die Entfaltung ihrer Individualität bieten. Jede Person soll so leben können, wie sie will und wie es für sie gut ist, und soll dafür geachtet werden, solange nicht die Grenzen anderer Personen verletzt werden. So lautet das Credo der Liberalität und das soziale Programm der Moderne ist daraus abgeleitet. Eine moderne Gesellschaft schließt möglichst viele unterschiedliche Lebensformen mit ein und gewährt ihnen Rechte und Sicherheiten, während eine vormoderne Gesellschaft durch Vorurteile, willkürliche und gewaltsame Ausgrenzungen, durch strikte Über- und Unterordnung, Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten gekennzeichnet ist. 

Der Fortschritt in der Toleranz und in der Ermöglichung von Freiheit ist spätestens seit dem Ende des Mittelalters, ausgehend von West- und Mitteleuropa weltweit im Gang.  Es herrscht in vielen Ländern Glaubens- und Religionsfreiheit, Minderheiten genießen Schutz, verschiedene sexuelle Orientierungen werden geachtet usw. Es gibt Länder, die in dieser Entwicklung weit hinten nachhinken, und es sind immer wieder Bewegungen aufgetreten, die diese Entwicklung  bekämpfen und zurückschrauben wollen, z.B. die faschistischen Ideologien im 20. Jahrhundert oder das Modell der illiberalen Demokratie nach Viktor Orbán in Ungarn. Aber auf lange Sicht betrachtet, setzt sich die Freiheitsidee immer wieder gegen alle Widerstände durch. Wir können also mit einigem Recht behaupten, dass Hegels Optimismus in Bezug auf den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit Bestätigung in den Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte findet.

Eine aktuelle Verwerfung und Verzerrung dieser Bestrebungen hat der Politikwissenschaftler Yasha Mounk als Identitätssynthese gekennzeichnet und in seinem jüngsten Buch Im Zeitalter der Identität.  Der Aufstieg einer gefährlichen Idee beschrieben. Diese Strömung ist vor allem in den USA sehr wirksam und hat in den letzten Jahren weite Bereiche der den Demokraten nahestehenden linksintellektuellen Szene beeinflusst. Da viele kulturelle Entwicklungen mit Zeitverzögerung aus den USA nach Europa exportiert werden, lohnt es sich, dieses Phänomen näher zu betrachten. Es hat seine Hintergründe in verschiedenen Bereichen der sozialen Unterdrückung, vor allem durch Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Kolonialismus.

Postkoloniale Philosophie

Zu den Begründern dieser Ideologie zählen Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak. Sie sind postkoloniale Denker – Said mit palästinensischer und Spivak mit indischer Herkunft. Said erklärte in seinen Studien die Art und Weise, wie westliche Autoren den Orient beschrieben haben, als Formen der Machtausübung und der kolonialen Unterdrückung. Er rief zur Diskursanalyse nach Michel Foucault auf. Damit ist gemeint, dass die Hintergründe von jedem Wissens, das erworben und verbreitet wird, durch politische Macht, z.B. durch den Kolonialismus, beeinflusst sind. Die Verbreitung des Wissens stärkt dann die Macht. Wenn diese Hintergründe analysiert werden, gelingt es, sich dieser Macht zu entziehen und das machtgeprägte, z.B. koloniale Denken zu schwächen. 

Spivak beschäftigte sich in ihren Literatur- und Philosophiestudien mit den westlichen Klischeebildern von der Zurückgebliebenheit der östlichen Kulturen gegenüber dem Westen. Obwohl es kaum noch Kolonien gibt, wirke der Kolonialismus in den mentalen Konstrukten weiter. Die daraus gebildeten Identitäten, die darüber Auskunft geben sollen, was ein dunkelhäutiger, östlicher Mensch gegenüber einem weißhäutigen, westlichen wäre, sind nach wie vor maßgebend und führen zur Aufrechterhaltung der Unterdrückung. Die dominierten Gruppen sollten dagegen ein Gruppengefühl (Wir-Gefühl) finden, aus dem heraus sie ihre eigene (statt einer zugeschriebenen) Identität entwickeln können. Auf der Grundlage dieser Identitätspolitik entstehen politische Forderungen z.B. nach Anerkennung, Ausgleich der Unterdrückung, Änderungen in Bildungsprozessen usw. Ein Instrument dieser Politik stellt die „positive Diskriminierung“ (auch: affirmative action) dar, bei der die negative Benachteiligung durch eine gezielte Bevorzugung ersetzt werden soll. Die unterdrückte Minderheit soll also besondere Vorteile gewährt bekommen.

Strategischer Essentialismus

Spivak hat den Begriff des strategischen Essentialismus in die Debatte eingebracht, mit dem ein Widerspruch der Identitätspolitik überwunden werden soll. Viele Wesenszuschreibungen wurden und werden zur Diskriminierung verwendet, z.B. die Abwertung von Frauen als intellektuell weniger begabt als die Männer. Damit die Macht solcher von den Mächtigen zur Absicherung ihrer Macht vorgenommenen Zuschreibungen gebrochen werden kann, sollen sich die Unterlegenen ihrer Identität besinnen und sie in der eigenen Gruppe bestärken: Frauen schließen sich in feministischen Kreisen zusammen und stellen ihre selbstgebildete Identität der zugeschriebenen entgegen. Allerdings handelt es sich wiederum um eine Wesensbeschreibung: „Frauen sind intelligent“.  In der Realität gibt es unter den Frauen, wie auch unter den Männern, intelligentere und weniger intelligente. Es gibt also keine Essenz, kein Wesen der Männer und der Frauen, sondern nur Annahmen, Konstrukte darüber, wie Männer und wie Frauen sind. Jede Annahme führt zu verzerrten Wahrnehmungen und damit zu sozialen Konflikten. Deshalb müssen Wesensbegriffe einer Diskusanalyse unterzogen und aufgelöst werden. Andererseits gelingt die Emanzipation, also die Befreiung von Zuschreibungen, nur über die Ausbildung einer Identität, die aus strategischen Gründen, also zur Durchsetzung von politischen Forderungen gebildet werden muss. Die Erkenntnisse über die Mechanismen der Unterdrückung können dort am besten gewonnen werden, wo die Gruppe unter sich ist, also wo die Sichtweisen der Unterdrücker möglichst ausgeschlossen sind (vgl. die Standorttheorie, die im nächsten Blogartikel erläutert wird). Solange die Unterdrückung weiter besteht, bräuchte es solche sicheren Orte für die Wissensgewinnung und für die Ausformung von politischen Strategien.

Die Identitätssynthese 

Mounk versteht unter der Identitätssynthese ein Konglomerat aus Ideen und intellektuellen Traditionen: „Es kreist um die Rolle, die Kategorien der Identität wie ‚Rasse‘, Gender und sexuelle Orientierung in unserer heutigen Welt spielen.“ (Mounk S. 29) 

Mounk kennzeichnet die Identitätssynthese mit sieben Haltungen:

1. Skepsis gegenüber der objektiven Wahrheit 
2. Diskursanalyse ausschließlich für politische Ziele
3. Identitätskategorien dürfen essentialistisch sein, wenn das politischen Strategien hilft.
4. Pessimismus bezüglich der westlichen Gesellschaften 
5. Unterstützung von Institutionen, in denen die Behandlung entsprechend der Gruppe erfolgt
6. Intersektionale Form des politischen Aktionismus 
7. Skepsis zu Verständigung zwischen unterschiedlichen Identitätsgruppen (S. 95f)

Skepsis und Pessimismus

(ad 1 und 4): Mit dem Stichwort Postmoderne werden die philosophischen Schulen der Dekonstruktion bezeichnet:  Etablierte Konzepte werden auf ihre sozialen Prägehintergründe durchleuchtet, damit der Raum für neue Sichtweisen geschaffen wird. Ein Hauptvertreter dieser Richtung, der französische Philosoph Michel Foucault, lehnte jede Form von objektiver Erkenntnis ab. Der jeweilige Standpunkt, von dem die Erkenntnis ausgeht, ist von sozioökonomischen Faktoren geprägt, die immer nur zu einem Teil analysiert und reflektiert werden können.  Jeder Anspruch auf objektive Erkenntnis wäre wieder nur ein Machtanspruch. 

Im Zusammenhang mit dieser Skepsis gegenüber objektiven Wahrheiten ist das Denken von Foucault auch von einem Pessimismus bezüglich der westlichen Gesellschaften geprägt, in denen es nach seiner Meinung keinen Fortschritt in der Bewusstseinsentwicklung, im Moralverständnis oder in der Verbesserung von ungerechten sozialen Strukturen geben kann. Vielmehr gebe es nur die Illusion von Fortschritten, die sich bei näherer Betrachtung als Täuschung herausstellen. Die Illusion befördert dann wiederum das Festhalten an nicht erkannten Machtprivilegien.

(ad 5): Der Staat soll benachteiligte Gruppen besonders unterstützen. Wie oben beschrieben, wird die „positive Diskriminierung“ zur Aufhebung von Unterdrückung gefordert. Allerdings hat die Bevorzugung einer Gruppe in der Regel die Benachteiligung anderer Gruppen zur Folge, und damit ist der Nährboden für soziale Konflikte gelegt. Denn sobald eine Gruppe Vorrechte bekommt, melden sich die anderen und fordern die gleichen Rechte. So einleuchtend es erscheinen mag, dass Benachteiligte mehr Unterstützung brauchen als Besserstehende, so sorgfältig muss darauf geachtet werden, dass andere Diskriminierungen vermieden werden. 

Mit Intersektionalismus ist gemeint, dass sich verschiedene Formen der Unterdrückung gegenseitig verstärken, z.B. dass schwarze Frauen wegen ihres Geschlechts und wegen ihrer Hautfarbe benachteiligt werden. Deshalb sollten die Mitglieder von politischen Bewegungen umfassend gegen Diskriminierungen auftreten. Oft werden dann Anliegen mitvertreten, die nicht in den eigenen Bereich gehören, wie z.B. Greta Thunberg, die als Vertreterin der Klimabewegung Im Gazakrieg für die Palästinenser Stellung bezogen hat. Die Autorität, die in einer Thematik erworben wurde, wird in andere Bereiche übertragen, obwohl Sachkompetenz und politische Erfahrung fehlen. Die Anhängerschaft greift die Anliegen häufig mit ihrem Engagement auf, ohne die Sachverhalte näher zu prüfen.

(Ad 7): Die Plausibilität dieser These ruht hier auf der Tatsache, dass Betroffene besser Bescheid über ihre Situation haben als Außenstehende. Dennoch kann auch dieser Punkt zu Missverständnissen führen, die im nächsten Blogbeitrag näher beleuchtet werden. 

Die Dehnungen von klassischen liberalen Forderungen auf radikalere und extremere Sichtweisen, wie sie in der Ideologie der Identitätssynthese nach Mounk auftreten, können einerseits die Sensibilität vor allem bei den betroffenen Randgruppen oder Benachteiligten verstärken, wirken aber andererseits als Treibstoff für soziale und politische Konflikte. Es hilft beim Verstehen des Erstarkens der Rechtsparteien, die gegen alles „woke“ und Liberale polemisieren, dass die Ambivalenz und Radikalität der Identitätsideologie Ängste und Abwehrreaktionen auslösen – Wasser auf die Mühlen sowohl der Konservativen wie der Rechts- und Rechtsextremparteien. 

Damit wird es schwieriger, die berechtigten Anliegen der emanzipativen Bewegungen in der Demokratie durchsetzbar zu machen. Denn die Mehrheiten liegen in den meisten Fällen bei denen, die die Überlegenheitspositionen innehaben, und nur dann auf Einfluss und Macht verzichten wollen, wenn sie sich über den gesamtgesellschaftlichen Nutzen sicher sein können. Und dazu liefert die Ideologie der Identitätssynthese keine Unterstützung.  

Quelle: Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität.  Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Stuttgart: Klett-Cotta 2024 – engl. Original: The Identity Trap 2023

Zum Weiterlesen:
Die Standpunkttheorie und ihre Schwächen


Montag, 2. Dezember 2024

Was macht aggressive Politiker attraktiv?

In vielen demokratischen Ländern des globalen Nordens sind die rechten und rechtsextremen Parteien im Vormarsch. Was dabei auffällt ist, dass die Politiker dieser Parteien mit aggressiven Botschaften Wähler ansprechen und für sich gewinnen können. Um die Themen, die dabei angesprochen werden, nehmen sich auch andere Parteien an. Vor allem rechtskonservative Parteien fahren einen harten Kurs in der Migrationsfrage, verschärfen andauernd die Regelungen für Flüchtlinge und Asylsuchende, und doch verlieren sie ihre Wähler an die noch weiter rechts positionierten Parteien, die sich eine aggressive Rhetorik erlauben. Rechtskonservative haben ihre Wählerschaft auch in Bevölkerungsgruppen, die von Hassparolen abgeschreckt werden und müssen sich deshalb in ihrer Ausdrucksweise mäßigen. Der einzige Unterschied besteht also im Ausmaß der Aggression, das an die Öffentlichkeit gebracht wird. Es ist zwar zu beobachten, dass einzelne rechtskonservative Politiker in die Wortwahl der Rechtsextremen verfallen, doch werden sie dann meistens von ihrer Partei zurückgepfiffen. Die extremeren Politiker können dagegen hasserfüllte Wutreden halten, im Bewusstsein, dass sie ihren Anhängern aus dem Bauch reden, also deren Aggressionen in Worte fassen und in der Öffentlichkeit verbreiten. Wenn jemand anderer die eigene Wut, für die man sich vielleicht selbst schämt, ausdrückt (oder auskotzt), ist man entlastet und fühlt sich zugleich in der eigenen Aggressivität bestätigt und gerechtfertigt. 

In Wahlbefragungen geben z.B. Wähler der FPÖ an, dass sie allein dieser Partei zutrauen, die Missstände, die es gibt oder die sie erleben, abzustellen und bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Es handelt sich dabei offensichtlich um ein Bauchgefühl, weil die Lösungen, die die österreichische Rechtspartei anbieten kann, entweder nicht durchführbar sind (weil sie der Verfassung oder EU-Regeln widersprechen) oder von anderen Parteien genauso oder ähnlich vertreten werden, und weil in den Bundesländern und Gemeinden, wo die Blauen mitregieren, die Zustände auch nicht besser sind. Aber die aggressive Wortwahl der Rechtspartei vermittelt offenbar vielen Wählern die Zuversicht, dass „endlich etwas geschieht“: Da packt wer zu und zieht die Sache durch. Wer auf den Tisch hauen kann, wird auch alles, was einen stört, abstellen. Die eigene mangelhafte Tatkraft und das eigene Ohnmachtsgefühl werden an die starken Männer da oben übertragen, die es dann mit ihrer Durchschlagskraft richten sollen. 

Aggressionen machen Angst, sie versprechen aber auch Abhilfe gegen die Angst. Ohne Zugang zum Gefühl der Wut sind wir ohnmächtig und schwach. Wut ist allerdings niemals konstruktiv. Mit zu viel Aktivierung wird sie immer gewalttätiger und neigt schließlich zur Zerstörung. 

Allzu viele weiße US-Männer wählen keine Frau, und schon gar nicht eine Farbige. Denn sie haben Angst um die Privilegien aus ihrer Männlichkeit und ihrer rassischen Überlegenheit. Nur ein weißer Mann an der Macht kann ihre Ängste beruhigen und ihre Vormachtstellung absichern. Die toxische Mischung aus Patriarchalismus, Autoritätshörigkeit und Aggression habe ich schon an anderer Stelle besprochen.

Die Wut auf „das System“

Die Aggression der rechten Demagogen richtet sich immer wieder gegen abstrakte und anonyme Gestalten wie „das System“. Dieses wird so mächtig und so böse dargestellt, dass es nur einen sinnvollen Weg geben kann, eben dieses System zu zerstören. Und das geht nach der Logik der Revolutionen nur mit Gewalt. Verschwörungsmythen werden genutzt, um diese geheimnisvolle Bedrohung noch mehr aufzublasen.

Alle Rechtsparteien, die an die Macht gekommen sind, haben allerdings „das System“ nie zerstört, sondern im Gegenteil dazu ausgenutzt, um die eigenen Taschen zu füllen. Das Orban-System in Ungarn, das Vorbild für viele Rechtsextreme bis in die USA, ist von systematischer Korruption gekennzeichnet. In Österreich war die FPÖ in diesem Jahrhundert zweimal in der Regierung; die zahlreichen Korruptionsprozesse aus diesen Zeiten (2000 – 2013 und 2017-2019) beschäftigen bis heute die Gerichte.

Aggression als Reaktion auf Komplexität

Schon Alexander der Große hat den komplexen gordischen Knoten nicht durch besonnenes Erforschen und Experimentieren ausgelöst, sondern mit einem Gewaltakt durchschlagen. Die „Männer der Tat“ sind es, die vielen Wählern Hoffnung geben, die sich durch die steigende Komplexität der Welt und der Gesellschaft überfordert fühlen. Donald Trump hat in der Zeit seiner ersten Präsidentschaft kaum Erfolge nachzuweisen, sowohl was die Einwanderung in die USA als auch was die Wirtschaft und den Lebensstandard anbetrifft, und er hat weltpolitisch sehr viel Unsicherheit erzeugt und damit viele Konflikte angeheizt. Aber sein großspuriges und wutdurchtränktes Reden erweckt bei vielen den Eindruck, dass hier jemand bereit ist, die Dinge mit Tatkraft anzugehen, ohne Rücksicht auf Konventionen und Widerstände, ohne sich um die Details zu kümmern, ja sogar, ohne sich um die Wahrheit oder die Gesetze zu scheren. Es ist nicht wichtig, ob die Vorschläge, der er vorgebracht hat, sinnvoll oder zielführend sind; es geht um den emotionalen Eindruck von einem Menschen, der keine Scham kennt und deshalb zu jeder Tat und Schandtat bereit ist. 

Wenn das eigene Leben unüberschaubar oder unkontrollierbar erlebt wird, wenn man sich selber nicht mehr hinaussieht, weil es keine einfachen Lösungen gibt, kommt jemand gerade recht, der selbstbewusst auftritt und seine Vereinfachungen und Falschinformationen lauthals und immer wieder in die aggressionsgeile Medienwelt hinaus posauniert. Je öfter und je eindringlicher etwas gesagt wird, desto wahrer und hilfreicher erscheint es, vor allem, wenn eine innere Deutungsnot besteht. Der Demagoge wird zum Heilsbringer, zum Retter vor allem Übel. Viele Trumpwähler sagen, dass sie zwar die Wortwahl ihres Idols nicht schätzen, aber dennoch meinen, er wäre als einziger in der Lage, für ein besseres Leben zu sorgen. Diese Einschätzung stammt weder aus der Rationalität noch aus einem Wirklichkeitsbezug, weil sie auf einer emotionalen Ebene getroffen wird. Eine rationale Bewertung der Lösungskompetenz und emotionalen Stabilität des Kandidaten müsste zu dem Schluss führen, dass gerade diese Person aufgrund von massiven Persönlichkeitsdefiziten im hohen Maß ungeeignet ist, die Position des mächtigsten Mannes der Welt einzunehmen. Doch treffen Menschen im Allgemeinen keine rationalen Entscheidungen, auch und gerade nicht, wenn sie ihre Stimme bei einer Wahl abgeben. Entscheidungen werden unbewusst in den emotionalen Zentren unseres Gehirns getroffen. Die Rationalität mischt sich nachher ein, indem sie Gründe für die Entscheidung liefert. 

Die Verbreitung der Gewaltsprache

Viele Wähler wählen ja die Rechtsparteien nicht, weil sie so aggressiv auftreten. Es scheint sich die Bevölkerung in den demokratischen hochentwickelten Ländern in zwei Lager abzuspalten: Die einen, denen die Aggressivität in der Politik Angst macht und die sich dafür schämen, und die anderen, die in ihr den einzigen Weg in die Zukunft sehen. Wer auf diese Form der Aggressivität anspricht, verspricht sich von Gewaltlösungen mehr als von abgewogenen und auf unterschiedliche Situationen abgestimmte Maßnahmen. 

Während in den früheren Jahren der Nachkriegszeit die aggressiven Töne in der Politik verpönt waren – allen hallten die menschenverachtenden Propagandareden der Nationalsozialisten in den Ohren nach –, begann sich die Szene in den letzten vierzig Jahren langsam zu verschieben. Immer mehr Gewaltsprache schleicht sich in die politische Debatte ein, und die Leute gewöhnen sich dran. Sie wird Teil des Wortschatzes und zunehmend als normal empfunden. Auf diese Weise werden immer mehr rhetorische Keulen eingeführt und angewendet, und es entsteht eine unheilvolle Dynamik der Aufladung mit immer schärferen Waffen. Irgendwann ist der Schritt zur manifesten Gewalt nicht mehr weit, wie beim Sturm des aufgehetzten rechtsradikalen Mobs auf das Kapitol am 6.1.2021.

Einen wichtigen Beitrag zu der Gewaltaufladung stellt die Verrohung durch die sozialen Medien in den letzten zwanzig Jahren dar. Mit Verrohung ist einerseits ein höherer Grad an Aggression gemeint und andererseits ein höherer Grad an Vereinfachung. Vereinfachte Aggression ist der direkte Weg zur Gewalt. Feindbilder, die die Gewaltbereitschaft steigern, beruhen immer auf vereinfachenden Verallgemeinerungen. Solche plumpen Konstrukte werden von den Demagogen erzeugt und durch die sogenannten sozialen Medien vervielfältigt. 

Von einer ausgleichenden zu einer machtbesessenen Politik

Damit verschiebt sich das öffentliche Gewicht immer mehr vom Überwiegen einer ausgleichenden Erwartung an die Politik zu der Einstellung, dass Politik in Konfrontation und aggressiven Durchsetzung von Machtinteressen besteht. Offenbar wollen immer mehr Menschen, dass nur ihre eigenen Interessen von der Politik befördert werden und verlieren die Sicht auf das Ganze einer Gesellschaft, die nur zusammenhalten kann, wenn möglichst viele Interessen berücksichtigt werden.

Diese Verschiebung bedeutet auch, dass die Rechtsparteien  die anderen Parteien längerfristig dazu zwingen, den gleichen Ton anzuschlagen, mit gleicher Münze zu bezahlen, sobald sie an der Macht sind. Sie zahlen scheinbar nur drauf, wenn sie eine ausgleichende, möglichst viele Teile der Bevölkerung erreichende, also auf eine demokratische Politik verfolgen. Denn viele Wähler und Wählerinnen honorieren nicht das, was ihnen eine ausgewogene Politik gebracht hat, sondern schauen auf das, was ihnen noch immer fehlt oder noch immer zu wenig an materieller Zuwendung oder emotionaler Sicherheit ist. 

Diese Entwicklung, die die Demokratie immer mehr aushöhlt, kann nur umgedreht werden, indem immer mehr Menschen die Gefühlsdynamiken hinter ihrem Wahlverhalten reflektieren und sich nicht mehr von aggressiven Parolen beeindrucken lassen. Zur staatsbürgerlichen Reife gehört auch, dass die Vernunft eine wichtige Rolle bei der Wahlentscheidung spielen muss: Die rationale Einschätzung der politischen Ideen der einzelnen Parteien in Hinblick auf die eigene Lebenssituation, aber auch auf die ganze Gesellschaft, deren Teil jede*r ist.

Zum Weiterlesen:
Gendern und die Wunden des Patriarchats
Fossile Propaganda und Klimazerstörung
Petromaskulinität

Mittwoch, 27. November 2024

Über den Umgang mit Störungen

Denn eine Störung seiner Freuden 
sucht jeder möglichst zu vermeiden. (Wilhelm Busch)

Schnell kann uns etwas stören in den Abläufen, in denen wir uns befinden. Etwas entspricht nicht unseren Erwartungen, und wir fühlen uns gestört. Wir wollen spazieren gehen, es regnet plötzlich, und der Regen stört uns. Wir sitzen im Zug und freuen uns, dass der Platz daneben frei ist. Dann setzt sich jemand neben uns, der uns unsympathisch ist. Wir führen am Telefon ein Privatgespräch, und der Chef schaut bei der Tür herein. Wir fühlen uns gestört.  

Die Reaktionsmöglichkeiten auf Störungen können in zwei Paradigmen beschrieben werden. Paradigma 1: Störungen geschehen in der Welt um uns herum und wir können nichts dagegen machen, wir haben den Eindruck, ihnen ausgeliefert zu sein. Äußere Einflüsse greifen in unser Leben ein und bringen es durcheinander. Wir können das Wetter nicht ändern, wir können nicht verhindern, dass sich im Zug jemand neben uns setzt, der uns unsympathisch ist. Wir können nicht verhindern, dass der Chef aufkreuzt. Mit diesem Paradigma treten wir die Verantwortung an die Außenwelt ab. Deshalb fühlen wir uns hilflos. 

Das Paradigma 2 geht von folgender Annahme aus: Störungen tauchen nur in uns selbst auf. In der Außenwelt gibt es Abläufe und Geschehnisse. Zu Störungen werden Ereignisse erst, wenn wir sie bewerten und als störend einstufen. Das passiert dann, wenn wir sie mit unseren Erwartungen vergleichen. Fällt der Vergleich negativ aus, werden also unsere Erwartungen nicht erfüllt, sprechen wir von einer Störung. Eine Störung ist nur eine frustrierte Erwartung und hat nichts mit der Außenwelt zu tun, außer dass sie den Auslöser dafür liefert. Denn die Erwartung haben wir selber erzeugt, unter der Annahme, dass sie auch eintreten wird, was wir aber nie mit Sicherheit wissen können. Mit dieser Sichtweise bleibt die Verantwortung bei uns selbst. Das bedeutet auch, dass wir die Auswirkungen der Störung nur in uns selbst verändern und beruhigen können. 

Gewohnheitsmäßig tendieren wir zum ersten Paradigma. Die Ursache für die Störung liegt außerhalb von uns. Selbst wenn es sich um eine körperliche Störung handelt, empfinden wir unseren Körper in solchen Momenten wie einen Außeneinfluss. Außerdem kommt diese Sichtweise, die allgemein vorherrscht, unseren Überlebensstrategien entgegen. Wir haben dieses Vorgehen früh erlernt, auch an den Vorbildern der Eltern und anderer Erziehungspersonen. Da es von den meisten Menschen benutzt wird, wird es auch kaum in Frage gestellt. Deshalb ist nicht verwunderlich, dass unsere erste und unmittelbare Reaktion auf eine Störung im Ablauf unseres Lebens die Suche nach einer Ursache im Außen ist. Die Ursache setzen wir mit Schuld und Verantwortung gleich. Sobald wir wissen, wer die Störung angezettelt hat, wer also ihr Urheber ist, wissen wir, wer aus unserer Sicht schuld ist. Wir wissen, an wem wir unsere Enttäuschung und unseren Zorn abladen können. Damit fühlen wir uns aus dem Schneider. Der Zorn führt uns aus der Hilflosigkeit heraus.  

Allerdings ist die Wut immer ein zweischneidiges Schwert. Durch sie entladen wir die angestaute Frustenergie, bleiben aber im Groll auf die Täterperson, die die Störung verursacht hat, in der Opferrolle. Die Wut führt uns nicht aus der Kränkung heraus, sondern bestärkt uns im Ressentiment gegenüber unseren Mitmenschen oder gegen andere Faktoren, die nicht unserer Kontrolle unterliegen. 

Das Paradigma der Außenverursachung folgt einem mechanistischen Modell: Ein Außenreiz drückt auf einen Knopf (Triggerpunkt) und sogleich entsteht das innere Gefühl der Frustration und des Ärgers. Es wird ein Automatismus ausgelöst. Diese Sichtweise stimmt insofern, als wir keinen willentlichen Einfluss auf unsere unmittelbaren Reaktionen auf Au0enereignisse haben. Die Stresshormone werden so schnell ausgeschüttet, dass wir mit unserer Bewusstheit nicht eingreifen können. Das Modell ist aber andererseits irreführend, weil wir unsere Reaktion verändern können, sobald sie uns bewusst wird und wir sie nicht für selbstverständlich nehmen, sondern für eine Eigenproduktion, deren Produktionsbedingungen wir auch ändern können. 

Unsere Erwartungen stecken hinter dem, was wir als Störung erleben

Damit sind wir beim zweiten Paradigma, das aus unserer Bewusstheit entwächst. Wir gelangen zu dem Verständnis, dass es nur unsere selbstgebastelten Erwartungen sind, die unsere Enttäuschungen bewirken und dazu führen, dass wir uns gestört fühlen. Mit dieser Einsicht legt sich schnell der Frust und wir entspannen uns wieder. Sobald wir diese Einstellung zur Gewohnheitsreaktion werden lassen, verschwindet der Begriff Störung aus unserem Repertoire: Es gibt nur Ereignisse, die uns dazu bewegen, unsere Erwartungen zu verändern.  Auf diese Weise gewinnen wir mehr Gelassenheit in unserem Leben.  

Übungen in der Innenversenkung und Gefühlsbeobachtung, die wir regelmäßig praktizieren, sind eine Hilfe zur Entmachtung der Reaktionen auf Störungen. Auch wenn wir eine Meditation machen, tauchen Störungen auf – Außengeräusche oder Gedankenschleifen. Da die Übung darin besteht, die Aufmerksamkeit von der Störung auf das Innere, z.B. auf das Fließen des Atems zurückzulenken, lernen wir, bei uns selbst zu bleiben und jede Störung zu verabschieden. 

Hier ein Zitat von Edgar Allan Poe: "Den Grad der Versunkenheit eines Meditierenden können wir ermessen an der Art, wie er auf eine Störung reagiert. Je tiefer sein Erschrecken, desto seichter sein Nachdenken und umgekehrt."

Noch ein Zitat, diesmal von Albert Einstein:
„Wer glaubt, dass andere schuld sind an der eigenen Unzufriedenheit, der glaubt auch, dass Bleistifte Rechtschreibfehler machen.“
 

Zum Weiterlesen:

Störungen zerstören Illusionen
Störungen in der Meditation
Erwartungen und Enttäuschungen

Montag, 18. November 2024

Pränatale Wurzeln der Fremdenangst

Warum haben viele Menschen Angst vor dem Fremden? Bei Kleinkindern ist das Fremdeln eine übliche Phase, die sich dann wieder legt. Aber unter Erwachsenen ist dieses Phänomen weit verbreitet und bildet bei vielen ein Hauptmotiv bei der Wahlentscheidung in den wohlhabenden Ländern des Westens: Welche Partei schützt mich am besten vor dem (den) Fremden? Angstreaktionen, sobald etwas Fremdes auftaucht oder sobald von Fremdem die Rede ist, melden sich mit der impliziten Botschaft, dass effektive Schutzmechanismen ergriffen werden müssen. Die Gefahren sind oftmals nicht real, aber das Unbewusste suggeriert eine wirkliche Bedrohung und löst die Stressachse aus. Da sich Bürger in den demokratischen Systemen alleine hilflos und ohnmächtig fühlen, suchen sie sich Machtträger, die ihnen Schutz vor den eingebildeten Bedrohungen anbieten und die dafür notwendigen Narrative propagieren, mit denen die Bedrohtheitsgefühle verstärkt werden. Damit wollen sie ihre Macht stärken, eine Schlagseite vor allem bei rechten und rechtsextremen Politiker.  

Hier möchte ich den Blick auf die Pränatalzeit richten. In dieser Phase unseres Lebens finden wichtige Prägungen im Emotionalgedächtnis statt, die sich im späteren Leben aus dem Unbewussten heraus ins Alltagsleben und –erleben einmischen. Aus dieser Perspektive stoßen wir auf den Hinweis, dass das Fremde Angst macht, wenn die Einnistung schwierig war. Die Nidation findet zwischen dem 6. und 10. Tag nach der Empfängnis statt. Die Blastozyste fällt vom Ende des Eileiters, in dem die Befruchtung stattgefunden hat, in die Gebärmutter und sucht dort einen Platz, an dem sie sich in die Uterusschleimhaut einwachsen kann. Es ist ein neuer, fremder Ort, in dem jetzt eine Heimstatt gefunden werden muss, an dem die weitere Reifung bis zur Geburt erfolgen kann. Wenn nun der mütterliche Organismus dem Embryo mit ambivalenten Gefühlen begegnet oder ihn ablehnt, wird dieses Fremde als feindlich und unnahbar erlebt. Das werdende Menschenwesen muss selber schauen, wie es Fuß fassen und sich einwurzeln kann, um überleben zu können. Das Fremde ist das Bedrohliche, mit dem ums Überleben gekämpft werden muss, statt mit ihm zu kooperieren. Dieser Eindruck verfestigt sich im Inneren und wirkt später weiter. Die Angst und Unsicherheit bei der Einnistung wird zusätzlich bestärkt, wenn ein Kind schon bei der Empfängnis spüren musste, dass es nicht willkommen ist. 

Solche Schwierigkeiten können auch der Grund für einen Frühabgang sein, wenn der Embryo zu schwach ist, sich gegen den Widerstand einen Einnistungsplatz in der Gebärmutter zu schaffen. Ohne das Andocken an der Gebärmutterwand ist der Embryo nicht lange lebensfähig. Gelingt jedoch das Verbinden von Plazenta und Gebärmutter, dann hat das Leben eine Chance, weiterzuwachsen, auch wenn es vielleicht durch einen holprigen Beginn überschatten sein kann. 

Auf diese Verunsicherung gibt es zwei Reaktionsmöglichkeiten, die sich in unterschiedlichen Haltungen ausprägen. Zum einen gibt es Menschen, die sich nirgendwo zuhause fühlen und oft übersiedeln, weil sie sich nirgendwo sicher und vertraut fühlen. Sie können nirgends dauerhafte Wurzeln schlagen. Zum anderen verwurzeln sich Menschen besonders tief an einem Platz und wollen von dort um keinen Preis wieder weg. Dieser Platz muss auch vor allem Fremden geschützt sein, damit die einmal gewonnene Sicherheit nicht mehr verloren geht.

Das Fremde und das Lernen  

Lernen besteht darin, Fremdes aufzunehmen und zum Eigenen zu machen. Wenn wir z.B. eine Fremdsprache lernen, müssen wir uns mit deren Fremdheit anfreunden. Wir müssen zulassen, dass sie sich in unserem Inneren Platz nimmt und sich ausbreitet. Auf diese Weise verwandeln wir Fremdes in Eigenes.

Lernhemmungen entstehen dort, wo das Fremde, das gelernt werden soll, abgelehnt wird, weil alles Fremde als feindlich erlebt wird – die Wiederspiegelung eines Einnistungstraumas. Die Neugier wird in diesem Fall von der Angst unterbunden. Neues wird mit Misstrauen beäugt. Beim Lernen kann es sein, dass sich der von der Angst geleitete Widerstand unbewusst so auswirkt, dass das Fremde nicht behalten werden kann und immer wieder vergessen wird.

Die Fremdenfeindlichkeit

Auch das Phänomen der Fremdenfeindlichkeit, das in der Politik eine wichtige Rolle spielt, können wir als Ausdruck dieser Früherfahrung verstehen. Eine Gebärmutter, in deren Wand die Einnistung stattfinden muss, damit das Überleben gewährleistet ist, und die als ablehnend und abweisend erlebt wird, führt zu dem Eindruck, dass dem Fremden grundsätzlich nicht vertraut werden kann. Es gibt keine Basis für einen Vertrauensvorschuss, der notwendig wäre, um das Fremde näher kennenzulernen. Das Vertrauen kann nur in sich selber aufgebaut werden, und das Fremde muss draußen bleiben. Es bedroht die innere Sicherheit. Deshalb kann man sich nur möglichst lückenlos davon abschotten. 

Das Fremde wird also nicht als Feld des Lernens und der Erweiterung des Horizonts genutzt, vielmehr wird es als Gefahrenquelle gesehen. Daraus entsteht die Überzeugung, dass das eigene Überleben nur dann gesichert werden kann, wenn dem Fremden misstraut wird. Für die eigene Existenzsicherung muss man aus eigenen Kräften sorgen. 

Schon während der Schwangerschaft hat diese Überzeugung zu Dauerstress geführt, der oft noch weit darüber hinaus gewirkt hat. Jede neue Begegnung mit etwas Fremdem kann dann die alte Angst und Stressreaktion auslösen. 

Mit diesem Verständnis der Fremdenangst wird auch klar, warum Fremdenfeindlichkeit dort am größten ist, wo am wenigsten Fremde leben, ähnlich wie der Antisemitismus dort am stärksten verbreitet ist, wo am wenigsten Juden leben. Der Kontakt mit dem Fremden verändert notgedrungen die Perspektive und ermöglicht neue Einsichten. Das ist wie bei jeder Angst: Wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen, ihr ins Auge schauen, wird sie kleiner; wenn wir uns vor ihr verstecken oder von ihr abtrennen, wenn wir sie also aussperren, wird sie mächtiger.

Zum Weiterlesen:
Die Höhenangst und ihre pränatalen Wurzeln
Das volle Boot und die Angst vor Überflutung

  


Montag, 11. November 2024

Über das Nichtbewerten und die Notwendigkeit des Bewertens

Nicht zu beurteilen ist eine hohe Tugend im zwischenmenschlichen Umgang. Wir sollten uns von Urteilen über andere fernhalten, weil wir uns mit jedem Urteil eine übergeordnete Position gegenüber der beurteilten Person anmaßen. Wir setzen uns auf einen Richterstuhl ein und fällen von dort aus das Urteil. Die beurteilte Person befindet sich damit automatisch in einer unterlegenen und beschämenden Position, selbst wenn das Urteil positiv ist. Denn das Urteil liegt im Ermessen der beurteilenden Person, die nach ihrem Gutdünken den anderen ihren Wert zu- oder abspricht. Es besteht ein Machtgefälle zwischen dem, der beurteilt, und dem, der beurteilt wird. Machtunterschiede enthalten immer die Elemente von Stolz auf der Seite der mächtigen Person und Scham auf der Seite der untergeordneten Person.

Gilt diese Tugend der Beurteilungsfreiheit für alle Fälle, unter allen Umständen, oder gibt es Bereiche, in denen es das Urteilen braucht, um Schaden abzuwenden oder bessere Lösungen zu erreichen? Werden wir unseren Werten gegenüber untreu, wenn wir eine Haltung oder Aussage, die unseren Werten widerspricht, nicht beurteilen? 

Grundsätzlich gilt: Menschen sind wichtiger als Werte. Werte entstehen aus eingeschränkten Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Was ist aber mit Werten, die das Absolute widerspiegeln, wie z.B. der Wert, der Menschen vor Werte reiht? Auch dieser Wert ist nicht absolut, denn jeder Aspekt des menschlichen Lebens ist relativ. Zwar schulden wir Menschen einander den unbedingten Respekt und die uneingeschränkte Wertschätzung, schaffen sie aber immer nur auf bedingte und eingeschränkte Weise. Es ist und bleibt also ein Ideal, das wir anstreben, aber nur in besonderen Momenten annähernd verwirklichen können. 

Deshalb ist auch die bewertungsfreie Einstellung zu unseren Mitmenschen nur ansatzweise erreichbar, und wir sind in diesem Bemühen immer wieder fehleranfällig. Unser Unterbewusstsein unterläuft unser Bestreben beständig, weil es kontinuierlich Bewertungen produziert, die wir erst nachträglich, wenn sie uns bewusst werden, zurücknehmen können. Wir kommen nie mit dem Bewusstmachen nach. Die Bewertungen sind schon längst in unsere Bewertungskategorien eingeflossen, bevor wir sie überhaupt bemerken. 

Bewertung in der Kommunikation

Was wir in Hinblick auf die Bewertungsfrage kultivieren können und sollten, ist unsere Kommunikation. Wir sollten danach streben, sie möglichst frei von Bewertungen zu halten, um keine Ängste und Schamgefühle bei den Kommunikationspartnern auszulösen. Selbst wenn also unser Unterbewusstsein beständig Bewertungen aufstellt, sollten wir unsere Mitmenschen davor bewahren, indem wir die Bewertungen nicht äußern, sondern innerlich loslassen.

Weiters können wir in unserem Inneren mehr und mehr bewertungsfreie Räume schaffen. Das ist die Arbeit des Bewusstmachens. Wir erkennen, dass wir die Person A bewerten und können uns damit beschäftigen, woher diese Bewertung kommt, wie sehr sie mit der Realität übereinstimmt und was sie übersieht. Wir können erkennen, dass wir in uns Anteile haben, die dem, was wir an der anderen Person bewerten, ähnlich sind.  Auf diese Weise relativieren sich unsere Bewertungen und treten in den Hintergrund vor der größeren und wichtigeren Realität, die in der anderen Person enthalten ist. Wir öffnen uns für die Ganzheit des anderen Menschen, in der sein unschätzbarer Wert enthalten ist. 

Meditation ist eine gute Gelegenheit für die Pflege von bewertungsfreien Innenräumen. Gedanken, die aufsteigen, enthalten häufig Bewertungen, und wir können beim stillen Beobachten dieser Gedanken die Bewertungen erkennen und verabschieden.

Grenzen der Bewertungsfreiheit

Wir stoßen auf Grenzen der Bewertungsfreiheit, wenn wir im Kontakt mit Menschen sind, die konträre Werte vertreten. Wie gehen wir mit jemanden um, der rechtsextreme Positionen vertritt, oder mit jemanden, der den Klimawandel leugnet? Wie gehen wir mit Menschen um, die seltsamen Verschwörungstheorien anhängen und uns dann noch dazu davon überzeugen wollen?

Wir sollten die Welt verbessern, wo sie im Argen liegt. Dazu gehört, dass wir Menschen darauf aufmerksam machen sollten, wenn sie den Pfad der Menschlichkeit verlassen haben. Wir sollten die Fahne der Humanität  unerschrocken hoch halten. Dazu müssen wir diese Werte vertreten und Werte, die wir für schädlich halten, kritisieren. 

Natürlich sollte es nicht darum gehen, die Menschen abzuurteilen, die die anderen Werte vertreten. Wichtig ist es aber, klar Stellung für „bessere“ Werte zu beziehen. Die Güte von Werten bemisst sich daran, wie nahe sie sich an der Menschlichkeit verbinden, also an den Notwendigkeiten, die ein respektsvolles und angstfreies Zusammenleben der Menschen möglich machen. Diese Nähe muss im Einzelfall überprüft werden, weil wir uns in dieser Hinsicht auch irren können. Im Diskurs, der möglichst gewaltfrei ablaufen sollte, kann sich herausstellen, welchen Werten der Vorzug gegeben werden muss, um an der Entwicklung Welt mitzuwirken, die für alle besser ist. Und diese Werte müssen von möglichst vielen Menschen kompromisslos vertreten und in Handlungen umgesetzt werden, damit sie in den allgemeinen  Bewusstseinsraum Eingang finden und dort Resonanzen erzeugen. Gute Werte, die also der Menschlichkeit dienen, üben eine Anziehungskraft auf alle Menschen aus, soweit sie nicht von ihren Überlebensimpulsen gesteuert sind.

Zum Weiterlesen:
Bewerten und Beziehungsstörung
Das Bewerten der Bewerter
Bewertungsfreiheit als Geschenk
Bewerten im bewertungsfreien Bereich


Samstag, 26. Oktober 2024

Erwartungen und Enttäuschungen

Wir sind enttäuscht, wenn ein Ereignis, das wir erwarten, entweder überhaupt nicht eintritt oder abweichend von unserer Erwartung abläuft. Das Bedürfnis, dessen Erfüllung die Erwartung versprochen hat, bleibt unbefriedigt. Darin besteht das Leiden der Enttäuschung. Auf der neurobiologischen Ebene spielt sich folgendes ab: Jede freudvolle Erwartung löst einen Dopaminschub aus, der als lustvolle Spannung erlebt wird, oft verbunden mit erhebenden Gefühlen und gesteigerter Aktivität. Sobald sichtbar wird, dass die Befriedigung des Bedürfnisses nicht eintritt, fällt der Dopaminspiegel jäh ab. Der erhoffte Belohnungsreiz bleibt aus, und der Entzug an Dopamin wird als sehr lästig und unangenehm erlebt. Die freudige Anspannung bricht ab. Stattdessen machen sich unangenehme Gefühle der Frustration breit. Im Hintergrund baut sich Stress auf. Der positiv erlebte Stress in der Erwartungsspannung verwandelt sich in eine negative, von Frustration und Ärger geprägte Stimmung der Enttäuschung.

Wer ist schuld?

In den Phasen der Enttäuschung entsteht meist die Frage nach der Ursache: Wer ist schuld am Ausbleiben der Belohnung? Denn wir meinen, wenn wir die Ursache kennen, k wir die Enttäuschung in der Zukunft verhindern. Bei der Ursachenfrage gibt es zwei Richtung: Nach außen oder nach innen. Es gibt Menschen, die eher dazu neigen, irgendetwas oder irgendjemand anderen verantwortlich zu machen. Sie entwickeln in sich Gefühle von Ärger und Wut gegen diese Instanz. Jene, die die Verantwortung eher bei sich selbst suchen, reagieren mit Traurigkeit und Scham bis hin zu Depressionen. Die ersteren entlasten sich von der Verantwortung und schieben sie ihren Mitmenschen zu, die zweiteren laden sie sich selbst auf und tragen schwer daran.

Es gibt Enttäuschungen, für die niemand eine Verantwortung trägt, wie z.B. solche, bei denen die Erwartungen an die Natur gerichtet sind: Wir unternehmen eine Reise an einen Badesee und die geplante Ferienwoche wird total verregnet. Wir pflanzen Gemüse an und die Schnecken fressen es. Andere Enttäuschungen befinden sich ganz im eigenen Rayon – solche, die mit Fehlern zu tun haben, die uns unterlaufen sind: Wir werfen die Wohnungstür hinter uns zu und merken erst dann, dass der Schlüssel drinnen geblieben ist.

Wenn die Erwartung auf eine Person gerichtet ist und sie sich nicht entsprechend verhält, erscheint es klar, dass sie uns damit Leid bereitet hat. Wir freuen uns auf den Besuch des Freundes, und er sagt kurzfristig ab, mit einer Begründung, die uns fadenscheinig vorkommt. Der Freund ist schuld, dass es uns jetzt schlecht geht. Wir haben irgendjemanden, der unseren misslichen Zustand verursacht hat. Er ist verantwortlich für das Leid geben können, das uns die Enttäuschung bereitet.

Wir übersehen dabei allerdings, dass wir uns selbst das Leid zufügen, weil wir an unserer Erwartung festhalten, statt dass wir uns mit der geänderten Realität arrangieren. Jede Störung, mit denen uns die Wirklichkeit in Form von eigenen Fehlleistungen, Verfehlungen anderer Menschen oder Unvorhersehbarkeiten äußerer Umstände herausfordert, ist eine Übung im Akzeptieren. Die Abläufe sind, wie sie sind; unsere inneren Bewertungen machen aus ihnen passende oder unpassende, willkommene oder störende Ereignisse. Wenn wir akzeptieren, was ist, kommen wir in Frieden damit, wenn wir dagegen ankämpfen, leiden wir.

Es ist wie beim Schachspielen: Das Spiel entwickelt sich zu unseren Gunsten und wir spüren schon das Hochgefühl des Sieges. Doch findet die Gegnerin einen pfiffigen Zug, den wir übersehen haben, und schon droht die Niederlage. Das Hochgefühl verschwindet ins Nichts und macht einer ängstlichen Frustration Platz. Spielsituationen lieben wir vermutlich deshalb, weil sie uns das Einüben des Umgangs mit Frustrationen möglich machen. Wir leiden kurz, bis uns klar wird, dass es ja nur ein Spiel ist.

Gegen das Leben kämpfen

Außerhalb der Spielkontexte ist das Leben unser „Gegner”, indem es unsere Erwartungen ignoriert und überraschende und unvorhergesehene Winkelzüge präsentiert. Sich beim Leben für die liebsamen und unliebsamen Überraschungen zu beschweren, ist eine Strategie, die aus den „Anleitungen zum Unglücklichsein“ (Paul Watzlawick) stammen könnte. Die Wirklichkeit kümmert sich in ihren Abläufen nicht um unsere Erwartungen, sondern orientiert sich an anderen Gesetzmäßigkeiten, deren Logik uns zumeist nichts als Rätsel aufgibt. Wir schaffen uns selber das Leid und stehlen uns nur aus der Verantwortung, wenn wir irgendwelche Faktoren in der Außenwelt für unsere inneren Zustände haftbar machen.

Das trifft auch auf unsere Mitmenschen zu, von denen wir erwarten, dass sie sich gemäß unseren Erwartungen verhalten, und die uns enttäuschen, wenn das nicht der Fall ist. Von der Kassierin im Supermarkt erwarten wir, dass sie freundlich und fröhlich ist; schließlich sind wir die Kunden und wünschen uns ein angenehmes Einkaufserlebnis. Begegnen wir einem missmutigen Menschen an der Kassa, sind wir enttäuscht und vielleicht sogar empört, ohne dabei an die Belastungen zu denken, denen die Kassierin ausgesetzt ist.

Das Recht auf die Erfüllung unserer Erwartungen

Wir haben eine Instanz in uns, die uns sagt, wir hätten ein Recht darauf, dass unsere Erwartungen erfüllt werden. Sie stammt aus unseren frühesten Erfahrungen, aus unseren Ursprüngen. Wir sind mit der Erwartung in dieses Leben getreten, dass wir geliebt, genährt und geschützt werden. Unser Urvertrauen sagt uns, dass wir das Recht darauf haben, dass die Existenz, die uns das Leben verliehen hat, alles zu ihrem Bestand und Weiterwachsen Notwendige bekommen wird. Auf einer unbewussten Ebene wissen wir, was wir brauchen, um gut überleben und uns angemessen entwickeln zu können. Doch auch gute Eltern sind nur Menschen, deshalb können sie diesen Erwartungen nur zu einem bestimmten Teil nachkommen. Das Enttäuschen der Erwartungen ist dann mit der Angst vor der Gefährdung des eigenen Überlebens verbunden. Solche Erfahrungen lösen manchmal massiven Stress aus, den Babys mit heftigem Geschrei ausdrücken.

Im Zuge des Aufwachsens haben wir gelernt, dass es immer wieder Enttäuschungen gibt und dass die Realität nicht so beschaffen ist, dass sie alle unsere Erwartungen erfüllt. Wir lernen, unsere Wünsche mit den aktuellen Möglichkeiten abzugleichen und notfalls auf die Befriedigung unserer Bedürfnisse zu verzichten. Doch bleibt häufig die Gefühlsdynamik so, wie wir sie in unseren Anfängen erlebt haben: Das unbefriedigte Bedürfnis wird übermächtig und löst eine unangenehme Enttäuschung aus, mit der wir fertig werden müssen.

Frustrationstoleranz

Erwachsenwerden heißt auch, Frustrationstoleranz zu erwerben, also die Fähigkeit, Enttäuschungen wegstecken zu können, ohne daran zu leiden. Hilfreich ist die Kompetenz, das frustrierte innere Kind zu beruhigen und zu vertrösten. Wie einfühlsame Eltern ihrem Kind begegnen, gehen wir auf die Ungeduld unseres inneren Kindes ein. Wir signalisieren ihm, dass wir sein Bedürfnis mit all der Dringlichkeit verstehen, während aber die Umstände gerade so beschaffen sind, dass eine Befriedigung nicht sofort möglich ist, sondern erst in einiger Zeit oder auf andere Weise erfolgen kann. Wir versprechen unserem inneren Kind, dass wir uns um das Bedürfnis kümmern. Der innere Konflikt und die Anspannung lösen sich dann auf und wir gelangen zu einem inneren Frieden.

Unser erwachsenes Ich weiß, dass unser Überleben nicht gefährdet ist, wenn wir nicht das, was unser Bedürfnis fordert, sofort und in der gewünschten Form bekommen. Als Erwachsene kennen wir verschiedene Reaktionsmöglichkeiten auf Bedürfnisspannungen, die je nach Situation angewendet werden können:

Wir können die Befriedigung aufschieben: Wir haben Hunger, aber gerade keine Zeit, um uns etwas zum Essen zu besorgen. Wir können abschätzen, wann wir unseren Hunger stillen können und uns bis dahin gedulden.

Wir können eine andere Form der Befriedigung finden: Wir wollen in ein bestimmtes Restaurant essen gehen, doch es hat geschlossen, also suchen wir ein anderes.

Wir haben auch die Möglichkeit, die Befriedigung zu verabschieden, indem wir die Erwartung zurücknehmen. Wir erwarten uns einen Gefallen von einem Freund, doch dieser hat keine Zeit. Wir suchen nach anderen Wegen, um an unser Ziel zu gelangen.

Erwartungsfreiheit

Können wir uns ganz von Erwartungen lösen, die uns immer wieder zu Enttäuschungen führen? Erwartungslos zu sein, erscheint als ein erstrebenswertes Ziel. Allerdings sind Erwartungen ein fixer Bestandteil unseres inneren Inventars. Sie tauchen gemeinsam mit unseren Bedürfnissen auf und sind an sie geknüpft. Bedürfnisse sind Signale des Organismus, die wir nicht abstellen können und auch nicht abstellen sollen, weil wir sonst nicht für die Mängelzustände im Inneren sorgen könnten.

Der Weg der Bewusstheit führt uns dazu, Erwartungen als Erwartungen zu erkennen, verbunden mit der Einsicht, dass die Zukunft immer ungewiss ist. Wir können sie nur in einem ganz geringen Ausmaß beeinflussen und in die Richtung unserer Erwartungen drängen. Weitaus die meisten Faktoren befinden sich nicht in unserer Kontrolle. Naturkatastrophen sind Beispiele für wuchtige Erfahrungen mit dieser Unwägbarkeit und Unverfügbarkeit der Wirklichkeit. Auch bei schweren Erkrankungen, die den Tod in den Erwartungshorizont rücken, durchkreuzt das Schicksal alle Pläne. Solche Ereignisse werfen die gesamten Erwartungen der Betroffenen über den Haufen. Sie müssen alle Vorstellungen über die Zukunft revidieren und ihre Lebensperspektiven völlig neu aufstellen.

Je schwerer und unerwarteter der Schlag ist, den das Schicksal versetzt, desto schwerer ist das Akzeptieren der entsprechenden Wirklichkeit. Allerdings ist der Schweregrad der Enttäuschung wiederum eine Sache unserer Bewertung. Wir müssen uns also eingestehen, dass wir unseres Glückes wie unseres Unglückes Schmied sind, in jedem Moment, bei jeder Erfahrung.

Mit dem Einüben dieser Perspektive werden die Erwartungen, die in uns entstehen, immer unwichtiger und die Enttäuschungen immer schwächer. Wir lernen, gelassener mit den Màandern und Hochschaubahnen des Lebens zurechtzukommen.

Die Absichtslosigkeit

Aus der Einsicht über die Bedingtheit und Vorläufigkeit aller Erwartungen kommen wir zur Einstellung der Absichtslosigkeit. Sie zählt auch zu den Tugenden, die wir im Zug der spirituellen Suche erwerben können. Allerdings ist sie kein absolutes Ziel, das wir erreichen müssen, um die innerliche Freiheit zu erlangen. Der Begriff macht uns vielmehr darauf aufmerksam, dass wir unsere Erwartungen über die Zukunft immer wieder loslassen können. Denn, wie ich in einem früheren Blogbeitrag geschrieben habe, sind „unsere Absichten nur Luftblasen, die wir zerplatzen lassen können, sobald sie ihr kreatives Schillern verloren haben. Jede verschwundene Luftblase kann einer neuen Platz machen, und so bleibt unser Leben ein kreativer, aus sich heraus wachsender Prozess. Dazu ist es wichtig, dass wir den leeren Raum zwischen den Blasen bewusst wahrnehmen als den Einstieg in die eigentliche Quelle von allem. Die Freiheit von Absichten gehört zum Luxus des meditativen Lebens; die Kunst, Absichten klar zu erkennen, zu bewerten, zu Entscheidungen zu führen, und sie dann zum besten Zeitpunkt zu vergessen, ist Teil der alltäglichen Lebenskompetenz, an der wir immer wieder feilen müssen.“

Zum Weiterlesen:
Von den Absichten zur Absichtslosigkeit
Absichtslosigkeit in der Therapie
Akzeptiere, was ist, dann verändert es sich