Donnerstag, 4. Dezember 2025

Migrationsmythen und die Realität

Das Thema Migration ist emotional hoch aufgeladen und beherrscht die Politik. Gerade deshalb ist es dafür geeignet, dass sich Mythen bilden. Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger hat ein Buch geschrieben, in dem sie auf der Grundlage vieler Studien Narrative und Mythen zur Migrationspanik" entkräftet. Der folgende Artikel ist aus dieser Quelle gespeist und mit eigenen Gedanken ergänzt. Die Zitate beziehen sich auf das Buch: Judith Kohlenberger: Migrationspanik. Wie Abschottungspolitik die autoritäre Wende befördert. Wien: Picus Verlag 2025

Mythos 1: Die Massenzuwanderung hat zur Ausländerfeindlichkeit und zum Aufstieg der Rechtsparteien geführt.

Realität: Die immer restriktiver werdende autoritäre bis brutale (Stichwort „Push-Backs“) Asyl- und Migrationspolitik hat die Migration als größte Gefahr für den Nationalstaat populär gemacht. Es ist also umgekehrt: Die Ausländerfeindlichkeit hat nur den Rechtsparteien genutzt, gleich ob sie von linken oder konservativen Parteien benutzt wurden. Die rechten und rechtsextremen Parteien konnten an Zulauf gewinnen, weil sie dieses Narrativ am glaubwürdigsten vertreten und in der Regel über wenig andere politische Ziele verfügen. Eine restriktive Migrationspolitik hat das Ziel einer umfassenden Abschottung („Grenzen dicht machen“), weil ja angeblich die Gefahr so groß wäre. Die Angst, von welcher Seite auch immer sie gesät wird, bedienen die rechtsradikalen Kräfte besser als die moderaten.

Mythos 2: Die Fluchtursachen haben nichts mit uns zu tun, wir sind nur die Opfer von Konflikten und Krisen irgendwo anders auf der Welt.

Realität: Durch die Klima-, Handels- und Sicherheitspolitik der europäischen (und der anderen westlichen) Staaten werden laufend Fluchtursachen in den ärmeren Ländern erzeugt. Die Politik in unseren Ländern hat vor allem die Eigeninteressen im Blick und kümmert sich nur marginal um die Interessen anderer Länder, bzw. derer Bewohner. Bekanntlich leiden die ärmeren Länder unter der Klimakrise am meisten, während die reicheren Länder umso mehr zur Erderwärmung beisteuern, sich aber am besten vor den Auswirkungen schützen können. Diese beschämenden Zusammenhänge werden tunlichst aus den Debatten und Entscheidungsfindungsprozessen herausgehalten.

Mythos 3: Wenn die Migration zurückgeht, werden auch die Rechtsparteien an Einfluss verlieren.

Realität: Die panischen Gefühle um das Thema Migration herum haben sich schon so stark in den Mentalitäten der Menschen verfestigt, dass es gar keine neue Migration mehr braucht, um den Rechtsparteien zu mehr Einfluss zu verhelfen. Die Zahlen der Einwanderungswilligen gehen seit Jahren zurück, während der Zulauf zu den Rechtsparteien in den meisten Ländern kontinuierlich ansteigt. Eine Ausnahme stellt übrigens Spanien dar, das eine liberale Migrationspolitik betreibt, mit dem zusätzlichen Resultat, dass die Wirtschaftsdaten wesentlich besser ausfallen als in den anderen EU-Ländern, die die Zuwanderung eindämmen wollen.

Mythos 3: Integration kann nur gelingen, wenn sich die Zuwanderer anpassen.

Realität: Natürlich bedarf es der Anstrengungen der Migranten, sich in das Gastland einzufügen, die Sprache zu lernen und die Regeln zu akzeptieren. Aber solange die Einheimischen die Fremden als Störung und nicht als Bereicherung erleben und nur Ihresgleichen” als vollwertig anerkennen können, wird die Integration nicht gelingen. Es sind also Anstrengungen auf beiden Seiten notwendig, und das wird von der einschlägigen Propaganda tunlichst ignoriert. Denn es widerspricht der Logik der Propaganda: Wir haben die Oberhand, weil wir zuerst hier waren, wer später kommt, muss sich unterordnen. Wir brauchen sie nicht, also sind wir in der stärkeren Position. Übersehen wird bei diesem Denkmuster, dass die westlichen Länder ohne Zuwanderung sehr schnell in wirtschaftliche Probleme geraten würden und langfristig unter einer schrumpfenden Bevölkerung mit zunehmender Überalterung leiden würden. 

Mythos 4: Wir sind schon für Zuwanderung, aber nur die Leute, die wir für die Wirtschaft brauchen. Alle anderen müssen draußen bleiben.

Realität: Die Beschränkung der Zuwanderung auf die oft zitierten qualifizierten Facharbeitskräfte ist der Wunschtraum aller gemäßigten Migrationspopulisten. Er scheitert daran, dass diejenigen, die sich aufgrund ihrer Qualifikationen die Länder aussuchen können, in die sie übersiedeln, meiden verständlicherweise Länder mit ausgeprägter Ausländerfeindlichkeit. Alle Länder, in denen die rechtsgerichtete ausländerfeindliche Propaganda stark ist, bekommen gerade die Fachkräfte nicht, die sie sich wünschen.

Das ist ein typisches Beispiel für die Widersprüchlichkeit in der Migrationspropaganda: Sie propagiert eine grundsätzliche Ausländerfeindlichkeit, will aber die Rosinen aus dem Kuchen picken, indem nur die „brauchbaren“ Zuwanderer genommen werden. Das funktioniert aber kaum oder gar nicht, weil das feindselige Klima vor allem jene Migranten abschreckt, die die Wahl haben; die anderen, die keine Wahl haben, wandern ein, auch wenn sie damit rechnen müssen, auf eine gastfeindliche Gesellschaft zu treffen. Denn sie wollen vor allem ihre Haut retten.

Mythos 5: Wir brauchen eine homogene Gesellschaft. Das geht nur, wenn sich die Zugewanderten an unsere Normen anpassen. Dazu müssen wir ihnen diese Werte eintrichtern.

Realität: Diese „unsere Normen und Werte“ sind eine Fiktion. In einer pluralen und individualisierten Gesellschaft sind Werte so unterschiedlich, dass ein gemeinsamer Nenner nur mehr abstrakte Normen beinhaltet. Manche Politiker haben zwar Wertekataloge vorgestellt, die darstellen sollen, was die heimische Identität ausmacht. Aber diese Kataloge enthalten entweder Allgemeinplätze (z.B. gegenseitiger Respekt) oder verweisen auf lokales Brauchtum bezogen (z.B. Nikolaus-Feiern), das von Region zu Region verschieden ist. 

Den meisten Einheimischen ist gar nicht klar, worin das besteht, was sie von den „Fremden“ unterscheidet. Denn die heimische Kultur ist so divers und vielschichtig, dass es sinnlos ist, sie auf eine Liste von Werten zu reduzieren. Es ist eher so, dass sich ein Autochthoner mit linker oder liberaler politischer Ausrichtung stärker von einem Autochthonen mit rechter Gesinnung unterscheidet als von einem Ausländer oder Migranten, mit dem er mehr Überscheidungspunkte seiner Ansichten hat. 

Historisch betrachtet, ist z.B. die österreichische Kultur das Produkt aus verschiedenen Migrationsbewegungen der letzten Jahrhunderte. Als Telefonbücher noch verbreitet waren, genügte ein kurzes Blättern, um festzustellen, dass die Ansammlung an Familiennamen zugleich eine Ansammlung an unterschiedlichen Herkünften zeigt, vor allem aus dem Raum der ehemaligen Habsburgermonarchie, aber auch darüber hinaus. Die heutigen Österreicher sind das Produkt vieler Migrationsbewegungen und nicht die Abkömmlinge eines genetisch homogenen Stammes oder gar einer Rasse. Fremdenfeindlich kann man nur sein, wenn man die Geschichte ausblendet, vor allem die eigene Abstammungsgeschichte. 

Dazu kommt, dass sich die Kultur durch Übernahmen aus anderen Kulturen laufend ändert. Im deutschsprachigen Raum ist z.B. ein fortgesetzter Trend zu bemerken, Wörter aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum zu adaptieren. Das Jugendwort 2025 ist „das crazy“, auf den Plätzen landeten: „goonen“ und „checkst du“, drei Anglizismen mit deutscher Grammatik. In Österreich kann bemerkt werden, wie immer mehr Wörter aus Deutschland übernommen werden, z.B. „Tschüss“ oder „lecker“ – kein Wunder, weil ja die größte Gruppe der Zuwanderer in Österreich aus der Bundesrepublik Deutschland kommt. 

Aber solche Veränderungen stören die Migrationspaniker nicht wirklich, weil es sich um Einflüsse handelt, die aus Kulturen stammen, die sie als gleichwertig oder überlegen betrachten. Was sie stört, sind kulturelle Einflüsse aus Kulturen, die sie abwerten, weil sie als minderwertig angesehen werden, z.B. moslemische Kulturen. 

Mythos 6: Eine harte Zurückweisungspolitik an den Grenzen macht die Gesellschaft sicherer.

Realität: Was sich an den Außengrenzen der EU abspielt, widerspricht in vielen Fällen dem Recht – nationalem, EU- und Völkerrecht. Trotz der massiven und kostspieligen Anstrengungen werden die erwünschten Erfolge nicht erzielt. „Weltweit gibt es sechsmal so viele Grenzmauern und -zäune wie während des Kalten Krieges.“ Und dennoch wird das Sicherheitsgefühl jener, die innerhalb der Mauern und Zäune leben, immer schwächer. „Dazu kommt, dass Grenzbefestigungen ökonomisch, sozial und politisch sehr teuer sind, dass sie aber Migration nicht regulieren.“ (S. 60) 

Ein weiteres Paradoxon besteht darin, dass der vermeintliche Schutz der Grenzen die organisierte Kriminalität befördert, die vergeblich bekämpft werden soll. Je mehr Grenzbefestigungen, desto mehr Versuche, sie zu überwinden, mit allen Mitteln, die zu Gebote stehen. Wo die Not wächst, finden sich schnell Leute, die sie auf kriminelle Weise für ihre Zwecke ausnutzen können.

Als weitere Folgewirkung der Brutalisierung, die an den Grenzen stattfindet, sinken in der öffentlichen Wahrnehmung die Standards für die Menschenrechte. Steter Tropfen höhlt jeden Stein, stetiges Ignorieren von menschenrechtlichen Standards durch offizielle Stellen untergräbt die Moral. Aggression an den Grenzen wirkt nach innen weiter, die Polizei gewöhnt sich an Unmenschlichkeiten und die Bürger nehmen Rechtsbrüche hin, weil es ja keine Konsequenzen gibt. Auf diese Weise erodiert das Regelverständnis und eine von Empathie geleitete Ethik wird an den Rand gedrängt, an dem ein paar Idealisten ausharren. Stattdessen wird auf breiter Front der Nährboden für eine Politik ohne Mitgefühl bereitet, nach der Macht des Stärkeren. Es wird also ein Rückfall auf frühere Niveaus der Menschlichkeit unterstützt. 

Die zwei Gesichter der Fremdenangst

Die Fremdenangst hat zwei Gesichter. Das erste, offensichtliche, besteht darin, dass die Fremden anders sind als wir und dass sie deshalb mit Misstrauen beäugt werden müssen. Sie sind ein Fremdkörper und werden immer einer bleiben, denn sie können ihre Fremdheit nicht ablegen. Das andere Gesicht der Angst ist verborgener und weist auf das genaue Gegenteil: Wäre es nicht viel schlimmer, wenn sich die Fremden so anpassen und die einheimische Lebensweise übernehmen, dass sie nicht mehr unterscheidbar sind? Was bleibt dann noch von uns? Geht der „Ur-Österreicher endgültig verloren? Angeblich stammt selbst „Ötzi“, die Gletschermumie, genetisch aus Anatolien, war also selbst ein Migrant.

Stattdessen wird die Angst verbreitet, dass die Fremden nie so werden “wie wir sind”. Dabei ist den meisten Menschen, die von dieser Angst betroffen sind, gar nicht klar, worin dieses Wir-Sein überhaupt besteht.

Mythos 7: Wenn wir den Nationalstaat stärken, bekommen wir die Migration in den Griff.

Realität: Die Globalisierung ist ein Trend, der über Jahrhunderte wirkt und nicht aufgehalten werden kann. Er bewirkt, dass der Nationalstaat immer mehr Kompetenzen an übergeordnete Strukturen abtreten muss. Er verliert zusehends an Kompetenzen. Der hochgezogene und hochgelobte Grenzschutz erscheint als Propagandaveranstaltung, mit dem die Bedeutung des Nationalstaats demonstrativ hochgehalten werden soll, während ihm durch die Prozesse der Globalisierung beständig das Wasser abgegraben wird. Der Nationalstaat, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, hat keine Zukunft, sosehr sie auch von rechtsgerichteten Politakteuren ersehnt wird. Sie nutzen das Migrationsthema, um die überkommene Idee des Nationalstaates als Allheilmittel anpreisen zu können.

Deshalb wirkt das Orbán-Ungarn wie ein absurder Fremdkörper in Europa, das eine abgeschottete Nationalstaatspolitik betreibt, während es von der EU reichliche Finanzmittel bekommt, bei den meisten Beschlüssen eine Außenseiterposition einnimmt und dennoch von der transnationalen Mitgliedschaft profitiert. Weil es funktioniert, rhetorisch die Rebellenposition einzunehmen und zugleich am Futtertrog mitzunaschen, findet dieses Modell Anklang und Nachahmung bei allen Rechtsparteien. Die angeheizte Migrationspanik liefert den emotionalen Untergrund für den Zulauf, den diese Gruppierungen haben.

Nicht von ungefähr haben rechte und rechtspopulistische Parteien dort die größten Zugewinne, wo gar keine Flüchtlinge leben, wie etwa in Ungarn. Dort nämlich gibt es gar keine Möglichkeit zu verifizieren, ob das, was ein Viktor Orbán über Schutz suchende Menschen aus dem Nahen Osten oder Afrika verbreitet, wirklich stimmt. (S. 114)

Mythos 8: Die Migration ist schuld an der Zunahme der Straftaten.

(Dieser Abschnitt bezieht sich nicht auf das Buch von Judith Kohlenberger, sondern auf eine Zeitungsmeldung mit Daten, die der Soziologe Soziologe Günther Ogris vom Dema Institut am 23.11.2025 präsentiert hat.)

Realität: Auch hier stoßen wir auf ein Paradoxon: Österreich ist nachgewiesen eines der sichersten Länder der Welt – und trotzdem sinkt das subjektive Sicherheitsgefühl. Seit 2001 ist die österreichische Bevölkerung um 1,13 Millionen Menschen gewachsen. Wäre die Kriminalität proportional zur Bevölkerung geblieben, müsste sie gestiegen sein. Stattdessen sank die Zahl der Verurteilten insgesamt, pro Kopf gerechnet sogar um 43 Prozent. Obwohl sich die Zahl der ausländischen Bevölkerung mehr als verdoppelt hat, ist die absolute Zahl der verurteilten Ausländer gesunken – von 14.000 auf 12.685. Hinzu kommt, dass rund 17 Prozent der „ausländischen Tatverdächtigen“ gar keinen Wohnsitz in Österreich haben. Es handelt sich um Touristen oder Durchreisende.

Eine Studie aus Deutschland hat nachgewiesen, dass eine Wahrnehmungsverzerrung stattfindet: Ausländische Tatverdächtige machen in der deutschen Kriminalstatistik rund ein Drittel der Gesamtzahl Verdächtiger aus. In Zeitungs- oder TV-Berichten über Kriminalität wird hingegen zu mehr als 90 Prozent über Menschen berichtet, die keine deutsche Herkunft haben – selbst in Medien mit linker Zielgruppe.

Wir sollten uns also immer wieder diese verzerrte Optik, der wir schnell unterliegen, klarmachen: Worin besteht die Realität und was sind die Bilder, die aufgrund des Medienkonsums in unseren Köpfen entstehen? Wie verhält sich die Realität und wo verfangen wir uns in Narrativen, die die uns plausibel erscheinen, aber einer Nachprüfung nicht Stand halten? Wachsamkeit und Urteilsfähigkeit sind Kompetenzen, die wir in diesen Zeiten brauchen, damit die Menschlichkeit und die Vernunft nicht unter die Räder kommen.

Literatur: 
Judith Kohlenberger: Migrationspanik. Wie Abschottungspolitik die autoritäre Wende befördert. Wien: Picus Verlag 2025

Zum Weiterlesen:

Samstag, 29. November 2025

Liebe und Tod des Cornets und der Patriarchalismus

Rainer Maria Rilke zum 150. Geburtstag

In dem Prosagedicht „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ von Rainer Maria Rilke finden sich einige symbolträchtige Stellen, die aus einer rätselhaften Welt zwischen Wachen und Träumen zu stammen scheinen.

An einer dieser Stellen lesen wir:

„Einer, der weiße Seide trägt, erkennt, dass er nicht erwachen kann; denn er ist wach und verwirrt von Wirklichkeit. So flieht er bange in den Traum und steht im Park, einsam im schwarzen Park. Und das Fest ist fern. Und das Licht lügt. Und die Nacht ist nahe um ihn und kühl. Und er fragt eine Frau, die sich zu ihm neigt: 

'Bist Du die Nacht?' 

Sie lächelt. 

Und da schämt er sich für sein weißes Kleid. Und möchte weit und allein und in Waffen sein. Ganz in Waffen.“

Dieser Text wird meist als Selbstfindung der Hauptfigur der Erzählung interpretiert. Der junge und unerfahrene Cornet sucht die Bestätigung in seiner Männlichkeit und findet zu seinem ersten (und letzten) Abenteuer in der Turmstube des Schlosses, mit der Gräfin. Der obige Text beschreibt die Anfänge dieser Begegnung.

Das Leiden am Patriarchalismus

Hier stelle ich eine Interpretation vor, die das Spannungsfeld des Patriarchalismus ins Blickfeld rückt. Das Prosagedicht ist an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden, in einer Zeit, in der die traditionellen Geschlechtsrollen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft ins Wanken geraten sind. Aus dieser Perspektive könnte der Ausbruch des 1. Weltkriegs (die „Stahlgewitter“ nach Ernst Jünger) als ein Aufbäumen des Patriarchalismus gegen seinen drohenden Verfall verstanden werden. Im „Cornet“ kündigen sich diese Entwicklungen an und werden mit feiner Hand vorgezeichnet.

Der als „Einer“ Bezeichnete ist der in die Anonymität eines Traumgebildes abgerutschte Cornet, der weiße Seide, ein „unmännliches“ Gewand trägt. Er ist noch nicht ganz Mann und hat deshalb keinen festen Platz in der patriarchalen Ordnung inne. Er will zwar dazugehören und schämt sich, weil er nicht dabei ist. Zugleich aber spürt er auch, dass der Eingang zur Männerwelt über die Frauen geht und dass er diesen Eingang nur finden kann, wenn er die Weiblichkeit in sich zulassen kann. Das gelingt erst, wenn die Ablösung von der Mutter vollzogen ist. Er denkt ein paar Seiten vorher an sie und schreibt ihr einen Brief, von dem er hofft, dass er ihr überbracht wird, auch wenn ihm etwas zustößt. Er bittet sie, auf ihn stolz zu sein, weil er als Cornet die Fahne tragen darf. Die Mutter wird dann nicht mehr erwähnt, bis auf den Schluss, wo ihr Leid über den verlorenen Sohn kurz erwähnt wird.

Im Niemandsland

Da er wohl nicht im Traum ist, weiß er nicht, weshalb er diese Bekleidung trägt und was sie bedeutet. Das Niemandsland zwischen Kindheit und Erwachsensein ist so verwirrend wie das Zwischenreich von Traum und Wirklichkeit. Die reife Vernunft und der ordnende Verstand stehen nicht zur Verfügung. Ganz in den Traum abzutauchen, soll helfen, der verstörenden Wirklichkeit zu entkommen. 

Im Traum, also in der Welt seines Unbewussten steht er alleine in einem „schwarzen Park“, abgeschnitten von den anderen. Der schwarze Park kann ein Symbol für das Totenreich sein, das im Schlafzustand näher rückt. Sein weißes Gewand steht im Kontrast zur Düsternis des unheimlichen Parks, aber nur scheinbar, denn die Leichen werden auch in weißes Leinen gekleidet. Denn er ist allein in dem Park, fern vom Fest der Unbeschwerten. 

Das Licht lügt, es scheint nur zum Schein, tut nur so, als würde es scheinen. Die Helligkeit gibt keine Sicherheit, sondern nur die Illusion. Die Lüge besteht im Hochhalten einer Moral, die schon längst brüchig ist, weil sie auf Macht und Gewalt beruht und mit der Liebe Schindluder treibt.

Nahe spürt er nur die Nacht, die sich wie eine Frau zu ihm neigt, denn die Nacht ist ein Symbol für das Weibliche. Er ist also dem Geheimnis auf der Spur. Er fragt sie, ob sie die Nacht ist. Ihre Antwort ist ein Lächeln. Ein Lächeln kann viel bedeuten: Wertschätzung, Zuwendung, Verführung, Trost, Entlarvung oder Verachtung. Er kann ihr Lächeln aber nicht lesen, weil ihm dafür die Sensibilität fehlt. Wo hätte er sie je lernen können? Das Aufwachsen im Patriarchalismus fordert von den Männern, ihre Verletzlichkeit durch Härte zu kompensieren.

Die Scham über die Anima

Deshalb trifft ihn von all den Bedeutungen des Lächelns nur eine: Er sieht sich erkannt, in seinem weißen Kleid, in seiner Unschuld und in seiner „Unmännlichkeit“. Dieser Scham will er entrinnen, indem er in eine trotzige Männlichkeit flüchtet: Allein und ganz in Waffen sein. So unerträglich ist die Weichheit und Verletzbarkeit unter der Last des patriarchal verordneten Mannseins. Die Flucht in die Symbole der Gewalt soll ihm Sicherheit vor seinem Unbewussten geben, in dem die Weiblichkeit, seine Anima, ihren Platz beansprucht. In einer von starrer Männlichkeit dominierten Welt muss er sich für die Weichheit und Zartheit, für die weiße Seide schämen und alle diese Strebungen in sich unterdrücken, damit er vor Verachtung und Ausgrenzung geschützt bleibt.

Ein paar Zeilen weiter heißt es: „Sie haben sich ja gefunden, um einander ein neues Geschlecht zu sein.“ Deshalb ist es gar nicht wichtig, die Umstände ihrer Begegnung zu wissen. Es spielt keine Rolle, was mit dem Mann der Gräfin ist noch welchen Namen der Geliebte trägt, denn: „Sie werden sich hundert neue Namen geben und einander alle wieder abnehmen, leise, wie man einen Ohrring abnimmt.“

Es ist ein neues Geschlecht, weil es nicht an die herrschenden Rollenbilder angepasst ist. Es ist also ein neues Geschlechterverhältnis, das die Normen des Patriarchalismus hinter sich lässt. Es entsteht aus dem Moment der Begegnung und bleibt auf ihn beschränkt. Und es ist von kurzer Dauer, wie alles Vergängliche. Aber es trägt alle Namen in sich.

Liebe und Tod

Die Verbindung von Liebe und Tod, die bei Rilke oft auftaucht, ist ein Erbe des Patriarchalismus. Liebe ist in diesem System begrenzt und beschränkt. Die zugeteilten Geschlechtsrollen erweisen sich als mächtiger als die Liebe, sodass sie dem Tod geweiht ist, kaum dass sie erblühen konnte. Der typische Verlauf einer Liebesbeziehung im Patriarchat beginnt mit Verliebtheit und endet in einem dumpfen ehelichen Nebeneinander-Her-Leben. Wo der Fluss der Gefühle war, herrscht Stillstand und Leblosigkeit. Das ist die milde Form des Todes der Liebe, die brutale findet dort statt, wo die Gewalt  Einzug hält, indem der Hass die Liebe ersetzt. Die Allgegenwart des Todes als Ausfluss von Hass und Gewalt ist die unvermeidliche Nebenwirkung des Geschlechterungleichgewichts im Patriarchalismus. Wenn die Achtung fehlt, bricht sich unweigerlich die Bosheit ihre Bahn, um sich zu rächen. Der Kampf der Geschlechter ist ein Ringen um Anerkennung und Achtung, die beide Seiten schmerzlich vermissen. Es gibt aber kein Entrinnen, solange die Macht der Rollenfixierungen weiter besteht. 

Die postpatriarchale Utopie

Das Zwischenreich, das in dem Zitat vorherrscht, deutet auf die noch lange nicht real gewordene Utopie einer neuen, postpatriarchalen Ordnung hin, in der zwischen Männern und Frauen die Anerkennung der Unterschiede und die Obsorge für die Gemeinsamkeiten im Rahmen von Respekt und Achtung stattfinden. Es ist eine Zukunft, in der die Geschlechter die Geheimnisse der Liebe ohne Machteinflüsse und starre Rollenbilder erkunden können. Diese Utopie umfasst alle Formen der Geschlechtlichkeit, befreit von den Fesseln der patriarchalen Ideologie.

Der Eine, der seine Anima nicht aushalten und sich mit ihr nicht anfreunden kann, der nicht zu seiner Verletzlichkeit stehen darf, muss dann, wieder einsam und verlassen, im Kampf sterben. Die Tragik des männlichen Geschlechts im Patriarchalismus ist in ihrer vollen Tragweite eingetreten. Der männliche Held, der sich auf der Flucht vor der Weiblichkeit (seiner eigener und der in Gestalt der Frauen) der Gewalt verschreibt, muss durch sie umkommen. Zurück bleiben Frauen, die trauern.

Zum Weiterlesen:

Genderspektrum und "Dekadenz"
Geschlechtsidentität - genetisch - biologisch - sozial
Animus und Anima im 21. Jahrhundert
Das Reizthema LBTQ und der Patriarchalismus


Dienstag, 25. November 2025

Genderspektrum und „Dekadenz“

Die Rechtspropaganda will uns glaubhaft machen, dass die LBTQ+-Phänomene Folge und Ausdruck von Dekadenz und Verweichlichung wären. Sie nutzt ein Verunsicherungsgefühl, das viele Menschen beschlichen hat, die den Eindruck haben, dass die Fundamente der westlichen Gesellschaftsordnung brüchig werden, wenn die Geschlechtsidentität uneindeutig wird. 

Tatsächlich war die Frage des Geschlechts nie so eindeutig, wie es früher den Anschein hatte. Die Phänomene der von der Norm abweichenden sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten hat es immer schon gegeben, ihre Ursachen sind in der Biologie zu finden. Im Lauf der gesellschaftlichen Öffnung und der wachsenden Toleranz haben aber immer mehr Menschen begonnen, sich zu ihrer abweichenden Geschlechtsidentität zu bekennen. Manche konservativ gestimmte Menschen meinen deshalb, das Wechseln des Geschlechts wäre ein modernes Phänomen, und sie wünschen sich eine Vergangenheit zurück, in der es diese Unsicherheiten nicht gegeben habe. Allerdings übersehen sie, dass in den früheren Zeiten viel mehr Unterdrückung und Kontrolle bestanden hat, sodass von der Norm abweichende Geschlechtsidentitäten, von schweren Strafen bedroht,  im Verborgenen bleiben mussten. Die Homosexualität war lange Zeit unter Strafe gestellt, noch unter den Nazis wurden Homosexuelle ins Konzentrationslager gesteckt, und in Österreich wurde die Gleichgeschlechtlichkeit in der Sexualität erst 2002 völlig straffrei. Inzwischen sind in vielen Ländern Eheschließungen für gleichgeschlechtliche Partner möglich, und selbst rechte Parteien rütteln nicht mehr an diesen Liberalisierungen.

Transidentitäten als ideologisierte Angriffsfläche aus dem rechten Eck

Das Thema in diesen Zusammenhängen, das aber noch immer für Aufregung, Aggression und Gewaltaufrufe sorgt, ist das der Trans-Identitäten. Hier geht es um Menschen, die sich, obwohl „als männliches Wesen geboren“, eher als Frau fühlen, bzw., obwohl als „weibliches Wesen geboren“, als Mann fühlen. Es geht auch um Menschen, die sich zu beiden Kategorien hingezogen fühlen, und um solche, die sich weder als das eine noch als das andere definieren. Es gibt Menschen, die sich im Verhalten und in Äußerlichkeiten an das andere Geschlecht anpassen und solche, die sich durch Hormontherapien und Operationen in das andere Geschlecht verwandeln. Es handelt sich zahlenmäßig um eine noch geringere Minderheit als die Homosexuellen. Geschätzt werden 0,5 Prozent der Bevölkerung weltweit, die sich als transgender verstehen; das wären 40 bis 50 Millionen Menschen. In Österreich dürfte die Zahl der Betroffenen unter 1000 liegen. Gemessen an individuellen Schicksalen sind das enorm viele; gemessen an der Gesamtzahl der Erdbewohner verschwindend wenige. Also ist es ziemlich unverständlich, woher die Bedrohungsgefühle kommen, die auf diese winzige Minderheit projiziert werden. In verschiedenen Kreisen, die vor allem von rechtsgerichteter Propaganda aufgeladen werden, wird das Thema heiß diskutiert. 

Die Ideologen in Osteuropa bis Russland haben dieses Thema entdeckt, um ein altes historisches Narrativ auszugraben, das auf der Grundlage von nationalheroischen Ideologien erstellt wurde: Großreiche gehen zugrunde, weil ihre Gesellschaft und damit auch ihre Führungsschicht verweichlicht und dekadent wird. Also wird nach dieser ideologiegeladenen Sicht der Westen untergehen und Großrussland mitsamt seinen Vasallen endlich dominieren.

Diesen Gemeinplatz von moralischer Dekadenz und gesellschaftlichem Niedergang hört man oft in Bezug auf den „Untergang des römischen Reiches“, den Historiker lieber mit einem Transformationsprozess beschreiben, in dem die römische Welt im Zentralraum von Europa schrittweise in eine germanisch-römische Kultur umgewandelt wurde (eher wurden die Germanen romanisiert als umgekehrt). Denn es gilt festzuhalten, dass das römische Reich trotz fragwürdiger Kaiser wie Caligula oder Nero noch einige Jahrhunderte Bestand hatte und lange nach diesen Figuren seine größte Ausdehnung erreichte. Außerdem bestand das oströmische Reich bis ins 13. Jahrhundert. Eher können wir aus der römischen Geschichte lernen, dass bestimmte Moralvorstellungen und sexuelle Praktiken in der Gesellschaft nichts mit der Resilienz von politischen Strukturen zu tun haben.

„Dekadent“ und Normabweichung

Diesen Erkenntnissen zum Trotz haben rechtsgerichtete Kreise den Gegensatz von Dekadenz und Reinheit als Kulturkampfschema ausgegraben. Als dekadent, oder, aktueller ausgedrückt, als woke werden geschlechtliche Identitäten bezeichnet, die nicht in die vom Patriarchalismus vorgegebenen Normen passen. Damit wird klar, dass die Kritik an Trans-Identitäten den Dekadenzbegriff an den Patriarchalismus koppelt. Es handelt sich also bei dieser Richtung der Propaganda um eine Unterstützung der patriarchalen Ideologie. Mit diesem Werkzeug können Aufweichungen der bestehenden Geschlechtsrollen(-zuschreibungen) als dekadent gebrandmarkt werden. 

Das Wort dekadent kommt vom Lateinischen „decadere“, wörtlich herabfallen, niedergehen, verfallen oder herunterkommen. Es verweist auf einen kulturellen und/oder moralischen Standard, der höher ist, zum Vergleich mit einem niedrigeren Standard, und diese Abweichung ergibt dann die Bezeichnung dekadent. Im gegenständlichen Fall wird also behauptet, dass die Standards des Patriarchalismus höher zu werten sind als jene, die vom binären patriarchalen Schema abweichen. Eine verstärkte Toleranz für unterschiedliche sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten wird als Niedergang bewertet und nicht als Öffnung und Inklusion von unterschiedlichen Lebensentwürfen. 

Dekadenter Patriarchalismus

Wir können aber mit gutem Recht argumentieren, dass gerade der Patriarchalismus für eine längst überkommende Form der Moral steht, weil er die Gleichheit der Geschlechter verleugnet, und dass ein Beharren auf dieser Ideologie dekadent ist, weil es höhere moralische Standards gibt als jene, mit denen die Frauen grundsätzlich gegenüber den Männern abgewertet werden und es keinerlei Toleranz für das LBTQ+-Spektrum gibt. Eine Ideologie, in der die Misogynie einen Stammplatz einnimmt, kann auch gar keinen Spielraum für geschlechtliches Verhalten außerhalb des binären Schemas zulassen. 

Diese eingeengte und starre Sichtweise verfügt über keinerlei Merkmale, die sie für eine übergeordnete Position in einer Hierarchie von moralischen Urteilen und kulturellen Modellen qualifizieren würde. Sie bildet nur ein kleines Segment der sozialen Landschaft in modernen Gesellschaften ab, in denen die Produktivität der Menschen für die Erfordernisse des Kapitalismus im Vordergrund steht. Für das übermächtige Wirtschaftssystem sind die Fragen der Geschlechts- und Transidentität völlig belanglos. Selbst die patriarchalen Strukturen stellen Hindernisse für die Produktivität dar, und aus diesem Grund ist die Ideologie seit mindestens einem halben Jahrhundert beständig auf dem Rückzug.

Einzig die Rechtsparteien und die Autokraten (fast immer Männer) halten ihm noch die Stange. Immer wieder gelingt es ihnen, über Themen, die mit der Geschlechtlichkeit zu tun haben, Unsicherheiten zu verbreiten und damit an politischem Einfluss zu gewinnen. Widersprüche zwischen dem Modernisierungsdruck der Wirtschaft und einer patriarchalen Moralorientierung interessieren sie nicht, solange ihnen die Wähler zulaufen. Ebenso wenig nehmen sie zur Kenntnis, dass es primär die Biologie ist, die für Uneindeutigkeit in der Geschlechtlichkeit sorgt, und dass die betroffenen Personen selbst am meisten unter der Abweichung von der Norm leiden und viel dazu tun müssen, um damit zurechtzukommen. Es sind also Schicksale, die viel mit gesellschaftlicher Stigmatisierung und Selbstzweifeln zu tun haben und Mitgefühl und Unterstützung verdienen, statt dass die soziale Ausgrenzung mit boshaften und hasserfüllten Abwertungen verstärkt wird.

Zum Weiterlesen:
Geschlechtsidentität - genetisch - biologisch - sozial
Woke - ein Beispiel für kulturelle Aneignung
Identitätsideologie als Gefahr für die Demokratie
Muster der rechtsorientierten Propaganda


Donnerstag, 20. November 2025

Geschlechtsidentität genetisch - biologisch - sozial

Das mit dem Geschlecht ist einfach nicht so einfach wie es sich das einfache Gemüt vieler Einfacher, die nur normal denken wollen, vorstellt. Es gibt doch nur Männer und Frauen, das weiß man seit Menschengedenken. Dann kommt noch ein bisschen Bildung dazu: Das Y-Chromosom macht die Männer zu Männern, während das X-Chromosom die weiblichen Anlagen erhält. XX heißt also weiblich, XY männlich.

Das ist das „chromosomale Geschlecht“. Allerdings, und da wird die Bildungslage schon spärlicher, gibt es noch ein biologisches Geschlecht. Denn, genauer betrachtet, ist ein einziges Gen auf dem Y-Chromosom für das Geschlecht relevant. Das ist das SRY-Gen, das männlich assoziierte Gene aktiviert. Es ist also der primäre genetische Schalter für die männliche Geschlechtsentwicklung. Soweit so klar. 

Allerdings liebt die Biologie die Abweichungen mehr als die Regelmäßigkeit und hält sich nicht an unsere Bedürfnisse nach Einfachheit: Manchmal nämlich springt dieses SRY-Gen vom Y-Chromosom auf ein X-Chromosom. Diese Übertragung geschieht meistens während der Meiose, also während der Spermienbildung im Hoden des Vaters. Das Spermium bringt also diese Kombination zur Eizelle mit, was dann zu folgenden Konstellationen führt: Plötzlich gibt es da ein X mit einem SRY und ein Y ohne SRY. Was bedeutet das? Ein Y ohne SRY bedeutet, dass jemand körperlich weiblich, chromosomal männlich (XY) und genetisch weiblich (ohne SRY) ist. Ein X mit einem SRY bedeutet, dass jemand körperlich männlich, chromosomal weiblich (XX) und genetisch männlich (SRY) ist.

Wie schaut es dann mit den Hormonen aus? Schließlich sind es ja diese Botenstoffe, die die männlichen bzw. weiblichen Körperformen bis hin zu den geschlechtstypischen Gefühlslagen herstellen. Jemand ist dann ein hormoneller Mann, wenn er das „normale“ Maß an männlich assoziierten Hormonen produziert. Gleiches gilt für die Frauen. Allerdings verfügen nicht wenige Frauen über einen höheren Gehalt an „männlichen“ Hormonen als nicht wenige Männer, und wieder gilt das Gleiche für Männer mit mehr weiblich interpretierten Hormonen als viele Frauen. Es kann dann sein, dass ein Körper im Lauf der weiteren Entwicklung nicht genügend Hormone für das genetische Geschlecht entwickelt. Dann ist jemand genetisch männlich oder weiblich, chromosomal männlich oder weiblich, hormonell nicht binär und körperlich nicht binär.

Wenn es da schon keine Einfachheit gibt, hilft vielleicht noch der Blick auf die Zellen. Die Zellen verfügen über Rezeptoren, die die Signale der Sexualhormone zwar wahrnehmen, aber nicht immer darauf reagieren. Also nicht einmal dort finden wir zu klaren Zuordnungen, vielmehr wird es noch komplexer: Jemand kann genetisch männlich oder weiblich, chromosomal männlich oder weiblich, hormonell männlich / weiblich / nicht binär sein, mit Zellen, die die männlichen / weiblichen / nicht-binären Signale hören können oder nicht, und all dies führt zu einem Körper, der männlich / nicht binär / weiblich sein kann.

Je näher man hinschaut, desto komplexer wird die Situation und desto mehr Varianten gibt es. Dabei sind hier die sozialen Geschlechtszuschreibungen und Rollenbilder noch gar nicht erwähnt. In der Geschlechtsidentität eines jeden Menschen ist die ganze lange Geschichte des Patriarchats eingespeichert, mit all ihren Zwängen und oft gewaltsam durchgesetzten Normierungen.

Da es also mit dem biologischen und erst recht mit dem sozialen Geschlecht so kompliziert ist, sollten wir endlich damit aufhören, unsere Mitmenschen aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Geschlechtsidentität zu beurteilen oder gar zu diskriminieren. Wir sollten auch aufhören, diese Fragen zu politischen Kampf- und Streitthemen zu machen und mit ihnen Unsicherheit, Misstrauen und Gewaltbereitschaft zu verbreiten. Wir wissen ja nicht einmal über unsere eigenen Chromosomen oder über die Empfangsbereitschaft unserer Zellen genau Bescheid, geschweige denn wissen wir diesbezüglich etwas über die Menschen um uns herum. 

Also sollten wir uns nicht anmaßen, andere abwerten, die nicht einer „Norm“ entsprechen, einer Norm, die wir für selbstverständlich halten, ohne sie überprüft zu haben. Auch wenn die Biologie kompliziert ist, können wir ein freundliches  menschliches Verhalten mit Verständnis und Respekt wählen, das sollte ja nicht so kompliziert sein.

Zum Weiterlesen:
Das Reizthema LBTQ und der Patriarchalismus
Gendern und die Wunden des Patriarchalismus


Samstag, 15. November 2025

Gaben und Aufgaben

Was wir können, verdanken wir vielen Ursachen, die nicht in unserer Macht liegen. Die genetische Ausstattung, das familiäre Umfeld und die soziale Schicht, in die wir hineingeboren sind, die Anregungen und Bildungschancen, die wir erhalten haben, die Motivationsfaktoren, die wir entsprechend dieser Bedingungen entwickeln konnten, all das sind Faktoren, aus denen sich unsere Begabungen zusammensetzen und die nicht unserem Einfluss unterliegen. Unsere Begabungen sind Gaben, die uns geschenkt wurden, für die wir also Dankbarkeit schulden.  

Auch das, was wir aus unseren Begabungen machen – ob wir sie brach liegenlassen oder fördern, hängt von Kräften ab, die in uns angelegt sind. Denn selbst die Willensstärke und die Fähigkeit zur Disziplin sind nicht das Ergebnis von bewusst gesetzten Entscheidungen, sondern strukturelle Bedingungen in unserer Psyche, die bei Menschen ganz unterschiedlich ausgeprägt sind. Vielmehr sind die bewussten Entscheidungen durch diese Bedingungen vorbestimmt, und ihre Umsetzung hängt von Energien ab, die unsere Stoffwechselsysteme erst einmal hervorbringen müssen. Allenfalls sorgen wir für gute Rahmenbedingungen, aber auch dafür müssen wir eine hilfreiche Motivation aufbauen, die wieder von Umständen abhängig ist, die nur zum Teil von uns gesteuert werden können. 

Wenn wir den berechtigten Stolz über die eigenen Leistungen und Errungenschaften ein wenig zurückstellen, müssen wir einbekennen, dass unser Tun viel mehr von fremden, äußeren wie inneren Triebkräften gesteuert wird als wir gemeinhin annehmen. Wir haben viel mehr bekommen als das, was wir daraus gemacht haben. Denn jedes Machen beruht auf Bekommenem. 

Toleranz für die Fehler der anderen 

Wir entwickeln mit solchen Einsichten auch mehr Verständnis und Toleranz für die Fehlerhaftigkeit unserer Mitmenschen. Auch sie handeln, wenn sie Unrecht begehen oder Böses tun, überhaupt nicht oder nur zum Teil aus böser Absicht. In wesentlichen Bereichen sind sie der Spielball von inneren Kräften, die sie nur zu einem geringen Teil kontrollieren können. Das heißt nicht, dass wir Böses verharmlosen oder einfach entschuldigen sollten. Böse Handlungen sollen Konsequenzen nach sich ziehen, damit sie nicht wiederholt werden und andere Menschen schädigen. Aber wir brauchen andererseits die Täterperson als Person nicht abwerten, sondern sollten ihr weiterhin eine grundsätzliche Achtung entgegenbringen, die wir für uns selbst erwarten. 

Wir haben mit diesen Einsichten auch keine Ausreden für unsere eigenen Handlungen, wenn deutlich wird, dass sie schädigende Einflüsse auf andere ausüben. Es gilt nicht, dann zu sagen, ja, aufgrund meiner schweren Kindheit oder aufgrund meiner mangelhaften Gene kann ich nicht anders, und das sollten gefälligst alle verstehen. Vielmehr müssen wir Verantwortung für unser Tun übernehmen, auch wenn es nur zum Teil unserer bewussten Kontrolle unterliegt, ebenso wie wir den anderen die Verantwortung für ihr Tun zumuten. Anders kann eine Gesellschaft nicht funktionieren, denn nur aus der Verantwortungsübernahme für die eigenen Fehler resultiert eine mögliche Verhaltensänderung. Wir sind lernfähig, doch nur, wenn wir für unsere Fehler einstehen. 

Gaben sind Gegebenes 

Gaben sind Gegebenes, und den Dank für das Gegebene leisten wir am besten, indem wir aus der Gabe eine Aufgabe machen. Unsere Gaben haben wir zu dem Zweck, das eigene Leben und das unserer Mitmenschen zu bereichern. Wer die Gabe hat, gute Speisen zubereiten zu können, macht sie zu einer Aufgabe, wenn er ein Festessen für andere kocht. Wer eine gute Hand für Blumen hat, gestaltet einen Garten, an dem sich andere erfreuen können.  

Von der Gabe zur Aufgabe 

Gaben, die wir in Aufgaben umwandeln können, geben unserem Leben einen immanenten Sinn. Wenn wir spüren können, dass dieses Tun, das uns aufgrund unserer Gaben gelingt, andere Menschen beglücken kann, dann haben wir unsere Aufgabe erkannt und es fällt uns leicht, sie auszuüben und zu verbessern. Die Verbindung von Gabe und Aufgabe führt zu dem, was als Flow bezeichnet wird, als das Erleben des Fließens, in dem das Ich zurücktritt und das Tun wie von selbst vonstattengeht. 

Sobald sich ein von außen auferlegtes Müssen in die Aufgabe einmischt, verliert sie ihren Zauber und ihre immanente Kraft. Das Fließen kann nur von innen kommen, aus einer Übereinstimmung des Wollens und des Könnens. Es ist das innere Wesen, das nach außen drängt, um in der Welt Gestalt anzunehmen. 

Wir können diese Aufgabe auch als unsere Berufung erleben. In der Berufung steckt ein Ruf, der von einer höheren Instanz kommt, die uns daran erinnert, was unser Beitrag ist, den zu leisten wir gerufen werden. Berufung ist eine Botschaft, die wir mit einer besonderen Klarheit übernehmen, verbunden mit dem Gefühl, einen einzigartigen Beitrag zur Welt zu leisten. Es ist ein Beitrag, den nur wir selbst in dieser Weise einbringen können. Etwas, das aus der Individualität unseres Wesens fließt, kann niemand anderer so zuwege bringen wie wir selbst. Und wenn wir es nicht tun, bleibt es ungetan, und dann fehlt dieses Stück in dem riesigen bunten Teppich der Welt.  

Das Finden der Berufung 

Manche wissen ganz genau, was ihre Aufgabe und was ihr Auftrag ist, manche tun genau das, ohne zu wissen, dass sie damit ihre Individualität verwirklichen, und manche tun sich schwer zu finden, wo ihre Berufung liegt. Die eigene Aufgabe nicht identifizieren können, ist oft Anlass für Sinnkrisen oder Selbstzweifeln. Und umgekehrt, ist es die Neigung zu Selbstzweifeln, die das Finden der Berufung erschweren. Sie müssen überwunden werden, damit sich der Sinn des eigenen Lebens in Form der genuinen Aufgabe zeigen kann. Es kann auch sein, dass der Ruf überhört wurde, dass er im Getriebe des Alltags untergegangen ist. Denn der Ruf kommt aus der Stille, er wird im Verweilen hörbar, im Heraustreten aus der Hektik. 

Dienlich ist der Blick auf das, was jemand gerne in einer gestalterischen Weise macht, um eine Spur zur Berufung zu finden. Welche Gaben habe ich bekommen, was sind die Fähigkeiten, die mich auszeichnen? Es kann dabei hilfreich sein, die Unterstützung anderer in Anspruch zu nehmen, um den Ruf zu hören und damit einen wichtigen Teil des Lebenssinns zu gewinnen.  

Es ist dabei zweitrangig, ob die Ergebnisse des kreativen Selbstausdrucks bestimmten Maßstäben genügen. Solche Bewertungen sind immer willkürlich ausgewählt; oft wählen wir Maßstäbe, die gar nicht mit unserer Berufung zusammenpassen, sondern von anderen entlehnt sind. Wichtig ist nur die Selbstbewertung, die aus der Übereinstimmung der eigenen Ansprüche und der eigenen Fähigkeiten stammt.  

Deshalb sollte das Ausmaß an Anerkennung, das von anderen kommt, kein absolutes Kriterium für die Bewertung der eigenen Ausdruckskraft sein. Maßgeblich ist das eigene schöpferische Gefühl, der eigene Schaffensdrang, der sich in dem Werk Bahn bricht, um es der Welt zu gebären und ihr ein neues Kind zu schenken. Das Universum wird die Anerkennung geben, die jedem Beitrag zu seiner Bereicherung und Verschönerung gebührt. 

Zum Weiterlesen:
Ego-Bestätigung und Berufung

Freitag, 24. Oktober 2025

Atemerfahrung und Fremdenangst

Die Angst vor dem Fremden ist tief in den Menschen verwurzelt und stammt aus der tribalen Zeit. Fremde sind potenzielle Feinde. Deshalb ist Vorsicht mit allen geboten, die wir persönlich nicht kennen. So ist eine Prägung beschaffen, die durch das Oxytocin-Hormon* verstärkt wird. Solche tribalen Prägungen spielen eine Rolle in der frühen Kindheit und werden dann im Lauf des Aufwachsens schwächer. Kinder, deren Selbstvertrauen durch eine liebevolle Fürsorge gestärkt wurde, können dieses Misstrauen gegen das Fremde mit Neugier und Interesse am Fremden überschreiben. Sie entwickeln eine Haltung, mit der sie nicht von vornherein misstrauisch sind, wenn sie unbekannten Menschen begegnen. Nur ängstliche Menschen mit geringem Selbstwert bleiben bei dieser Angst und lassen sich dann als Erwachsene von Propaganda anstecken, die die Fremdenangst schürt.

Was sie dabei nicht bedenken, ist die Tatsache, dass wir als Menschen in einem beständigen Austausch mit dem Fremden leben und anders gar nicht überleben könnten. Am einfachsten zu verstehen ist dieser Zusammenhang, wenn wir an die Nahrungsaufnahme denken. Die Stoffe, die wir dabei aufnehmen, sind fremde Objekte, denen wir auf Grund von unseren Erfahrungen trauen. Indem wir sie essen, machen wir sie zu unserem Eigenen, um die Reste dann wieder auszuscheiden und zum Fremden, Ekelhaften machen. Ohne fremde Nahrungsmittel sind wir zum Hungertod verurteilt. 

Der Organismus und das Fremde

Noch elementarer als Stoffwechsel ist die Atmung. Wir nehmen in jeden Tag 10 000 bis 20 000 Liter Luft auf, fremde Luft, der wir den Sauerstoff entnehmen und in unser Inneres überführen. Damit wird die Atemluft zur eigenen Luft. Beim Ausatmen geben wir sie wieder zurück, mit weniger Sauerstoff und mehr Kohlendioxid. In jedem Atemzug wird Fremdes zum Eigenen und Eigenes wieder zum Fremden. All der Sauerstoff, der in unserem Kreislauf unterwegs ist, war in fremder Luft enthalten. Ohne diese fremde Luft würden wir schnell ersticken.

Eine weitere Tatsache, die in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt, besteht in all den fremden Organismen, die in unserem Körper leben. Die Zahl der im Körper lebenden Mikroben ist mindestens so groß wie die der Zellen mit der eigenen DNA. Ohne diese winzigen Lebewesen, die vor allem im Darm das Mikrobiom bilden, könnten wir keine Nahrung verdauen. Auf unserer Haut sorgen Bakterien dafür, Krankheitserreger abzuwehren. Auf der Zunge leben an die 9000 verschiedene Stämme von Bakterien. Unser Organismus ist also ein Kohabitat zwischen eigenen und fremden Zellen, von denen viele wie Parasiten leben. Ohne sie könnten wir nicht lange überleben. Es gibt natürlich auch Fremdzellen, Viren, Bakterien, Pilze, die Schaden anrichten und von unserem Immunsystem eliminiert werden müssen. 

Aus all diesen Überlegungen können wir viel über einen sinnvollen Umgang mit dem Fremden lernen. Das Fremde ist zunächst nur etwas, das wir noch nicht kennen. Selbst wenn unsere erste spontane Reaktion ablehnend ist, können wir auf den zweiten Blick andere Informationen sammeln, die unsere Sichtweise ausweiten und unser Misstrauen beruhigen.

Wenn in der politischen Propaganda der Begriff „Parasit“ verwendet wird, um Angst vor einer Überfremdung zu schüren, können wir an die Mikroorganismen denken, die in uns leben, von uns und für uns. Wenn wir also fremde Menschen in unser Land oder in unsere Umgebung aufnehmen, brauchen wir nur darauf zu achten, dass es ein ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen gibt, von dem beide Seiten profitieren. 

Das Fremde in uns

Ein weiterer Bereich, in dem wir es mit dem Fremden zu tun haben, ist unser Unterbewusstsein. Dort gibt es verdrängte Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche. Sie sind unserem Ich-Bewusstsein fremd und gehören doch zu uns, denn sie sind in uns entstanden und gehören zu den Überlebensstrategien, die wir im Lauf unserer Geschichte ausgebildet haben. Sie gehören zum Schattenbereich unserer Seele, solange wir sie nicht in unser Bewusstsein holen. Sie sind uns fremd und sind von Abwehrgefühlen bewacht. Indem wir sie uns bewusst machen, verwandeln wir sie in Persönlichkeitsanteile, die wir nach Belieben nutzen können. In den Begriffen der Psychoanalyse wird aus dem, was zum „Es“ gehört hat, „Ich“. Etwas Fremdes wird zum Eigenen, etwas Bedrohliches zum Vertrauten, und damit wächst der Spielraum für den Ausdruck unserer Freiheit. Jeder integrierte Anteil unserer Persönlichkeit, also jeder Aspekt, der vom Fremden zum Eigenen wurde, führt uns zu unserer Ganzheit.

Die Durchlässigkeit für das Fremde

In all diesen Beispielen sehen wir, dass das Überschreiten der Grenzen zum Fremden ein Grundprinzip des Lebens ist. Im fließenden Austausch von Geben und Nehmen verschwindet die jeweilige Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Diese Form des Austausches findet beständig in unserem Körper statt und hält uns gesund. Eigenes wird zum Fremden, Fremdes wird zum Eigenen. Das Eigene ist Resultat des Fremden, das Fremde kommt aus dem Eigenen. Wir sind auf vielen Ebenen durchlässig für das Fremde, das dadurch zum Eigenen wird. Wir sind also gleichermaßen Fremdes wie Eigenes. Der Unterschied hebt sich auf, in jedem Moment, in dem wir atmen oder in anderer Weise stoffwechseln.

Die Angst vor uns selbst

Hier kommen wir zurück zum Anfang des Artikels. Wir können jetzt vielleicht besser verstehen, dass unsere Angst vor dem Fremden nichts als die Angst vor uns selbst ist. Das Fremde, dem wir im Außen begegnen, spiegelt unsere eigenen ungelebten oder verdrängten Anteile wider. Das, was uns Misstrauen bereitet, ist ein Persönlichkeitsanteil, den wir uns noch nicht bewusst gemacht haben. Was uns bei fremden Menschen Angst macht, ist eigentlich etwas, das uns in uns selbst ängstigt. Sobald wir diese Angst ins Licht geholt und verstanden haben, fällt die Angst im Außen weg und wir gehen leichter und vertrauensvoller durchs Leben.

Vertrauen oder Naivität

Den Menschen, denen wir begegnen, Vertrauen entgegenzubringen, heißt nicht, dass wir naiver Weise meinen, alle Menschen meinten es gut mit uns. Wenn wir angstfrei auf sie zugehen, stehen uns alle unsere Fähigkeiten zur Verfügung, die uns darauf aufmerksam machen, sobald andere versuchen, uns zu manipulieren oder anderswie zu schaden. Je weniger Angst wir haben, desto besser sind wir mit unseren Potenzialen verbunden und können sie nutzen, um uns dort zu schützen, wo es wirklich notwendig ist, damit wir keinen Schaden erleiden.

Das Atmen lehrt uns, dass Leben nur im Austausch gelingt – indem wir atmen, leben wir vom Fremden und lebt das Fremde von uns.

Hier zur Studie über Oxytocin und Fremdenangst

Zum Weiterlesen:
Die Solidaritätsschranke
Die Schwachen und die Nächstenliebe
Pränatale Wurzeln der Fremdenangst

Samstag, 18. Oktober 2025

Reflektierte Radikalität

Junge Menschen haben immer wieder in der neueren Geschichte gesellschaftliche Veränderungen vorangetrieben. Mit einem feineren Sensorium als die „etablierte“ Erwachsenengeneration spüren sie die Ungerechtigkeiten und Verlogenheiten im „System“ viel deutlicher. Sie vertreten einen hohen moralischen Anspruch, und daraus leitet sich bei vielen Jugendlichen das Gefühl ab, etwas tun zu müssen, um die unerträglichen Zustände zu verbessern. 

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand im deutschsprachigen Gebiet eine Jugendbewegung, die sich als Reaktion auf die Verstädterung und Industrialisierung verstand und unter dem Stichwort „Wandervogel“ das Naturerleben propagierte. Nach dem 1. Weltkrieg politisierten sich diese Bewegungen, teils in die pazifistische, teils in die militaristische Richtung. Die letztere mündete dann in die Hitler-Jugend im Nationalsozialismus. Daneben hatte es Jugendorganisationen der Kirchen und der sozialistischen Parteien gegeben, die dann alle verboten wurden.

Nach dem 2. Weltkrieg entstanden vielfältige Subkulturen, die sich vor allem über Mode- und Musikstile definierten – Rock’n’Roll, Pop, Hippie-Bewegung usw. Die 68er-Bewegung war andererseits eine stark politisch ausgerichtete Bewegung, die sich in den USA gegen den Vietnamkrieg und in Deutschland gegen die Versäumnisse in der Entnazifizierung einsetzte. Diese Strömungen waren durch eine Protesthaltung miteinander verknüpft, die sich gegen die bestehenden Normen und Regeln richtete. Die pubertäre Auflehnung gegen die Eltern wurde auf die Autoritäten in den Institutionen übertragen. Die Wut fand ihre Objekte in der Unglaubwürdigkeit der Mächtigen und in der Ignoranz für das Unrecht und die Benachteiligung der Schwächeren. Während weite Bereiche der Protestbewegungen von den Ideen des gewaltfreien Widerstandes beeinflusst waren, gab es an den Rändern auch gewaltbereite Gruppen. 

Die Radikalität dieser Bewegungen speiste sich aus dem Impuls, in einer „falschen Gesellschaft“ zu leben. Radikal bedeutet, von Grund auf Neues zu erschaffen, sich also nicht mit kosmetischen Veränderungen zufriedengeben. Gemäß dem berühmten Diktum von Theodor W. Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen,“ machte es keinen Sinn, das Wirtschaftssystem zu reformieren, es müsste von der Wurzel aus, also radikal neu gestaltet werden. 

Diese Radikalität, dass alles umgestürzt werden muss, ist Teil des uralten adoleszenten Vorstoßes, das Alte über den Haufen zu werfen und etwas ganz Neues an seine Stelle zu setzen. Es ist der Impuls, der die Gesellschaft immer wieder erneuert hat, der Impuls, der jede Form von Fortschritt auf den Weg gebracht hat. Ohne diesen Impuls wäre die Menschheitsentwicklung nie weitergekommen und an ihren eigenen Widersprüchen kollabiert. Ohne neue Ideen ist kein menschliches System überlebensfähig. Da die Widerstände der alten Ordnungen mächtig sind, müssen die Jungen radikal sein, um notwendige Veränderungen durchsetzen zu können.

Mit dem Fortschreiten des Liberalkapitalismus in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts verschwanden die Jugendproteste, offenbar hatten die jungen Leute genug zu tun, ihre berufliche Existenz aufzubauen. Speziell in den 90er Jahren, nach der Auflösung des Sowjetimperiums, schien der Liberalismus auf allen Fronten im Vormarsch und entsprach in seinem Fortschrittsbewusstsein den Idealen der Jugend. Erst die Zunahme des Bewusstseins über die fortschreitende Erderwärmung rief die jugendlichen Protestierer wieder auf den Plan. 

Wieder stießen und stoßen sie auf die Gleichgültigkeit der Bürger, der in ihrer Normalität nicht gestört werden wollen. Die Macht des Faktischen ist so stark auf der Seite der Protestierer wie wohl nie zuvor – es ist allseits bekannt und dokumentiert, dass die Klimasituation jeder Kontrolle entglitten ist und die halbherzigen Maßnahmen die Erwärmung allenfalls ein wenig gebremst haben. Das einzige, was wir nicht wissen, wie schlimm die Auswirkungen sein werden. Die Ohnmacht gegenüber der bequemen oder saturierten Mehrheit, das Gegenüber jeder Protestbewegung, stachelt noch mehr zum Engagement an, hinter dem aber immer auch ein Stück Verzweiflung steckt.

Die Pathologie oder der Wahnsinn der Normalität ist das Schwergewicht, das sich gegen Fortschritt und Verantwortung stellt. Sie ist Teil von jedem Menschen, weil niemand ganzzeitig Revolutionär sein kann und sie bildet ein kollektives Feld, das von politischen Parteien gefördert wird, die sich das Motto überstülpen, für „den kleinen Mann“ oder für die „normalen Bürger“ zu sein. In Wirklichkeit heißt das, dass sie die Menschen darin unterstützen wollen, die Augen vor notwendigen Veränderungen zu verschließen, die ja auch dazu führen müssten, dass die Machtbasis dieser Parteien geschmälert wird.

Der Furor der Revoluzzer hat seine Schattenseite in der Verachtung der „Normalos“, derjenigen, die den notwendigen Wandel durch ihre Gleichgültigkeit und Schwerfälligkeit torpedieren. Die Dynamik zwischen Verachtung und Verweigerung hemmt den Erneuerungsprozess. Zwischen beiden Extremen gibt es die Pragmatiker, die wissen, dass eine totale Umkrempelung des Systems nicht geht, aber Schritte zur Erneuerung unterstützen. Wenn es den radikalen Protestierern gelingt, diese breite Gruppe für sich einzunehmen und zu motivieren, können sinnvolle Reformen stattfinden. Die Radikalität ist dann erfolgreich, wenn sie reflektiert ist, d.h. wenn sie auch die Grenzen ihres Engagements akzeptieren kann und bereit ist, ihre Ziele zu überprüfen, falls sie sich als unrichtig oder unzureichend herausstellen. 

Unreflektiertes Engagement besteht in der blinden Umsetzung von Ideologien. Es dient deshalb nur einseitigen Interessen und behindert damit einen sinnvollen und lösungsorientierten Fortschritt in der Gesellschaft. Die Wut ist nur zerstörerisch, wenn sie sich ihrer Ziele nicht bewusst ist und die Umstände der Verwirklichung der Ziele nicht in Betracht zieht. Kanalisierte und umsichtige Wut hingegen kann als „heiliger Zorn“ ungerechte Strukturen und korrupte Machenschaften umstürzen. Wir brauchen also mehr reflektierte Radikalität und heiligen Zorn, denn Veränderungen vor allem zur Überlebenssicherung der Menschheit sind dringend notwendig.

Zum Weiterlesen:
Die Erweiterung der Grenzen der Normalität
Kollektive Traumen und ihre missglückte Bewältigung

Donnerstag, 9. Oktober 2025

Parteilichkeit und Allparteilichkeit

Manchmal ist die Aussage zu hören: Man darf nicht Partei ergreifen in einem Konflikt, sonst wird man gleich Teil des Konflikts. Im Grund sind alle Seiten gleichermaßen an einem Konflikt beteiligt. Der einzige sinnvolle Standpunkt ist außerhalb des Konflikts, von dort aus kann dann niemand verurteilt werden. 

So weise diese Sichtweise klingt, so hohl ist sie als Forderung in der Praxis. Denn sie geht von einer wertungsfreien Position aus, die es nicht gibt. Wir können nicht nicht bewerten, wenn es um einen Konflikt geht, der uns emotional bewegt. Die Bewertung wird von unserem Unbewussten vorgenommen, ob wir es wollen oder nicht. Wir können uns die Bewertung bewusst machen, indem wir den Gefühlen nachspüren, die wir den Konfliktparteien gegenüber fühlen. Meistens wird es so sein, dass uns eine Konfliktpartei sympathischer ist und wir sie eher in der Opferrolle sehen. 

Das Bewusstmachen der Wertungen, die unser Unterbewusstsein vornimmt, kann uns in der Folge dazu führen, dass wir zu einer wertungsfreien Position gelangen, ohne dass dadurch die Wertungen in unserer Emotionalwelt verschwinden. Wir nehmen eine übergeordnete Sichtweise ein, durch die wir die Triebkräfte aller Konfliktparteien besser verstehen können und dann vielleicht Empathie mit allen, die im Konflikt involviert sind, empfinden. Allerdings enthebt uns diese Perspektive nicht von der Pflicht, Stellung zu beziehen, wenn im Konflikt Dynamiken im Gang sind, die die Menschlichkeit bedrohen.

Jeder Konflikt betrifft uns

Im Grund geht unser jeder Konflikt, der besteht, etwas an. Wir haben etwas damit zu tun, weil wir eben Teil der Menschheitsfamilie sind, und Spannungen in dieser Familie erzeugen auch bei uns Spannungen. Natürlich haben wir keine direkten Bezüge zu den allermeisten Konflikten in dieser riesigen Familie. Aber vor allem größere Auseinandersetzungen, die viele Opfer fordern, betreffen uns, sobald wir davon erfahren, selbst wenn wir weit vom Geschehen sind und persönlich nicht eingreifen können. Denn es ist menschliches Leid, das verursacht wird und das ein Ärgernis für das Menschheitsgewissen darstellt. Es darf uns nicht gleichgültig lassen, wenn Menschen gefoltert, vergewaltigt und umgebracht werden. Denn die Gleichgültigkeit gegenüber Leid lässt uns zum Teil der Unmenschlichkeit werden. Auch wenn es nicht in unserer Macht steht, das Leid zu lindern oder die Ursachen des Leides zu beseitigen, sind wir betroffen, denn es sind unsere Brüder und Schwestern, die ins Unglück gestoßen oder getötet werden.

Ausreden

Selbst die Rationalisierungen, mit denen wir unser Betroffensein wegwischen wollen, sind unmenschlich. Wir erfinden Gründe, warum wir nichts zu tun haben mit den Bösewichtern dieser Welt und ihren Untaten oder dass die Leidenden an ihrem Unglück schuld sind oder dass wir genug mit unserem eigenen Leben mit seinen kleinen Konflikten beschäftigt sind. Mit solchen Versuchen, uns vom Mitgefühl zu distanzieren, schneiden wir uns von dem Teil in uns ab, der weiß, was menschlich und was unmenschlich ist.

Parteinahme verengt den Blick

Bei jeder unbewusst vorgenommenen Parteinahme für eine Konfliktpartei werden Aspekte unterschlagen, sodass die Konfliktlage verzerrt erscheint. Aber wenn unser immer vorläufiges Urteil darüber klar, wer im Konflikt der Täter und wer das Opfer ist, dann müssen wir Partei ergreifen, um den Tätern eine Grenze zu setzen. Sie dürfen nicht einfach so weitermachen und noch mehr Opfer produzieren. 

Allparteilichkeit ist zwar eine Tugend, die Gruppenleiter, Konfliktmoderatoren oder Friedensstifter brauchen. Aber außerhalb dieser Rollen hat sie keinen Nutzen dort, wo Unrecht geschieht und dadurch Leid verursacht wird. Hier muss Stellung bezogen werden, sodass die Täter zur Verantwortung gezogen werden können. Sich in solchen Situationen das Mäntelchen der Allparteilichkeit überzuhängen, ist billig und feig. Wir müssen und können nicht immer mutig sein, es sollte uns aber bewusst sein, dass wir auch die Überparteilichkeit als Ausrede und Rechtfertigung missbrauchen können. 

Die Parteilichkeit enthält die Chance, Gleichgesinnte um sich zu scharen, trägt aber auch das Risiko, sich Feinde zu schaffen. Das mutige Eintreten für die Gerechtigkeit und Menschlichkeit gefällt nicht allen, vor allem jenen nicht, die von Ungerechtigkeit profitieren. Es ist besser, Feinde zu haben als die Wahrheit und die Ethik zu verraten. 

Die Grenzen der Parteilichkeit

Die Toleranz muss dort ihre Grenze haben, wo sie selbst angegriffen wird, es darf also keine Toleranz für die Feinde der Toleranz geben. Die Allparteilichkeit hat dort ihre Grenze, wo sie auf gewaltbereite und intolerante Parteilichkeit stößt. Sobald an den Fundamenten der Menschlichkeit und an den Grundrechten gesägt wird, muss Widerstand geleistet werden. Die Sichtweise der Allparteilichkeit hilft dabei, das Menschliche in den Gegnern und Feinden zu sehen, aber nicht dabei, ihnen notwendige Grenzen zu setzen.

Zum Weiterlesen:
Toleranz und ihre zweifache Grenze
Toleranz ist ein relativer Wert
Die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen
Identitätsideologie als Gefahr für die Demokratie
Über die Notwendigkeit und die Grenzen der Parteinahme


Dienstag, 7. Oktober 2025

Die rhetorische Ablenkung – der Whataboutismus

Eine beliebte Masche in Debatten besteht darin, auf Kritik und Vorwürfe mit Ablenkungen zu reagieren. Leute, die diese Taktik verwenden, gehen nicht auf die Kritik ein, die ihnen entgegengebracht wird, sondern lenken sofort um auf Gegenkritik, um ihre Position zu schützen. Mit dem Gegenangriff wollen sie den Kritiker bloßstellen und sich selbst in die übergeordnete Position versetzen. Die moralische Schuld für das eigene Tun wird auf die andere Person abgewälzt, die eigene Verantwortung wird beiseitegeschoben und der anderen Person angelastet. Der Kritiker wird herabgesetzt, als jemand, der mit zweierlei Maß misst, und als Heuchler und oft sogar als Lügner verunglimpft. Durch die Abwertung sollte er als jemand dargestellt werden, der kein Recht hat, Kritik zu üben, weil er selbst ein schlechter Mensch ist. 

Der Begriff des „Whataboutismus“ wurde ursprünglich im Nordirlandkrieg geprägt: Republikaner wurden auf ihre Gewalt hingewiesen und reagierten sofort mit dem Gewaltvorwurf an die Loyalisten und an die englischen Truppen und umgekehrt. Niemand kehrte vor der eigenen Tür, sondern wies auf den Dreck vor der Tür des anderen hin. Es wurde dann deutlich, dass die Sowjetpropaganda dieses Argumentationsmuster häufig verwendete. Wenn westliche Politiker oder Journalisten auf die Menschrechtsverletzungen in der Sowjetunion hinwiesen, lautete der Konter: „Und was ist mit der Rassendiskriminierung in den USA? Was ist mit den Kolonialverbrechen der Westmächte?“ Diskussionen zum Gazakrieg verlaufen kaum ohne die Ablenkungsstrategie: 8. Oktober gegen Genozid, mit diesen Begriffen werden die Schuld und die Verantwortung hin- und her geschoben. J.D. Vance hat bei seiner Rede vor der Sicherheitskonferenz in München u.a. behauptet, europäische demokratische Institutionen würden die freie Meinungsäußerung untergraben, während seine Regierung alles tut, um die Meinungsfreiheit in den USA zu beschränken. Er hat auch die hohen Zahlen von im Ausland geborenen Einwanderern in den EU-Ländern kritisiert, während die US-Bevölkerung außer den Ureinwohnern zur Gänze aus Migranten besteht.

Das Du-aber-auch-Argument

In der Rhetorik wird diese Argumentationsfigur auch als „Tu-quoque-Fehlschluss“ bezeichnet, der eine Variante des „Ad-hominem-Arguments“ darstellt, also das Umlenken einer Kritik auf die Person des Kritikers. Die Aufmerksamkeit des Publikums soll vom kritisierten Inhalt auf die Person des Kritikers verschoben werden, die auch Dreck am Stecken habe. Auf diese Weise soll der Kritiker als unglaubwürdig und unmoralisch hingestellt werden.

Innerpsychisch erleichtert der Whataboutismus das Umgehen mit der kognitiven Dissonanz, die durch jede Kritik entsteht. Denn sie weist auf einen Unterschied zwischen dem eigenen Tun und den eigenen ethischen Maßstäben hin. Sie ruft ein Schamgefühl hervor, das durch den Gegenangriff abgeschwächt wird. Der Selbstwert wird stabilisiert, indem eine überlegene Position eingenommen wird: Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist viel schlimmer als ich.

Systematische Kritikabwehr

Autoritäre Regime setzen diese Strategie systematisch ein, um Kritik langfristig zu unterbinden: Es wird nie auf den Kritikpunkt eingegangen, sondern sofort der Kritiker als Person abgewertet und unter Umständen gleich verhaftet. Damit soll zumindest erreicht werden, dass das Publikum zu der Meinung kommt, es haben sowieso alle, die den Mund aufmachen, moralische Mängel, sodass es egal ist, wer an der Spitze ist. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Politik erzeugt in der Demokratie ein Machtvakuum, das sich die rechten Gruppierungen aneignen und mit ihren Inhalten füllen, die sie gekonnt vor jeder Kritik abschotten. Es finden keine konstruktiven Auseinandersetzungen mehr statt, damit die Leute den Eindruck kriegen: Politiker streiten sowieso nur, sodass sie sich selbst in die Privatheit verkriechen. Die Arena ist frei für gerissene Machtpolitiker, die keine Rücksicht auf die öffentliche Meinung mehr nehmen müssen, weil es eine solche nicht mehr gibt.

Diskurszerstörung

Die Demokratie ist von Diskursen zur Willensbildung abhängig, die in einer Atmosphäre von gegenseitigem Respekt  stattfinden sollen. Spielt eine Seite nicht mehr mit, indem sie sich aus vernunftgeleiteten Diskursen zurückzieht, so wird sie zunächst ausgegrenzt. Damit kriegt sie die Unterstützung von allen anderen, die sich in irgendeiner Weise ausgegrenzt fühlen, und bekommt einen Zulauf, ohne ihre programmatischen Forderungen im kritischen Diskurs bewähren zu müssen.

Die Demokratie wird mit diesen Taktiken systematisch geschwächt und ausgehöhlt, und sobald solche nicht diskursfähigen Parteien an der Macht sind, tun sie alles, was in ihrer Macht steht, um die Diskurse weiter zu unterbinden. Die Medien werden unter staatliche Kontrolle genommen und auf Regierungslinie gebracht, die Gegner werden abgewertet, lächerlich gemacht und schließlich verfolgt, und die eigene Wählerschaft wird mit Zuckerln beschenkt. Die Bevölkerung wird mit Propaganda überschüttet, bis sie in der politischen Gleichgültigkeit und Resignation versinkt. 

Logischerweise gedeiht in Systemen, in denen die kritischen Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt werden, die Korruption. Die Machthaber bereichern sich nach Strich und Faden, wie es der gegenwärtige Präsident der USA vormacht und jener von Russland seit 25 Jahren praktiziert. Mit der Verweigerung des kritischen Diskurses durch konsequenten Whataboutismus beginnt die Entwicklung zur Beseitigung der Demokratie, im totalitären autokratischen Staat ohne Menschen- und Bürgerrechte endet sie. 

Zum Weiterlesen:
Die rechte Rhetorik - perfide und zugleich simpel
Wird die Demokratie von Manipulatoren gekidnappt?
Kriegsverbrechen und Schamverdrängung


Mittwoch, 1. Oktober 2025

Fundamentalistische Religion und die Korruption der Moral

Das Christentum und die Erweiterung der Ethik

Im vorigen Blogartikel war die Rede vom wichtigen Schritt von einer emotionsgeleiteten Moral zu einer vernunftbestimmten Ethik. Diese Entwicklung wurde von vielen Philosophen, beginnend schon in der griechischen Antike vorbereitet und erreichte dann im Zug der Aufklärung eine breitere Basis. 

Im westlichen Bereich spielte auch die christliche Religion eine Vorreiterrolle, indem sie die Idee der Nächstenliebe in den Vordergrund rückte und auf die Schwächeren und Benachteiligten in der Gesellschaft ausweitete. Damit forderte sie ein Überschreiten der tribalen, auf Emotionen beruhenden Moral zu einer erweiterten und verallgemeinerten Form der Empathie.

In diesem Zusammenhang stellte das Glauben die Kraft zum moralischen Fortschritt bereit. Die Menschen sollten sich einer höheren Wesenheit anvertrauen, von der die Botschaft kommt, dass allen Menschen gleichermaßen Respekt und Achtung gezollt werden soll. Der Glaube an die Führung durch eine höhere Instanz kann zu Einstellungen motivieren, die durch die ererbten Gefühlsmuster nicht zugänglich sind.

Die Aufklärung und die Vermenschlichung der Ethik

In der Aufklärung hat die Vernunft in vielen Bereichen den religiösen Glauben abgelöst; die Menschheit war zumindest in Teilen bereit, Verantwortung für eine weiter gefasste Form der Ethik zu übernehmen, die kraft ihrer Vernunft nachvollzogen werden konnte. In der Folge gelang es, Forderungen aus dieser Ethik in die Gesetzeswirklichkeit und ins allgemeine Moralbewusstsein zu übertragen. So wurde z.B. das allgemeine Wahlrecht eingeführt, die Sklaverei abgeschafft, Frauen gleichgestellt und Minderheitenrechte für ethnische Gruppen, sexuelle Orientierungen und Asylrechte festgeschrieben. Das waren große Fortschritte in der Ethik, die von vielen Menschen unterstützt wurden und den Betroffenen mehr Sicherheit und Lebenschancen gaben.

Der Anachronismus von fundamentalistischen Glaubensrichtungen

Nach der Aufklärung können nur Formen des Glaubens und der Religion, die sich mit der Aufklärung auseinandergesetzt haben, eine Funktion für den Fortschritt der Gesellschaft übernehmen. Andere Glaubensformen, in denen sich z.B. unbewusste Ängste und Schamgefühle widerspiegeln, geraten in Widerspruch zur Weiterentwicklung und damit zur gesellschaftlichen Realität. Sie bremsen also diese Humanisierung der Weltgesellschaft oder bekämpfen sie sogar, um Privilegien zu verteidigen.

Das Festklammern an den Buchstaben der göttlichen Botschaften, wie es von fundamentalistischen Glaubensrichtungen gepredigt wird (ein Anhänger war auch Charlie Kirk), ist nicht Ausdruck eines Glaubens, sondern eines ängstlichen Misstrauens in eine Welt, die als bedrohlich erlebt wird, aufgeladen von Angst schürender Propaganda. Nur die göttliche Leitung kann aus diesen Ängsten herausführen, und sie ist aus den Texten nur dann ablesbar, wenn sie wortwörtlich genommen werden. Es führt zu viel zu viel Unsicherheit, wenn noch in Betracht gezogen wird, dass die Texte von historischen Personen verfasst wurden, die in den Kategorien ihrer Zeit gedacht und geschrieben haben. Der ängstliche Kleingeist, der in solchen Positionen aufscheint, ist auch ein Kleinglaube, der ohne den Aberglauben nicht auskommen kann.

Der Missbrauch des Göttlichen für ideologische Zwecke

Aberglaube heißt in diesem Zusammenhang, dass das Göttliche, das Absolute für ideologische Zwecke missbraucht wird. Von diesem Missbrauch waren z.B. die Propheten des Alten Testaments auch nicht frei, indem sie Regelungen für das soziale Zusammenleben als göttliche Botschaften ausgaben, obwohl sie höchstens in dieser Zeit sinnvoll waren. Aber damals war das kritische Denken noch viel zu wenig entwickelt, mit dem der Unterschied zwischen relativen und absoluten Wahrheiten überprüft werden kann. Heute wissen wir um diese Form menschlicher Versuchung, subjektive oder gesellschaftlich geprägte Überzeugungen für absolute Wahrheiten zu halten. Deshalb stellt heute die Ignoranz dieser Schwäche einen Mangel an intellektueller Redlichkeit und Verantwortungsübernahme dar. Wer also im 21. Jahrhundert noch aus einer wörtlichen Auslegung von heiligen Schriften Regeln für das Leben in unserer Zeit ableiten will, begeht einen bewussten Missbrauch des Göttlichen, ist also ein Blasphemiker. Allerdings werden solche Leute dank der Aufklärung heutzutage nicht mehr verbrannt.

Die ahistorische Auslegung der heiligen Schriften führt eben zu absurden Schlussfolgerungen, indem Normen aus antiken Kleingesellschaften auf die komplexe Welt des 21. Jahrhunderts übertragen werden. Die Folge sind gesellschaftliche Spannungen und Konflikte: Minderheiten werden ausgegrenzt und beschämt statt geschützt. Die Unsicherheit bei den Betroffenen steigt, der gesellschaftliche Zusammenhalt wird brüchig.

Die ängstliche Orientierung an längst überholten Normen ist ein Zeichen der unterentwickelten Moral und führt zu einer beschämenden Beschränkung der Empathie. So hat beispielsweise Charlie Kirk die Steinigung von Homosexuellen nach dem Buch Leviticus als „perfektes Gesetz Gottes“ bezeichnet. Diese Einschätzung kann nur jemand vornehmen, der nicht berücksichtigt, dass all diese Texte in historischen Kontexten entstanden sind und dass ihre Bedeutung immer nur relativ zu diesen Zusammenhängen verstanden werden kann. Frühere Zeiten kannten grausame Bestrafungen für Delikte, die heute nur mehr die engstirnigsten Menschen stören, und die Menschheit sollte stolz darauf sein, diese Formen der Brutalität und Menschenfeindlichkeit überwunden zu haben. 

Es gibt Menschen, die einen Gott fantasieren, der sich an der grausamen Bestrafung von Menschen erfreut, wenn sie sich nicht an seine bornierten Regeln halten. Sie haben sich ein Gottesbild voll von Projektionen aus Hass- und Rachegefühlen erschaffen. Die eigenen aggressiven Gefühle werden ungefiltert auf einen Gott übertragen, der dann als jähzornige, im Grund aber als jämmerliche und armselige neurotische Person dasteht, voll von kleinlicher Rachsucht und voll von Hass auf alles, was ihm nicht gefällt. Und was ist dann das für ein Gott, der den Menschen vorschreiben will, ein Kopftuch zu tragen, oder der sich einmischt, mit wem sie ins Bett gehen? Nur eingefleischte Anhänger des Patriarchats, einer Ideologie, die für zahllose Gewaltakte verantwortlich ist, können an einen Gott glauben, der die Überordnung des Mannes über die Frau einfordert.

Die Unfähigkeit zu einer erwachsenen Ethik

Leider bleibt die ernüchternde Einsicht nicht erspart, dass bestimmte Gruppen entweder nicht fähig oder nicht bereit sind, ihr ethisches Bewusstsein auf die Höhe des 21. Jahrhunderts zu heben. Sie sind gefangen in kindlichen Moralvorstellungen, voll von Fantasien und Projektionen. Und es scheint auch so, dass diese Gruppen immer mehr Einfluss in der Öffentlichkeit einnehmen.

Dieser Befund ist aus mehreren Gründen bedauerlich und traurig. Zum einen bleibt keine Energie für die drängenden Probleme unserer Zeit, vor allem die unaufhaltsam weiter schreitende Erderwärmung, wenn moralische Verurteilungen aus vorantiken Quellen die Empörungswellen steuern. Die mediale Aufmerksamkeit und damit die öffentliche Meinung gehen dorthin, wo am meisten Lärm gemacht wird. Zum anderen wird der Fortschritt in der Moral behindert und bekämpft, der nötig wäre, um die weltweiten Probleme mit weltweitem Engagement anzugehen. Statt Hungersnöte, Flüchtlingselend, soziale Benachteiligungen einzudämmen, werden Probleme reproduziert, deren Lösungen schon längst am Tisch liegen und deren Umsetzung nur zugelassen werden müsste. 

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