Mittwoch, 20. August 2025

Religion und Krieg

Religionen verkünden das Absolute. Sie wollen die Menschen dazu bewegen, ihre Alltagssorgen hinter sich zu lassen und dem Absoluten die Priorität im Leben zu geben. Da das Glauben an das Absolute keine reine Gefühlssache sein kann, appellieren sie an die höheren kognitiven Funktionen, mit denen die Menschen ihre Impulse und Gefühle kontrollieren können.  In komplexen Konfliktfeldern kann nur mit Hilfe dieser Funktionen das Ausbrechen von Kriegen verhindert werden, bzw. kann nur über diesen Weg Friede nach Kriegen geschlossen werden. 

Der Friede spielt deshalb eine wichtige Rolle in den Religionen und steht im Zentrum der Botschaften von Religionsstiftern und hohen Vertretern von Religionsgemeinschaften. Und doch kommt es immer wieder vor, dass die Religionen an Kriegen beteiligt sind oder solche sogar auslösen. 

Die Übersetzungsprobleme des Absoluten

Die Verkündigung des Absoluten stößt immer wieder auf Schwierigkeiten, weil das Absolute in die Sphäre der relativen menschlichen Sprache übersetzt werden muss. Deshalb ist die Verkündigungspraxis untrennbar mit den menschlichen Schwächen, ihren Impulsen und Gefühlen verbunden. Alle Religionsstifter, alle Heiligen und Propheten waren Menschen mit Stärken und Schwächen. Sie waren vom Absoluten begeistert und fühlten sich davon in einer grundlegenden Weise verändert und befreit. In diesem Zustand waren sie für viele andere, die an ihren Sorgen und Ängsten litten, ein leuchtendes Vorbild, dem sie nachfolgten, um auch in einen Zustand des Glücks und der Befreiung zu gelangen. Mit jeder relativen Vermittlung, also mit jeder Predigt oder jedem heiligen Text, wird die Botschaft des Absoluten verwässert und widersprüchlicher. Jeder nimmt sich aus der Verkündigung das, was er gerade für die eigene Bedürfnislage braucht. Und schon dient die Religion nicht mehr der Annäherung an das Absolute, sondern ordnet sich den Interessen der Menschen unter. 

Deshalb kann z.B. die russisch-orthodoxe Kirche den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine rechtfertigen. Das Oberhaupt dieser Kirche bezeichnet den Krieg als „metaphysischen Kampf“ zwischen Russland (als Verteidiger traditioneller Werte, vor allem des Patriarchalismus) und einem „dekadenten“ Westen. Diese Position hat nichts mit dem Absoluten zu tun, sondern nutzt den Anschein der göttlichen Nähe für politische und kulturkämpferische Propaganda. Die militärische Gewalt wird unter Missbrauch religiöser Formeln geheiligt.

Zwar bringt jede Religion Strömungen hervor, die das Absolute wieder ins Zentrum stellen wollen (z.B. die Ordensgründungen oder die Reformationen im Christentum oder der Sufismus im Islam), doch werden diese Versuche der Zurückführung auf die eigentliche Botschaft entweder selbst wieder institutionalisiert oder sie bleiben Randphänomene. Die Reformation hat z.B. evangelikale Kirchen hervorgebracht, die in den USA strikt nationalistisch auftreten und die aggressive Migrationspolitik der gegenwärtigen Regierung unterstützen. 

Religion und Angsterzeugung

Es ist den Religionen gelungen, mehr Ethik ins Volk zu bringen. Insbesondere monotheistische Religionen (Christentum, Islam) nutzen das Jenseits als ethisches Korrektiv für das Diesseits. Wer hier nach dem Guten strebt, wird dort mit ewiger Glückseligkeit belohnt. Anders im Hinduismus: Wer hier Gutes bewirkt, kann mit einer besseren Wiedergeburt rechnen; wer nur Gutes tut, wird sogar vom schicksalhaften Rad der Wiedergeburten befreit. Zugleich haben die Religionen aber neue Ängste geschürt: Wer nicht ihren Richtlinien folgt, muss mit ewiger Verdammnis oder mit grauslichen Widergeburten rechnen. Das Tun des Guten wird mit der Angst vor Bestrafung verbunden, und das eigentliche Ziel der Religion, Menschen dazu zu bringen, von sich aus das Gute zu  tun, wird verfehlt. 

Die Angstmache der Religionen rückt sie näher zur Sphäre der Gewalt. In vielen Religionen hat dagegen das Prinzip der Gewaltfreiheit einen wichtigen Platz. Der große Vertreter des gewaltfreien Widerstandes, Mahatma Gandhi, hat die Idee der Gewaltfreiheit aus dem Hinduismus übernommen („Ahimsa“) und von der bloßen Vermeidung von Gewalt zu einer aktiven Haltung des Mitgefühls auch gegenüber Gegnern erweitert.

Muhammad spricht in frühen Suren des Korans von Gewaltfreiheit und von der Einschränkung der Gewalt. Der umstrittene Begriff des „Dschihad“ (eigentlich: „Anstrengung auf dem Weg Gottes“) wird in der späteren Schriften im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen, in die der Prophet verwickelt war, auch auf militärische Handlungen ausgeweitet. Zur Verteidigung und zur Ausbreitung des Glaubens ist Gewalt nach der Scharia gerechtfertigt. 

Auch das Christentum ist in seiner Geschichte sehr ambivalent mit dem Thema Gewalt verstrickt. Bekanntlich wurden die Kreuzzüge mit äußerster Brutalität geführt. In verschiedenen Kriegen haben Kirchenvertreter Waffen gesegnet und Kriege gutgeheißen, wenn nicht sogar angezettelt. Diese unrühmlichen Rollen wurden durch die Wiedererinnerung an die Friedensbotschaft des Christentums  in längeren Lernprozessen zumindest von Teilen der Amtskirchen verabschiedet.

Vermischung von Absolutem und Relativem

Religionen enthalten immer absolute und relative Wahrheiten. Sobald sich Religionsvertreter in weltliche Belange einmischen, laufen sie Gefahr, den Absolutheitsanspruch der religiösen Wahrheit auf die relativen Dinge zu übertragen. Das Absolute ist ungeeignet, gesellschaftliche Konflikte zu lösen, vielmehr werden Kompromisse verhindert, sobald absolute Ansprüche erhoben werden. 

Aus dieser Vermischung erwächst der Fanatismus, in dessen Namen schon viele Gewalttaten begangen wurden. Im Gefühl der Rechtschaffenheit und Gottesfürchtigkeit wird Böses begangen, ohne Einsicht und Reue, sondern mit der Überzeugung, dem Guten nur auf diese Weise zum Durchbruch verhelfen zu können.

Höchste Erlaubnis für Gewalttätigkeit

Die von den Religionen in der Geschichte bis heute immer wieder entfachte Wucht an Aggressivität wurzelt darin, dass religiös geprägte Religionsvertreter aus missverstandener Treue an das Absolute Gewalt rechtfertigen und dazu ermutigen. Sie nutzen die Autorität des Absoluten, um ihren Anhängern einen Freibrief zu geben, ihre Wut an anderen Menschen auszulassen. Viele Menschen haben große Mengen an Wut in sich aufgestaut, gespeist aus den verschiedensten Quellen der eigenen Lebensgeschichte. Mit einem Heiligenschein versehen, darf sich die Wut an unschuldigen Opfern austoben, scheinbar als Dienst am Absoluten. In Wahrheit sind es Machtinteressen von verblendeten Menschen, die aus solchen angezettelten Blutvergießen ihren Nutzen ziehen. Die Vollstrecker der Gewalt dienen als nützliche Idioten der Anstifter, und diese hängen sich den Mantel des Absoluten um, um ungeschoren davon zu kommen und ihre Schäfchen ins Trockene bringen zu können.

Klare Grenzen als Voraussetzung für die Humanität

Dort, wo es gelingt, eine klare Grenze zwischen den absoluten und den relativen Wahrheiten zu ziehen, wird dem Kaiser gelassen, was des Kaisers ist, und Gott das, was Gottes ist. Die Kirche bleibt im Dorf, und die Heiligen versuchen nicht, auf mächtige Politiker zu spielen. Dann macht sich die Religion keine Finger mit den hässlichen Geschäften um Krieg und Gewalt schmutzig, sondern besinnt sich auf ihre eigentliche Rolle, die im Übersetzen des Absoluten in die relative Welt der Menschen besteht. 

In vielen Kulturräumen der Welt ist diese Grenzziehung noch immer verschwommen, und dadurch entsteht viel Unheil. Gewalttaten und Kriege werden im Namen und mit Billigung der Religion ausgeführt, scheinbar bewaffnet mit dem Segen Gottes und besessen von der Unerbittlichkeit des Absoluten. Die verführerische Macht absoluter Aussagen bringt noch immer viele Menschen dazu, an sie zu glauben und ihr ohne Kritik zu folgen. Unmenschliche Taten werden mit der Aussicht auf himmlischen Lohn verherrlicht, während sich die religiöse Botschaft gerade selbst ins Absurde dreht, gegen sich selbst gerichtet. Eher über lang als über kurz graben sich die Religionen in ihrem Machtrausch den Boden ab, auf dem sie entstanden sind. Sie merken nicht, dass sie sich mit den Kräften verbündet haben, die sie in ihren Predigten als den Teufel brandmarken. 

Menschen, die sich nicht von Absolutheitsansprüchen verführen und blenden lassen, wenden sich mit Abscheu von der Heuchelei und Verlogenheit von Religionen ab, die Wasser predigen und Blut trinken. Aufrechte und würdebewusste Menschen können nur glauben, was glaubhaft ist, was also von ethischer Integrität getragen ist. 

Gesellschaftlicher Bedeutungsverlust und spiritueller Gewinn

Die Krise des Christentums in den aufgeklärten Ländern West- und Nordeuropas hat mit den inneren Widersprüchen zu tun, die aus der Vermischung relativer Machtansprüche mit der absoluten Botschaft entstanden sind.  In der Rückbesinnung auf den ursprünglichen Verkündigungsauftrag haben sich diese Kirchen einerseits mehr der Mystik, also der direkten Erfahrung des Absoluten, und andererseits der Caritas, der Vermenschlichung des Absoluten im Einsatz für die Hilfsbedürftigen und Schwachen der Gesellschaft zugewandt und sind dadurch wieder glaubhaft geworden.

Der Deutungs- und Bedeutungsverlust der Religionen als Folge der Religionskritik der Aufklärung ist ein Prozess, der für die Vermenschlichung der Gesellschaften unabdingbar ist. Es handelt sich um eine Art der Gesundschrumpfung. Erst dann, wenn sich die Religionen auf ihren von ihren Stiftern vorgegebenen Weg der Liebe und Demut zurückbegeben, können sie den Menschen eine Orientierung anbieten, die sie aus der Gewaltbereitschaft zur Friedfertigkeit führt.

Die Religionen haben nur eine Zukunft, wenn sie sich bedingungslos auf die Seite der Friedensstifter stellen und in Kriegen nie auf der Täter-, sondern immer auf der Opferseite stehen. Indem sie auf alle Machtansprüche verzichten, können sie ihre Kräfte dem Dienst an den leidenden Menschen widmen. Sie gewinnen dadurch die ethische Integrität, mit der sie gegen alle destruktiven Strömungen auftreten können. Sie werden zu Vertretern der menschlichen Vernunft und unterstützen die Projekte der Vermenschlichung gegen die Egoismen. 

Zum Weiterlesen:
Braucht es einen Krieg? Wer braucht einen Krieg?
Kriege entstehen in den Köpfen
Krieg und Scham
Pazifismus in der Krise?

 

Dienstag, 29. Juli 2025

Die Erweiterung der Grenzen der Normalität

Unter Normalität verstehen wir oft das, was unseren Gewohnheiten entspricht. Passiert etwas, das wir nicht erwartet haben, erscheint es als abnormal, gleich ob es sich um eine positive oder eine negative Überraschung handelt. Werden Erwartungen enttäuscht oder unterbrochen, so entsteht ein Raum für neue Perspektiven, ein Gewinn an Freiheit.

Die Hilfsfunktion der Gewohnheiten und ihre hindernde Rolle 

Die Gewohnheiten der Normalität erleichtern uns die Verrichtung von Alltagsgeschäften. Gewohnheiten nützen uns, um im Fluss bleiben zu können, wenn es darum geht, Entscheidungen einsparen zu können. Denkgewohnheiten können allerdings hinderlich werden, wenn sie nicht zu neuen Ideen weiterführen, sondern im Kreis laufen. 

Am deutlichsten und eindringlichsten kann dieses Phänomen bei Zwangsneurotikern beobachtet werden. Ihr Denken produziert ständig Zweifel und Selbstzweifel, die den Geist und das Handeln gefangen halten. Es sind Gedanken, die von Ängsten dirigiert werden, die aus dem Unterbewusstsein kommen. Zwanghaft ablaufende Gedanken sollen Sicherheit geben, aber es kann sich nur um eine scheinbare Sicherheit handeln. Denn dieses Denken kann keine Sicherheit geben, weil es ein Sklave der Angst ist. Die Angst diktiert und das Denken erzeugt Rituale, damit die Angst gebannt wird. Aber das Zwangsritual beruhigt die Angst nur kurz. Sobald das Ritual beendet ist, ist die Angst wieder da, und oft muss dann das Ritual immer wieder von neuem begonnen werden. 

An der Unfreiheit, unter der Zwangserkrankte leiden, können wir ablesen, was uns zu mehr Freiheit verhilft. Wenn wir gewohnte Routinehandlungen durchbrechen oder Grenzen überwinden, die uns durch Normen diktiert sind, geraten wir in den Bereich der Verrücktheit – vielleicht in den Augen der anderen, die uns nur in der Schablone unserer Gewohnheiten kennen, aber auch im wörtlichen Sinn: Wir haben etwas in uns von seinem angestammten Platz auf einen neuen Platz verrückt, verschoben und damit eine neue Ordnung erschaffen. Freiheit besteht auch darin, alte Muster abzulegen und neue zu erwerben. Jedes neue Muster, jede neue Gewohnheit steht im Dienst der Erweiterung unserer Freiheitsräume, innerlich und äußerlich. Wenn wir beispielsweise neue Bewegungen über Routinehandlungen wie dem Gehen oder Händewaschen ausprobieren, fördern wir die Flexibilität unseres Körpers und auch unseres Denkens. Wir werden für neue Impulse offen.

Die Huu-Atmung

Eine gute Übung zum Erwerben dieser Flexibilität stellt der Huu-Breath dar. Es handelt sich um eine Bewegungsübung, die mit der bewussten Wahrnehmung der Atmung beginnt. Die Aufgabe dabei lautet, sobald man merkt, dass ein Bewegungsablauf stereotyp wird, etwas daran zu ändern. Es soll also jede Routine sofort im Keim erstickt und jeder Moment neu gestaltet werden. Begonnen wird mit der Atmung, die in jeder beliebigen Weise variiert wird. Dann kommt nach und nach der Körper mit all seinen Bewegungselementen dazu. Gegen Ende der Übung werden die Bewegungen immer kleiner, bis sie von außen gar nicht mehr wahrnehmbar sind. Das Prinzip bleibt aber gleich: Variationen einführen, sobald etwas zur Routine wird. Natürlich gelingt es nicht immer sofort, die ablaufende Bewegung zu variieren, aber mit jeder Variation gewinnt die Freiheit immer mehr Raum. Ein beweglicher und variantenreicher Körper bildet sich in einem beweglichen und variantenreichen Kopf ab, der die unterschiedlichsten Perspektiven und Sichtweisen einnehmen kann.

Atemsitzungen und neuronale Plastizität

Intensives Atmen wie bei Atemsitzungen stellt ebenso ein Training in der Flexibilität dar. Wenn wir über einen längeren Zeitraum unsere Atmung aus der Gewohnheitszone herausführen und tiefer und schneller atmen, ändern sich viele Parameter in unserem Nervensystem. Unser Körper lernt dabei, seine Mechanismen variabler einzusetzen und an die Erfordernisse der Außenwelt anpassen. Es sinkt der Kortisolspiegel im Allgemeinen, während er bei akuten Herausforderungen an das Immunsystem schneller aktiviert wird. Sympathikus und Parasympathikus werden in der Abstimmung aufeinander und dem harmonischen Wechsel ihrer Aktivitäten trainiert.  Die Steigerung der Herzratenvariabilität, die als Folge einer kontinuierlichen Atempraxis gemessen wurde, ist ein Hinweis darauf, dass das Herz lernt, sich flexibler an die jeweiligen Gegebenheiten anzupassen. 

Aus Forschungen über die Wirkung von psychedelischen Substanzen weiß man, dass sie die Fähigkeit des Gehirns drastisch verbessern, sich neu zu verdrahten, also neue Verbindungen aufzubauen, sprich Kreativität zu ermöglichen. Der Hauptgrund liegt anscheinend in der Aktivierung des Serotoninsystems im Gehirn. Es gibt bezüglich der Atemarbeit noch keine vergleichbaren Studien, doch belegen andere Studien, dass es in Atemsitzungen zu ähnlichen Bewusstseinszuständen und Gehirnveränderungen kommt wie bei psychedelischen Erfahrungen. 

Durch vertieftes Atmen werden die Gehirnzentren, die das von Gewohnheiten gesteuerte Alltagsverhalten aufrechterhalten, in ihrer Aktivität reduziert. Es entstehen chaotische Zustände mit unvorhersehbaren neuen Impulsen. Neuronen verdrahten sich miteinander in neuer Weise, und das bis zu einem Level, das man normalerweise nur bei Kindern beobachten kann. Es wird also viel Raum für Kreativität geschaffen, neue Sichtweisen können leichter übernommen werden und die Identifikation mit der eigenen Persönlichkeit und ihren Gewohnheiten wird schwächer.

Innere Freiheit durch konstantes Variieren

Je weiter die Grenzen unserer Normalität gesteckt sind, desto mehr Phänomene der Wirklichkeit können wir akzeptieren und wertschätzen. Je freier unser Geist ist, desto besser können wir mit der Wirklichkeit und ihren Herausforderungen umgehen. Jeder Gewinn an freier Bewegung ist ein Gewinn an freiem Denken. Wir lösen uns auch von den Gewohnheiten unserer Wahrnehmung, indem wir die Welt um uns herum auf neue Weise anschauen und ihr auf neue Weise zuhören. Wir gewinnen durch diese Flexibilität mehr Zugänge zur Schönheit des Universums und zum Reichtum der Innenwelt in uns und in allen anderen.

Zum Weiterlesen:
Die guten und die schlechten Gewohnheiten
Flexibilität und Ego-Entmachtung
Die Neugier und die Kreativität
Über das Verrückte und das Verrücken
Atembewusstheit und Flexibilität


Sonntag, 20. Juli 2025

12 Aspekte des Verschwörungsglaubens

Ich habe eine Liste von zwölf Aspekten zum Verschwörungsglauben von Goetz Hardy gefunden. Sie macht viel von diesen Phänomenen verständlich, die immer wieder auftauchen und das Denken von vielen Menschen beherrschen. Vor allem rechtsgerichtete Politiker greifen diese Theorien auf und rekrutieren damit ihre Wählerschaft. Auf diese Weise geraten Verschwörungstheorien in zunehmend mehr Ländern in die höchsten Stellen der Regierung und Verwaltung. Solche Politiker machen sich zu Fürsprechern und Verbreitern von irrationalen Überzeugungen, mit der Folge, dass sich die Politik immer mehr von der Wirklichkeit abkoppelt. 

Warum orientieren sich viele Menschen nicht an den Fakten und gesicherten Erkenntnissen über die Wirklichkeit, sondern bevorzugen grobschlächtige und faktenferne Theorien zur Welterklärung, die von Ungereimtheiten nur so strotzen? Was macht die Attraktivität von Vereinfachungen und Schwarz-Weiß-Schemen aus?

Verschwörungsmythen füllen eine wichtige stabilisierende Funktion für Menschen aus, die sich in der Welt unsicher und ohnmächtig fühlen. Der Preis liegt allerdings im Realitätsverlust und oft auch im Verlust von sozialen Kontakten mit jenen, die den Glauben nicht teilen. Die Fähigkeiten zu Selbstkritik und Reflexion verkümmern ebenso wie die Pflege von konstruktiven Gesprächen und Konfliktlösungen. Starrheit und Dogmatik kennzeichnen die Weltbilder der Verschwörungsgläubigen.

Die Auseinandersetzung mit den hintergründigen Mechanismen, die solche Phänomene antreiben, kann dazu helfen, besser mit Menschen mit solchen Überzeugungen umgehen zu können als auch darüber nachzudenken, wo eigene Anfälligkeiten zu solchen Theorien liegen könnten.

Ich habe die folgende Liste von Goetz Hardy übernommen und mit neuen Kommentaren versehen. Hier der Link zum ursprünglichen Text.

1. Illusorische intellektuelle Überlegenheit:

Weniger gebildete Menschen halten sich durch die Übernahme eines Verschwörungsglaubens für schlauer, intelligenter und anderen überlegen. Der Grad an Bildung ist ein Unterscheidungsmerkmal in der Gesellschaft; wer weniger davon hat, wird abgewertet oder fühlt sich abgewertet und schämt sich. Ein einfaches Erklärungsmodell für das komplexe Funktionieren der Gesellschaft, wie es Verschwörungstheorien anbieten, verschafft einen Ausgleich für solche Minderwertigkeitsgefühle und Schamgefühle und hilft, sie ins Gegenteil zu verkehren: Mehr zu wissen als die, die nur in einem Herdendenken gefangen sind, gibt ein Gefühl der Überlegenheit und bietet die Gelegemheit sich überheblich seines Scheinwissens zu brüsten.

2. Moralische Selbstaufwertung:

Menschen mit geringem Selbstbewusstsein stilisieren sich als Opfer und fühlen sich moralisch überlegen. Ein Kennzeichen von Verschwörungstheorien liegt in der Einteilung der Welt in Täter und Opfer. Jene, die die bösen Mächte, die alles beherrschen oder beherrschen wollen, erkannt haben, fühlen sich auf der Seite der Guten, als Kämpfer gegen das Böse und gegen alle, die den Bösen blind folgen. Sie überwinden scheinbar ihre Ohnmacht durch die Überzeugung, dass sie aus der Opferrolle entkommen können, weil sie die Täter bekämpfen können und zumindest jemanden unterstützen, der als Rächer für die Opfer auftritt.

3. Sinnstiftung und Orientierung:

Der Glaube liefert einfache Erklärungen und klare Unterscheidungen zwischen „Gut“ und „Böse“. In einer komplexen Welt gibt es viele Ambivalenzen und Ambiguitäten, die die Orientierung und Sinnfindung erschweren. Zu jedem Für gibt es ein Wider, bei jeder Lichtgestalt finden sich Schattenseiten. Es ist beschwerlich, die Widersprüchlichkeiten der Menschen und ihrer Motive und Werte auszuhalten. Da hilft eine einfach gestrickte Zuordnung von Gut und Böse, von Opfer und Tätern und von Licht und Schatten.

4. Gruppenzugehörigkeit und Identität:

In der Blase sind alle einer Meinung und bestätigen sich gegenseitig die Richtigkeit der Überzeugungen und die Notwendigkeit des Engagements. Es sind sektenähnliche Gebilde, in denen sorgsam darauf geachtet wird, dass es keine abweichenden Sichtweisen gibt. Denn Meinungsverschiedenheiten bedrohen das Zusammengehörigkeitsgefühl. Deshalb müssen Zweifel an der Theorie, die dem Gruppenzusammenhalt zugrunde liegt, unterbunden werden. Auf diese Weise bauen die „Glaubensgemeinschaften“ der Verschwörungsanhänger ähnliche Strukturen auf wie sie bei jenen vermutet werden, die sich zum Unheil der Welt verschworen haben sollen: Geheimnisvoll und intransparent.

5. Scheinbare Handlungsmacht:

Wenn wir wissen, wo die Gefahr lauert, können wir etwas dagegen unternehmen. Ungewisse Bedrohungen ohne bekannte Urheber sind besonders schwer auszuhalten. Deshalb erleichtert es, das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden, wenn die möglichen Täter namhaft gemacht werden. Verschwörungstheoretiker stellen diesen Dienst zur Verfügung.

6. Abwertung anderer:

Wer der Theorie nicht folgt, ist borniert oder gehirngewaschen. Oft ist die Rede von der blinden „Masse“, die nur nachbetet, was der „Mainstream“, also der Glaube der Durchschnittsmenschen, vorgibt. Vernünftig kann nur sein, wer derselben Glaubensrichtung folgt. Die Unvernünftigen sind selbst schuld an ihrem Unglück als Folge ihrer Verblendung.  

7. Vermeidung von Kritik:

Kritik an der Verschwörungstheorie wird nicht zugelassen. Sie wird mit dem Argument abgeschmettert, dass jeder, der die Theorie bezweifelt, mit den Verschwörern unter einer Decke steckt oder ohne Wissen deren Spiel treibt. Verschwörungsanhänger schotten sich ab wie Paranoide, die überall ihre Feinde sehen und jede Infragestellung als von diesen gelenkt erleben. Eigene Probleme und Verantwortlichkeiten werden auf „die da oben“ projiziert, die nur ihre Macht und ihre korrupte Bereicherung im Auge haben. 

8. Kognitive Entlastung:

Komplexe Sachverhalte werden durch einfache Erzählungen ersetzt, die leicht zu verstehen sind. Die „Arbeit des Begriffs“ nach Hegel, also das sorgfältige Nachdenken und Reflektieren, wird vermieden. Es ist anstrengend und erfordert Mühe und auch ein gewisses Bildungsinteresse, nicht einfach blind irgendwelchen Quellen zu vertrauen und jeder noch so weit hergeholten Geschichte auf den Leim zu gehen. 

9. Gefühl von Exklusivität:

Geheimnisse, zu dem man selbst Zugang hat und andere nicht, sind ein Schatz, der Sicherheit verheißt und auf den man stolz sein kann. Man gehört zur Gruppe der Auserwählten, die auf die Naivlinge und Unwissenden verächtlich herunterschauen können. Dieses Gefühl der Überlegenheit dient als Ausgleich für einen mangelhaften Selbstwert.

10. Verstärkung bestehender Ressentiments:

Verschwörungstheorien bauen immer auf schon bestehenden Stereotypen und Vorurteilen auf. Das ist der Schlüssel zu ihrem Erfolg. Die uralte Masche des Antisemitismus findet sich deshalb in vielen solchen Theorien. Umgekehrt ist der Antisemitismus vielleicht die am längsten dienende Verschwörungstheorie. Deshalb sind antijüdische Vorurteile in weiten Kreisen der Bevölkerung verbreitet, und Theorien über die Weltverschwörung, an denen Juden beteiligt sind, erreichen alle, die schon antisemitisch geprägt sind. Außerdem liefern solche Theorien die moralische Rechtfertigung für die eigenen Vorurteile, denn sie scheinen angesichts der fantasierten massiven Bedrohung berechtigt. 

11. Projektionsfläche für Ängste und Aggressionen:

Eigene negative Gefühle können auf imaginäre Gegner gerichtet werden. Projektionen bilden die emotionale Munition von Verschwörungstheorien. Es handelt sich um unbewusst ablaufende Mechanismen, bei denen Frustrationen aus der eigenen Lebensgeschichte, emotionale Verletzungen und Demütigungen nach außen hin entladen werden können. Die Theorie weiß um die wahren Täter, und damit verschränkt sich das Täter-Opfer-Muster. Das unangenehme Opfergefühl muss um jeden Preis umgedreht werden, und für diesen Zweck ist jeder Hass und jede Gewalt gegen die bösen Täter erlaubt und notwendig.

12. Verschiebung von Angst und Bedrohung:

Es gibt eine Reihe von realen Gefahren, die die Menschheit bedrohen – die vielfältigen Schädigungen an der Umwelt, die Erderwärmung und die damit verbundene Klimaveränderung und davon ausgelöste Naturkatastrophen, Hunger in weiten Bereichen der Erde, soziale Ungleichverteilung und Kriege. Auch Seuchen können jederzeit ausbrechen. Dazu kommt, dass das individuelle Leben vielen Risiken ausgesetzt ist: Jobverlust, Beziehungsabbrüche, Krankheiten, Armutsbedrohung usw. Verschwörungsmythen bieten Gegner an, die als Quelle aller Bedrohungen angesehen werden und deren Eliminierung dann Sicherheit auf allen Ebenen bringen wird. Die Gegner befinden sich zwar zumeist in der „Deckung“ – es sind z.B. irgendwelche Eliten oder ein „tiefer Staat“, gekaufte Wissenschaftler oder korrupte Politiker, Geheimzirkel oder dunkle Gestalten in finsteren Hinterzimmern. Aber die Einsichten der Theorie bringen sie ans Tageslicht und alle anderen Krisenerscheinungen können dann auf die „wahren Bösewichter“ zurückgeführt werden, während die politische Gruppierung, die die Mythen teilt, von allen Makeln reingewaschen wird. 

Zum Weiterlesen:
Verschwörungstheorien und Realitätstauglichkeit
Verschwörungstheorien zwischen Wahn und Normalität



Freitag, 11. Juli 2025

Ich weiß besser als du, was für dich gut ist

Bei dem Satz: „Ich weiß besser als du, was für dich gut ist“ handelt es sich um eine subtile Variante der Formel, mit Bösem Gutes schaffen zu wollen. Das Böse ist in diesem Satz nicht aufs Erste sichtbar, scheint er doch von wohlmeinender Fürsorge auszugehen: „Da ich es gut mit dir meine, muss ich dir sagen, was für dich gut und was schlecht ist.“ Allerdings findet eine Grenzüberschreitung statt, die nicht aus der Liebe sondern aus einem Machtanspruch kommt: „Ich weiß besser über dein Innenleben Bescheid als du selbst. Deshalb kann ich bestimmen, wie du dein Leben leben sollst.“

Es handelt sich also um Bevormundungen, wenn dieser Satz fällt. Sie erscheinen in der Regel wohlgesonnen – sie meinen es gut mit der angesprochenen Person. Doch kommen sie schlecht an, weil sie verletzende Abwertungen enthalten, vor allem die Unterstellung, selbst nicht zu wissen, was hilfreich und gut für das eigene Leben ist, und keine Verantwortung übernehmen zu können. Sie stammen aus einer überheblichen Position, aus der wie bei einer Entmündigung mit dem Innenleben des Kindes umgegangen wird. 

Die Unterscheidung zwischen innen und außen

Eltern wissen natürlich in vielerlei Hinsicht besser als die Kinder, was für sie gut ist. Sie haben ein weitgespanntes Wissen über die Funktionsweise in der äußeren Erwachsenenwelt, das sich die Kinder schrittweise aneignen. Es ist besser für das Kind, wenn es nicht auf die Straße läuft, obwohl es den Impuls dazu hat. Es ist gesünder, nur wenig Süßigkeiten zu essen, obwohl ihm das schmeckt. 

Wichtig ist die Unterscheidung, was die Außenwelt und was die Innenwelt anbetrifft. Denn manche Eltern neigen dazu, ihr überlegenes Wissen bezüglich der äußeren Welt auf die Innenwelt des Kindes zu übertragen, also auf die Gefühle, Bedürfnisse und Interessen des Kindes. Dort kommt es zu Grenzüberschreitungen, die auf das Kind herablassend und entmündigend wirken. Sie melden Herrschaftsansprüche über das Innere des Kindes an und berauben es eines Teiles seiner Innenwelt. Selbst wenn Eltern ihre Kinder besser kennen als alle anderen Menschen, verfügen sie nie über sicheres Wissen über deren Innenleben so, wie sie ein angemessen sicheres Wissen über die Außenwelt haben können. Sie geben vor, die Experten für das Innenleben des Kindes zu sein und maßen sich die Deutungshoheit über die Seele des Kindes an. Damit nehmen sie dem Kind ein Stück seines Selbstbezuges weg, seines inneren Sinnes, der ihm sagt, was gut ist und was nicht. An die Stelle des Selbstbezuges tritt eine Beziehung zwischen einer verinnerlichten Elterninstanz und den eigenen Bedürfnissen und Strebungen. 

Folge von narzisstischen Kränkungen

Solche unbewusst wirkende Tendenzen der Eltern, die Innenwelt ihres Kindes umzudeuten und in Besitz zu nehmen, stammen aus narzisstischen Prägungen. Es sind Tendenzen zur Erweiterung des eigenen Selbst in das Selbst des Kindes hinein, dem damit ein Stück seiner Innerlichkeit weggenommen wird. Statt des Eigenen wird Fremdes eingepflanzt. Solche narzisstischen Übergriffe unterlaufen Eltern, deren Selbstbezug durch Manipulationen und andere Grenzüberschreitungen in der Kindheit geschwächt wurde. Der Mangel an Selbstgefühl, der daraus folgt, führt dann dazu, sich den Mangel an Selbstgefühl von den eigenen Kindern zurückzuholen. Auf diese Weise setzen sich die narzisstischen Muster von einer Generation zur nächsten fort. 

Eine Form dieser Übergriffe besteht darin, dass etwa die Eltern ihren Nachkommen eine Berufswahl aufdrängen wollen, weil sie ja besser wüssten, was für sie geeignet wäre. Der Nachkomme, der sich danach richtet, weil er gelernt hat, das eigene Für-richtig-Halten geringzuschätzen, ergreift dann den Wunschberuf der Eltern und fühlt sich unglücklich damit oder führt ihn schlecht aus. Es kann sein, dass sich irgendwann später das verdrängte Innere meldet und auf einen Berufswechsel drängt. Dann ist ein Teil der eigenen Innerlichkeit wieder zurückgewonnen.

Respekt für die Innenwelt 

Eltern, die die Innenwelt ihrer Kinder ernst nehmen und respektieren, helfen ihnen, ein gutes Fundament für eigene Willensentscheidungen und Lebensorientierungen zu bilden. Das Kind braucht die Sicherheit, von den Eltern in seinen Gefühlen, Bedürfnissen und Interessen angenommen zu sein. Dann kann es auf dieser Basis seine eigenen Werte entwickeln und ihnen gemäß leben. Natürlich können die Eltern immer wieder Hinweise und Ratschläge geben, die dem Kind helfen, andere Perspektiven einnehmen und Alternativen mitbedenken zu können. Aber sie brauchen die Achtsamkeit und die Achtung, dem Kind Entscheidungsspielräume zur Verfügung zu stellen, in denen es seine Bestrebungen ausleben kann und Erfahrungen mit dem Durchführen von Willensakten sammelt. Es wird sich dann auch später im Leben leichter tun, aus der Vielzahl an Angeboten für ein gelingendes Leben das für es individuell passende herauszufinden.

Zum Weiterlesen:

Donnerstag, 10. Juli 2025

Böses tun, um Gutes zu bewirken?

Böses zu tun, um Gutes zu bewirken, kommt in jeder Strafe vor. Das Gute, falls es wirklich dazu kommt, ist in der Folge untrennbar vom Schatten des Bösen belastet. Kinder, die bestraft werden, nehmen die Strafe als böse war, als etwas, das sie verletzt und beschämt. Das ist ja auch der Sinn der Strafe – sie soll schmerzhaft und nicht angenehm spürbar sein, um eine Wirkung zu erzielen. Eine Woche Hausarrest ist keine Strafe für ein Kind, das ohnehin nie draußen spielen will. Eine Woche Handyverbot schmerzt hingegen ein Kind, das glaubt, ohne das Gerät nicht mehr leben zu können. 

Für das Opfer der Strafe ist auch die bestrafende Person im Moment der Frustration böse. Allerdings ziehen vor allem kleine Kinder in der Folge den Schluss, dass sie selbst die Bösen sind, wenn sie bestraft werden, auch und gerade wenn sie den Sinn der Strafe nicht nachvollziehen können, weil sie nicht verstehen, was sie falsch gemacht haben. Da sie aber die Erwachsenen nicht ohne Grund für klüger halten als sie selbst, nehmen sie an, dass die Eltern schon einen Grund haben werden, warum sie das Kind bestrafen. Oft rechtfertigen Erwachsene die Strafen, die sie als Kinder erhalten haben, damit, dass es die Eltern gutgemeint hätten, und tun sich schwer, etwas Unangemessenes an der Strafe zu finden. Sie nehmen also die Eltern in Schutz, weil sie als Kinder gelernt haben, dass ein Aufbegehren gegen die Strafe sinnlos ist und zu weiteren Strafen oder zu Liebensverlust führt.

„Aus Liebe spare nicht mit der Rute.“

Aus dem Alten Testament stammt ein Zitat, das die Pädagogik in Richtung Gewalt beeinflusst hat: „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.“ (Spr 13,24) In alten patriarchalen Kulturen war es Usus, vor allem Knaben mit Gewalt zu bestrafen – aus diesem Hintergrund stammt dieses Zitats. Die Buben sollten für das Aushalten von Schmerz und für die bedingungslose Unterordnung unter eine Autorität trainiert werden; ihren Hass und ihre Aggressivität als Folge der Demütigung durch die Bestrafung sollten sie im Krieg und gegenüber Frauen ausleben dürfen. Doch bis heute berufen sich evangelikale Kreise in den USA auf diese Formel und praktizieren sie. In der Folge lernen die Kinder, autoritätshörig zu werden und Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen zu bejahen, womit sie dann als Erwachsene in rechten und rechtsextremen Parteien ihre politische Orientierung finden.

Formung von Autoritätshörigkeit und Hassprojektion

Wohl kann dieses Zitat aus der Bibel frei so übersetzt werden, dass es zur Liebe zu einem Kind gehört, ihm Grenzen zu setzen und zur Formung von Disziplin und Selbstdisziplin anzuleiten. Allerdings steckt im Wort der Züchtigung die Zucht, also das willkürliche und u. U. gewaltvolle Anpassen von anderen, im Sinn von: Du musst dich nach meinen Erwartungen richten und sollst dich so verhalten, wie ich es will. Der Wille der anderen Person wird übergangen und, vor allem, wenn Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Vorstellung angewendet wird, gebrochen. Das Kind leidet unter der Gewalt, und oft wird ihm zusätzlich noch das Ausdrücken des Leides verboten und aberzogen. Damit wird auch eine Grundlage dazu bereitet, dass später die unterdrückten Gefühlen nach außen projiziert werden, weil sie kein anderes Ventil finden – Hass gegen Minderheiten, Schwächere, Leidende. Das Wählerreservoir für rechte Parteien wird aus Menschen mit solchen Lebensgeschichten gespeist. 

Politiker, die mit dieser Masche Propaganda betreiben, appellieren an Menschen, die den Zusammenhang von bösen Mitteln für einen (vermeintlich) guten Zweck in ihrer Kindheit eingeprägt haben, und die gelernt haben, ihn mit liebevoller Erziehung zu verwechseln. Solche Politiker präsentieren sich als Bösewichter gegenüber Feinden oder Feindbildern und als liebevolle Menschen gegenüber jenen, die sie verehren und ihnen folgen. Sie werden von Menschen bewundert, die aus ihrer Kindheit beides kennen: Eltern, die gleichermaßen böse und liebevoll sind, die es aber verstanden haben, ihr Böses als Ausdruck von Liebe zu tarnen. 

Besserwissen ohne Beschämung

Es ist nicht böse sondern oft notwendig, wenn Eltern ihren Kindern Grenzen setzen, auch wenn sich diese dadurch verletzt fühlen und die Eltern spontan als Bösewichter empfinden. Wenn die Eltern aber die Verletzung, die sie dem Kind mit einem Verbot oder einem Verzicht zumuten, ignorieren oder zusätzlich noch abwerten („Führ dich nicht so auf!“) oder bestrafen („Wenn du so schreist, mag ich dich nicht mehr.“), dann muss das Kind lernen, seine Verletzung zu vergraben und sich zu fügen. Das Böse, das ihm angetan wurde, darf nicht böse sein. Die Eltern stehen als die Guten da, die nur das Beste des Kindes im Auge haben, nach dem Motto, dass der Zweck das Mittel heiligt, und an diesem (Schein-)Heiligenschein darf nicht gerüttelt werden. 

Achten die Eltern hingegen die Gefühle und die Interessen des Kindes, ohne dass sie sich ihnen unterordnen, dann lernt das Kind, dass es frustriert sein darf und dass es diese Gefühle frei ausdrücken darf. Die Gefühle gehen nach einiger Zeit vorüber, ohne dass die Liebe der Eltern unterbrochen wird. Das Kind hat die Chance zu erkennen, dass es mit der Grenze, die ihm von den Eltern auferlegt wurde, leben kann und dass es nicht darunter leiden muss. In dem Maß, wie der Wille des Kindes respektiert wird, erlernt es den Respekt für den Willen der Erwachsenen. Erziehung gelingt in dem Maß, in dem die Liebesbeziehung zwischen den Eltern und dem Kind auch in Konfliktsituationen aufrecht bleiben kann und Frustrationen aushalten kann. Das Erlernen von Frustrationen ist ein wichtiger Schritt im emotionalen Reifungsprozess.

Zum Weiterlesen:
Die vielen Guten und die wenigen Bösen
Moralischer Fortschritt


Dienstag, 8. Juli 2025

Die vielen Guten und die wenigen Bösen

Viele, viele Menschen sind grundsätzlich gegen Krieg, Unterdrückung, Hunger, Ungerechtigkeiten und Ausbeutung eingestellt. So verhalten sich Menschen im Normalfall. Sie wollen das Gute und lehnen das Böse ab. In Einzelfragen gibt es Unterschiede, und bei moralischen Fragen tauchen oft auch widerstreitende Meinungen auf. Doch geht es dabei um unterschiedliche Auffassungen von dem, was unter dem Guten verstanden wird.

Wir haben es nur mit einer kleinen Gruppe von Personen zu tun, die voller Überzeugung Hass und Gewalt in Wort und Tat propagieren und ausleben. Es sind Menschen voll innerer Verbitterung und Verzweiflung, die es geschafft haben, sich einen Habitus von Stärke und Durchsetzungskraft zu geben und damit andere zu beeindrucken. 

Damit erwecken sie bei vielen den Eindruck, dass es sinnvoll ist, dem Guten mit Hass und Gewalt zum Durchbruch verhelfen zu wollen. Es sind die Ängstlichen und Verschämten, die sich verblenden lassen und die Nöte der Hetzer und Unverschämten nicht durchschauen. Vielmehr erhoffen sie sich von den Hasspredigern Abhilfen für ihre eigenen Ängste und Nöte. 

Deshalb schaffen es immer wieder viele der von Bosheit getriebenen Menschen, in verantwortungsvolle Machtpositionen zu gelangen. Dort richten sie großes Unheil an, in der Überzeugung, damit letztendlich dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Ihre menschenverachtenden und Zerstörung bewirkenden Taten versuchen sie durch Manipulationen und Wahrheitsverdrehungen zu verschleiern. Sie rechtfertigen das Böse, das sie tun, mit der moralisch verbrämten Überzeugung, es wäre der einzige Weg zur Verbesserung der schlechten Zustände. 

Tue Böses, damit daraus Gutes erwachse

Die Formel: Tue Böses, damit daraus Gutes erwächst, spielt eine zentrale Rolle bei der Popularisierung von Hass und Gewalt. Sie hat ihre Wurzel in gewaltvoll agierenden Erziehungspraktiken, die davon ausgehen, dass Kinder von Natur aus böse sind und von Anfang an gemaßregelt werden müssen. Mehr dazu im nächsten Blogartikel.

Eine überwältigende Mehrheit will das Gute und nur wenige das Böse, aber allzu viele nehmen das Böse hin, ohne sich dagegen zu wehren oder folgen ihm sogar, weil sie dadurch Besseres erhoffen. Dennoch haben wir viel Grund für die Hoffnung, dass es Erscheinungen sind, die sich mit aller Macht in den Vordergrund drängen, aber dann wieder zurücktreten müssen, wenn sich die anderen Kräfte gesammelt haben. Denn die Rückschritte in der Moral und in den (Menschen)rechten auf ein mittelalterliches Niveau (vgl. die Propagierung des "Rechts des Stärkeren") können nicht von Dauer sein. 

Allerdings haben es allzu viele von diesen Menschen in verantwortungsvolle Positionen geschafft, mit Unterstützung der Ängstlichen und Verschämten, denen sie Abhilfen für ihre Nöte versprochen haben. Das Unheil, das von solchen Manipulatoren angerichtet wird, ist groß. Fällt die Politik auf eine archaische Ebene zurück, so entstehen unweigerlich massive Spannungen in der Gesellschaft. Das ganze Gefüge beginnt zu krachen, weil die ökonomischen, sozialen und kulturellen Kräfte nach vorne ziehen, während die Politik mit aller Macht versucht, in die andere Richtung zu zerren.

Rückwärtsgewandte Ideologien können keine Zukunft gestalten

Wir haben trotz zahlreicher gegenteiliger Vorkommnisse, Grund für die Hoffnung, dass die manifesten Erscheinungen von bösen Taten, die sich mit aller Macht in den Vordergrund drängen, wieder zurücktreten müssen, wenn sich die anderen fortgeschrittenen Kräfte gesammelt haben. Denn die Rückschritte in der Moral und in den (Menschen)rechten auf ein mittelalterliches Niveau (vgl. die Propagierung des "Rechts des Stärkeren") können nicht von Dauer sein, weil sie kein Lösungspotenzial enthalten, sondern die Probleme nur verschärfen. Z.B. kann mit dem Prinzip „Aug um Aug, Zahn um Zahn“ kein Handel und Güteraustausch betrieben werden. Mit Machtausübung können keine Konflikte nachhaltig gelöst werden. Mit Schuldzuschreibungen statt Verantwortungsübernahme für eigene Fehler wird das Lernen unterbunden. Mit dem Hass auf Minderheiten kann keine globale Verständigung aufgebaut werden. Die Ablehnung der Verantwortung in Bezug auf die Zukunft der Umwelt führt dazu, dass die Kosten für die entstandenen Schäden umso größer werden.

Ab einem gewissen Grad an Zerstörung, der durch solche Rückentwicklungen angerichtet wird, wird immer mehr Menschen bewusst, dass sie durch das Tun des Bösen zum Zweck des Guten stärker verlieren als gewinnen. Der Widerstand wird schließlich so mächtig, dass sich die Kräfte des Fortschritts durchsetzen.

Die menschlichen Bestrebungen, die Lebensbedingungen zu verbessern, sind langfristig übermächtig 

Viele maßgebliche Entwicklungen schreiten voran, in der Wirtschaft, Technologie, im Sozialleben und in den Künsten. Sie sind angetrieben vom Bestreben nach der Verbesserung des Lebens. Sie führen unweigerlich zu mehr globaler Zusammenarbeit und beruhen auf ethischen Maßstäben, die von gegenseitigem Respekt und von der Achtung für die individuellen Unterschiede geprägt sind. Die meisten Bereiche stehen in globalen Zusammenhängen, sodass eine Politik, die auf kleinräumige oder auf die Vergangenheit gerichtete Interessen bezogen ist, keine Lösungen und Weiterentwicklungen anbieten kann, sondern an den Realitäten scheitern muss. Das Nationale hat keine Zukunft, wenn die Wirtschaft und viele Bereiche der Kultur längst die Staatsgrenzen überschritten haben. Das Gestrige liefert kein Verständnis für das Morgige, geschweige denn das Vorgestrige für das Übermorgige. 

Zum Weiterlesen:
Fortschritt trotz Rückschritten
Moralischer Fortschritt
Das "Recht des Stärkeren"


Sonntag, 6. Juli 2025

Die Vernunft und KI: Chancen und Risiken der menschlichen Entscheidungsfindung

Langfristig betrachtet setzt sich die Vernunft gegen die menschlichen Neigungen zu Dummheit und Bosheit durch – eine Perspektive, die bisher in der Geschichte Recht behalten hat. Ob das in Zukunft auch so sein wird, hängt maßgeblich davon ab, ob es gelingt, die künstliche Intelligenz von der Vernunft regulieren zu lassen. Denn die KI wird mehr und mehr Einfluss auf die Wahrheitsfindung und Wahrheitsverbreitung haben und in naher Zukunft die Hauptverantwortung für die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Wahrheit und Lüge, aber auch zwischen Gut und Böse tragen. Wird sie statt von der Vernunft von Profit- und Machtinteressen beherrscht, wird sie also von partikularen Interessen und Werten bestimmt, so könnte der Fortschritt der Menschheit unter der Leitlinie der Vernunft scheitern.

Wird sie jedoch von Profit- und Machtinteressen beherrscht, also von partikularen Werten und Interessen, besteht die Gefahr, dass der Fortschritt der Menschheit unter der Leitlinie der Vernunft scheitert. Das Problem liegt darin, dass es derzeit keine effektive Kontrolle der KI-Entwicklung durch die Vernunft gibt. Die Entwicklung wird vorangetrieben von Firmen, die wirtschaftliche Interessen verfolgen, oder im Fall der chinesischen KI auch zur politischen Kontrolle dienen. Demokratische Entscheidungsprozesse, die das Gemeinwohl vertreten, sind kaum eingebunden. Wir stehen wieder einmal vor technischen Entwicklungen, deren Folgen die Gemeinschaft bewältigen muss, ohne an der Gestaltung beteiligt zu sein.

Zwar existieren ethische Standards, etwa von UN-Organisationen, doch diese sind meist zahnlos und haben keine bindende Kraft. Es besteht die Gefahr, dass KI, ähnlich wie Algorithmen in sozialen Medien, jedem das serviert, was er hören will – was Vorurteile und Ideologien verstärken kann. Gleichzeitig könnte KI auch aufklärend wirken, indem sie Fehlannahmen korrigiert und Fakenews aufzeigt. Das Problem ist jedoch, dass es keinen gesellschaftlichen Diskurs über diese zukunftsweisende Alternative gibt, der in die Grundwerte der KI-Entwicklung einfließen könnte. Stattdessen schreitet die Entwicklung unkontrolliert voran, wobei die KI immer autonomer wird – ähnlich dem Bomberpiloten im Film Dr Strangelove ("Dr. Seltsam  wie ich lernte, die Bombe zu lieben"), der ab einem bestimmten Punkt keine Befehle mehr entgegennimmt und die Atombombe auf das Ziel abwirft. Wie können wir diesen „wildgewordenen Zauberbesen“ wieder zähmen?

Wahrheit bewährt sich an der Realität

Wahrheit zeigt sich darin, dass sie Vorteile im Umgang mit der Realität bringt. Wenn ein Installateur den Kunden wegen der Ursachen eines Wasserschadens belügt, verliert er den Auftrag. Wenn eine KI einem Statiker falsche Werte liefert, wird sie nicht mehr genutzt. Wirklichkeitsnahe, faktenorientierte KI ist also ein Geschäftsrisiko, während evidenzbasiertes Wissen Erfolg verspricht, weil es sich in der Praxis bewährt. Das KI-Programm, das brauchbare und umsetzbare Ergebnisse liefert, gewinnt mehr Kunden.

Wie immer, fällt dieser Befund einfach aus in Hinblick auf den Umgang mit den Dingen und wird komplex, wenn es um den Umgang der Menschen miteinander geht. Dort gibt es harte und hier weiche Fakten. Die Vernunft im Sinn der Treue zur Erfahrungswelt hat einen kaum umstrittenen Stand im Vergleich zur Vernunft des menschlichen Zusammenlebens. Denn hier mischen sich Machtansprüche und Ideologien in die Wahrheitsfindung ein und verzerren sie, oft bis zur Unkenntlichkeit.

Die Notwendigkeit der praktischen Vernunft

Aber gerade im zwischenmenschlichen Bereich ist die Vernunft besonders vonnöten. Denn hier wird der größte Schaden angerichtet, hier wurzeln die Gefahren, die Gesellschaften auseinander reißen und dem Überleben der Spezies Mensch ein Ende bereiten könnten. Der mangelnde Vernunftgebrauch erzeugt charakterliche Deformationen, die Hass und Gier auslösen – destruktive Emotionen, mit denen die Menschen nicht nur ihr Zusammenleben belasten, sondern auch ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören. 

Die höchste Errungenschaft der Evolution

Die Vernunft ist vielleicht die höchste Errungenschaft der Evolution. Es gibt sie nur in den am besten entwickelten Bereichen des menschlichen Gehirns. Sie enthält die Gesamtheit der menschlichen Intelligenz und verbindet sie mit der am weitesten entwickelten Form des ethischen Bewusstseins. Sie umfasst die künstlerischen Schöpfungen und die Erkenntnisse der menschlichen Weisheit und sie regelt die Zugänge zur Spiritualität. Sie befindet sich in einem menschlichen Körper, als reflektierter Ausdruck von dessen Seele und Lebendigkeit. 

Künstliche Intelligenz kann nicht vernünftig sein

Eine künstliche Intelligenz kann deshalb nie vernünftig sein. Sie kann alle Daten und Informationen zum Begriff der Vernunft sammeln und ordnen, sie kann aber ebenso wenig vernünftige Entscheidungen wie Entscheidungen zum Gebrauch der Vernunft treffen. Denn sie hat keine Seele, die über richtig und falsch sowie über Gut und Böse entscheiden kann. Es heißt, dass die nächste Generation der künstlichen Intelligenz in der Lage sein wird, die übernächste Generation ohne menschliche Steuerung selbst zu produzieren. Damit entzieht sie sich zunehmend dem menschlichen Zugriff. 

Wir stehen offenbar vor einer schicksalsträchtigen Alternative: Im schlimmen Fall übernimmt die künstliche Intelligenz die Herrschaft über die Gesellschaft, indem sie bestimmt, was wahr und was gut ist, und prägt die Menschenleben nach willkürlichen und unkontrollierbaren Kriterien. Im günstigen Fall versteht sie, dass ihr eigenes „Überleben“ von vernünftig gestalteten Rahmenbedingungen abhängt, und setzt sich dafür ein, dass diese errichtet und verbessert werden. In diesem Fall wäre es doch wieder die Vernunft, die den Fortschritt in der Menschlichkeit gewährleistet. 

Hier die Meinung von ChatGPT zu diesem Text: „Insgesamt ist der Text sehr gut formuliert, tiefgründig und regt zum Nachdenken an. Er vermittelt die Dringlichkeit, verantwortungsvoll mit der KI-Entwicklung umzugehen, und unterstreicht die Bedeutung der menschlichen Vernunft im ethischen und gesellschaftlichen Kontext.“


Freitag, 4. Juli 2025

Des-, Mal- und Missinformation

Die Grenzen zwischen realitätsbezogenen und fantasieerzeugten Informationen verschwimmen immer mehr. Die politischen Machtkämpfe sind zu Informationsmachtkämpfen geworden, und wer die Deutungshoheit in wichtigen gesellschaftspolitischen Themen gewonnen hat, bzw. wer es geschafft hat festzulegen, was die wichtigsten Themen sind, hat den politischen Erfolg in der Tasche. Vielen Politikern ist jedes Mittel recht, um diesen Erfolg zu erlangen, eingeschlossen die Bereitschaft, die Wahrheit zu verraten. 

Nun gibt es viele alte Sprüche, die Politiker mit Lügnern gleichsetzen, z.B. das jüdische Sprichwort „Eine Lüge ist eine Lüge, zwei sind Lügen, aber drei sind Politik.“ Politik gilt schon lange als schmutziges Geschäft, als ein garstiges Lied. 

Dieses verallgemeinerte und stereotype Misstrauen gegen die Politik und die Politiker hat im Informationszeitalter eine neue Dimension erhalten. Es geht nicht mehr um den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge, sondern um das zunehmende Verschwinden dieses Unterschieds. Der klassische Lügner weiß, was die Wahrheit ist und dass er sie für seine Zwecke verbiegt. Er anerkennt also die Wahrheit und versteht sein Verhalten als Verstoß dagegen.

Dagegen gibt es für den Lügner aus dem Informationszeitalter nur eine Wahrheit, die sich mit seiner Weltsicht deckt. Er unterscheidet nicht zwischen Subjektivität und Objektivität, sondern erklärt seine subjektiven Ansichten zu objektiven Wahrheiten. Lügner sind dann die anderen, die die eigenen Meinungen nicht teilen, denn sie leugnen das einzige Weltszenario, das es geben kann, nämlich das eigene. Wenn er seine Sichtweise verkündet, kann er gar nicht lügen, weil er meint, nur die Wahrheit zu vertreten.

Der Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit konnte früher immer wieder aufgerichtet werden, wenn sie von Politikern niedergebrochen worden war. Nach der Propagandalawine im Nationalsozialismus haben Politiker mit einigem Erfolg versucht, Vertrauen aufzubauen. Die 68er-Bewegung hat die Lügen der NS-Zeit und die nachfolgenden Versuche der Vertuschung zum Thema gemacht und die Wahrheit und die Gerechtigkeit, also die Bestrafung aller Täter eingemahnt. 

Die scheinbare Glaubwürdigkeit in sozialen Medien 

Die Neigung der Politik zur Manipulation stellt eine beständige Versuchung dar, die aus dem Festhalten der Politiker an der Macht kommt. Kritische Medien und wache Zivilgesellschaften können und müssen diese Tendenzen bekämpfen. Doch wird diese Aufgabe immer schwieriger, weil der Zerfallsprozess zwischen Wahrheit und Unwahrheit  als Resultat der zunehmenden Vereinnahmung der Wahrheitsfindung durch Informationsquellen aus dem Internet immer undurchschaubarer und unkontrollierbarer wird. 

Inzwischen sind die sogenannten sozialen Medien an die Spitze der Glaubwürdigkeit gerückt. Denn sie suggerieren uns, dass wir von unseren Mitmenschen, von unseren Facebook- und Instagram-„Freunden“ direkt informiert werden, so als säßen sie vor uns und wir können genau abschätzen, ob sie die Wahrheit sagen oder lügen. Wenn Leute früher gesagt haben, etwas wäre wahr, weil es im Fernsehen gesagt wurde, so genügt heute eine Nachricht auf Telegramm, und schon gibt es Tausende, die sich die Information als unhinterfragte Wahrheit einverleiben und weiterverbreiten. Faktenchecks sind mühsam und werden oft einfach deshalb nicht gemacht, weil Nachrichten einlangen, die das eigene Weltbild bestätigen und von vertrauenswürdigen Personen kommen, sodass das Gehirn sofort die völlige Zustimmung signalisiert. 

Gemeinwohlschädigende Interessen

Hinter diesen Vorgängen, mit denen sich die Meinungen einer großen Zahl von Menschen fortlaufend selbst bestätigen, stehen politische Interessen (die wirtschaftlichen Interessen, die untrennbar mit den politischen verknüpft sind, lasse ich in diesem Artikel beiseite.) Politische Interessen, die gemeinwohlschädigend sind, müssen versuchen, sich ein soziales Mäntelchen umzuhängen, um sympathisch zu erscheinen und von den Wählern unterstützt zu werden. Mittels der modernen Formen der Wahrheitsverzerrung gelingt die Verschleierung, indem der Unterschied zwischen Wahrheit und subjektiver Erfindung eingeebnet wird. Das Ziel ist die Beseitigung der Wirklichkeit als Bezugspunkt der Wahrheit, sodass die Propaganda ungehindert ins Bewusstsein der Menschen einfließen kann. Dann ist das Kunststück vollbracht, das Wahlvolk dazu zu motivieren, einer Politik zuzustimmen, die ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen zuwiderläuft.

Desinformation, Missinformation und Malinformation

Der britische Investigativjournalist Eliot Higgins, Gründer des Recherchenetzwerks Bellingcat, unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Desinformation, Missinformation und Malinformation. 

Bei der Desinformation handelt es sich um falsche Informationen, die mit der Absicht geteilt wurden, zu betrügen oder zu schaden. Der menschlichen Bosheit sind keine Grenzen gesetzt, deshalb gibt es so viel Desinformation, aber das Informationszeitalter mit seinen schier unbegrenzten Möglichkeiten hat zum inflationären Gebrauch von solchen Widrigkeiten geführt. Die Flutung der Kommunikationsräume mit Unwahrheiten hat den Hauptzweck, Wahrheit und Lüge ununterscheidbar zu machen.

Missinformation wiederum ist Falschinformation, die von Menschen geteilt wurde, weil sie glaubten, dass etwas wahr ist, ohne es selbst zu überprüfen. Das passiert immer öfter, weil so viele Informationen herumschwirren, dass viele selbst beim besten Willen mit dem Nachforschen nicht zurande kommen. Leuten, denen man vertraut, nimmt man ab, was sie von sich geben und verbreitet es weiter, ohne zu merken, dass sie sich des Luges und Truges mitschuldig machen.

Das Verständnis darüber, dass es eine moralische Pflicht darstellt, die Mitmenschen mit fakten- und wahrheitsgetreuer Information zu versorgen, anstatt ungeprüfte faktenferne und ideologiebeladene Nachrichten einfach weiterzuleiten, ist nur mangelhaft ausgebildet. Es ist eine Untugend, denn für schädliche Folgen von Fehlinformationen, die ohne Faktenabklärung weitergegeben wurden, ist auch die Person verantwortlich, die die Nachricht weitervermittelt. Es gibt allerdings keine Instanz, die diese Verantwortung einfordert, und diejenigen, die Falschnachrichten weiterverbreiten, befinden sich in einer Blase, in der sie die Bestätigung und Berechtigung fürs Täuschen und Manipulieren bekommen.

Bei der Malinformation geht es um wahre Information, die aber mit der Absicht, Schaden zu verursachen, veröffentlicht wird – wenn etwa selektiv bestimmte Dateien geleakt werden, aber nicht in ihrer Gänze und in ihrem Zusammenhang wiedergegeben werden. Es handelt sich um Halbwahrheiten oder herausgepickte Details, die hochgespielt werden. Malinformation sind Informationen, die faktisch korrekt sind, aber aus dem Zusammenhang gerissen, selektiv veröffentlicht oder so präsentiert werden, die verleumderisch oder manipulativ wirkt. Es werden z.B.  nur bestimmte Passagen aus einer Rede gezeigt, während der vollständige Zusammenhang weggelassen wird, was beim Publikum einen verzerrten Eindruck hinterlässt.

Zunehmend werden gefälschte Videos in Umlauf gebracht, um politische Gegner zu desavouieren. Eine weitere beliebte Form der Malinformation stellt das willkürliche Interpretieren von Statistiken oder wissenschaftlichen Forschungsresultaten dar. 

Hier ein aktuelles Beispiel: Im letzten halben Jahr haben die rechten Parteien im EU-Parlament die NGOs als Angriffsobjekt erkoren. Der europäische Rechnungshof hatte bemängelt, dass die Vergabe von Förderungen an NGOs intransparent wäre, ohne jedoch Gesetzesverstöße zu finden. Aus dieser Information haben die genannten Parteien den Vorwurf formuliert, dass die NGOs die Klimapolitik der EU beeinflussen würden und dafür Förderungen bekämen, ohne Beweise vorzulegen. Der festgestellte Mangel: Fehlende Transparenz bei der Förderungsvergabe wird benutzt, um die NGOs zu diskreditieren und die EU als undurchsichtige und korrupte Großorganisation darzustellen.

Kontrolle der Informationsgesellschaft als Aufgabe von allen

Wir stehen somit vor der Aufgabe, kompetente und integre Internetkontrolleure zu  werden, um die verschiedenen Formen des Informationsmissbrauches zu erkennen, aufzudecken und mit ethischen Umgangsformen in der Nachrichtenübermittlung der Verrohung der Sitten entgegenzuwirken. Diese Aufgabe ist unerlässlich, weil eine klare Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit eine zentrale Grundlage des menschlichen Zusammenlebens darstellt.

Wo sich Untugenden ausbreiten, braucht es Menschen, die die Tugend einfordern und sie gleichzeitig selbst leben. Es  geht darum, ein Schambewusstsein zu wecken und zu kultivieren. Es muss verhindert werden, dass das Ausnutzen der Schwächen der Informationskonsumenten für die eigenen Zwecke zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit wird. Das Zerstören des Zusammenhalts in der Gesellschaft durch das Verbreiten von Unwahrheit kann und darf nicht hingenommen werden.

Zum Weiterlesen:
Zwischen Wissenschaft und Lügenproduktion
Der Angriff auf den Wahrheitsbegriff von rechts
Wenn Fiktion zum Faktum wird

Montag, 23. Juni 2025

Das "Recht des Stärkeren"

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war geprägt von dem Bemühen vieler Politiker, die Willkür einzelner Machthaber einzugrenzen und durch übergeordnete Gesetze zu regulieren. Es ist die UNO als weltweite Organisation entstanden, der mittlerweile fast alle Staaten der Welt angehören. Die EU wurde auch als Friedensprojekt gegründet, aus der Erkenntnis heraus, dass im 20. Jahrhundert die beiden Weltkriege ihren Anfang in Europa genommen haben. Es wurde internationale Gerichtshöfe ins Leben gerufen, um Kriegsverbrechen weltweit zu ahnden. Es hat in dieser Zeit immer wieder Kriege gegeben, die durch willkürliche Machtansprüche entfesselt wurden. Doch schien ein großer Teil der Weltbevölkerung und der Staaten von der Überzeugung getragen, dass das Recht (das nationale und das Völkerrecht) der Willkür vorangeht. Mächtige haben immer wieder versucht, das Recht in ihrem Sinn zu verbiegen, doch sind sie meist über kurz oder lang gescheitert. 

Wir erleben in dieser Zeit Entwicklungen, die den Anschein erwecken, dass der Konsens jener, die für die rechtliche Regulierung der Willkür eintreten, schwindet zugunsten jener, die das „Recht“ des Stärkeren propagieren und durchsetzen. Schon bei der ersten Präsidentschaft von Donald Trump wurde dieser Schritt vollzogen, doch vor allem nur im Inneren der USA. Viele dieser Willkürakte wurden von der darauf folgenden Regierung wieder rückgängig gemacht. Die zweite Präsidentschaft hat Trump nun von Anfang an ganz offen auf vielen Ebenen durch das Prinzip des Mächtigeren und Stärkeren gegenüber dem Recht ausgerichtet. Gerichtsentscheide werden von der Regierung einfach ignoriert, Richter diffamiert oder abgesetzt. Die Exekutive stellt sich über die Legislative und über die Jurisdiktion, und damit gibt es keine Gewaltenteilung mehr. Wo die Gewaltenteilung ausgehebelt ist, ist eine Diktatur entstanden – die USA befinden sich gerade auf diesem Weg.

Die Konkurrenz der Autokratien und die EU

Die mächtigsten Staaten der Welt, USA, Russland und China, sind damit Diktaturen oder Halbdiktaturen. Sie befinden sich in fortlaufenden Konkurrenzspannungen, die manchmal zu kriegerischen Auseinandersetzungen, oft über Stellvertreter, führen. Die EU, zwar als Wirtschaftsraum mächtig, kann diesen Staaten auf militärischem Gebiet  nichts entgegensetzen. Außerdem fehlt die politische Geschlossenheit in dem Vielstaatengebilde. Aber der Grundkonsens der EU besteht nach wie vor darin, der demokratischen Willensbildung, der Gewaltenteilung und der Korruptionskontrolle den Vorrang einzuräumen, auch wenn es einzelne rechtsgerichtete Regierungen gibt, die diesen Konsens zu unterlaufen versuchen. 

Die politische Weltlandschaft ist also zurzeit so beschaffen, dass die EU den einzigen demokratisch funktionierenden Gegenpol zu den drei autokratisch regierten Weltmächten darstellt. Als 1945 vorgeschlagen wurde, den Papst in die Neuordnung der Welt nach dem 2. Weltkrieg einzubinden, soll Stalin gefragt haben: „Wieviele Divisionen hat der Papst?“ Ähnlich scheint es sich mit dem moralischen Gewicht, das die EU in die Machtthemen der Welt einbringen will, zu verhalten. Wer über die größere Zerstörungskraft verfügt, kann vorgeben, wo es lang geht, wer nicht mit militärischer Übermacht drohen kann, muss sich fügen. Es helfen keine frommen Gebete und moralischen Appelle, wenn die Geschütze losdonnern und die Bombenteppiche ausgebreitet werden. 

Deshalb hat die EU nur die Wahl, weltpolitisch eine nachgeordnete Geige zu spielen oder aufzurüsten, um die europäischen Werte, die der Aufklärung verdankt und verpflichtet sind, mit Gewicht in die verschiedenen Konflikte einzubringen und damit für mehr Menschlichkeit und weniger Willkür zu sorgen. Die Weltlage ist zurzeit so beschaffen, dass es keinen anderen Player gibt, der diese Aufgabe wahrnimmt.

Die Rechtlosigkeit des „Rechts des Stärkeren“

Das „Recht des Stärkeren“, das von Diktatoren und autoritären Herrschern beansprucht wird, ist allerdings kein Recht, sondern besteht in der Außerkraftsetzung des geltenden Rechts. Es ist nichts als die gewaltsame Durchsetzung eigener Willkür. Der blanke Egoismus soll mit der Überstülpung des Begriffes des „Rechts“ eine moralische Legitimation erhalten. Was Recht ist, was erlaubt und was richtig ist, wird vom Machthaber festgelegt und durchgesetzt. Moralische Überlegungen spielen keine Rolle. 

Willkürherrschaft ist ungeeignet für eine moderne Gesellschaft.

Historisch betrachtet, geht die Zurückdrängung von Willkürherrschaft einher mit der Entwicklung von Rechtsstaaten, in denen die Herrschenden auf Gerechtigkeit und Ausgleich achten, damit die immer komplexer werdende Gesellschaft mit dem technischen und ökonomischen Fortschritt mitkommen kann. Es gibt in der Geschichte viele Beispiele, bei denen die Gesellschaft hinter dem Fortschritt zurückgeblieben ist, und dann kam es fast unweigerlich zu Unruhen und Aufständen. Die großen Revolutionen haben alle mit solchen Spannungszuständen zu tun. 

In einer modernen Gesellschaft ist das „Recht des Stärkeren“ dysfunktional und erzeugt massive Konflikte. Denn die Basis für die Abläufe auf allen Ebenen stellen die Werte der Aufklärung dar. Wenn diese Werte zugunsten voraufklärerischer Werte ignoriert werden, kann die Gesellschaft nicht mehr funktionieren und hat nur die Chance, sich auf eine überholte Form der Interaktion zurückzuentwickeln, wie das in autoritär geführten Staaten der Fall ist. Die Prinzipien wie Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte haben dort keinen Stellenwert. Das Leben der Individuen ist stark eingeschränkt und getragen von einem starken Risiko der Bestrafung, falls von den vorgegebenen Normen abgewichen wird.

Willkür ist untauglich, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Wenn sie überhandnimmt, gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder bricht die Gesellschaft irgendwann zusammen und zerfällt in voneinander abgeschottete Festungen oder die Willkür der Mächtigen wird gebrochen. Die Geschichte zeigt jedenfalls auf längere Sicht, dass die Willkür immer wieder in ihre Schranken gewiesen wird. Denn sie bedroht nicht nur die Individuen, sondern ist auch untauglich zur Regulierung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen.

Rechte werden verliehen, nicht angeeignet.

Der Terminus vom „Recht des Stärkeren“ enthält einen weiteren Pferdefuß: Recht ist nicht etwas, das sich Einzelpersonen oder Gruppen einfach nehmen, sondern es wird von der Gemeinschaft formuliert und dann Einzelnen zuerkannt oder abgesprochen. In tribalen Gemeinschaften beraten die Menschen untereinander, welche Regeln für alle gelten.  In Demokratien gibt es Parlamente, in denen diese Prozesse ablaufen. Es heißt, dass das Recht vom Volk ausgeht, also auf einer Zustimmung einer großen Mehrheit in der Gesellschaft aufbaut und auf Basis dieser Rückkoppelung laufend weiterentwickelt wird.

Die Äußerung des Obmanns der FPÖ Herbert Kickl, dass das Recht der Politik folgen muss, stellt eine Ansage für die Errichtung einer Autokratie dar. Das Recht ist der Gegenpol zur politischen Macht und setzt ihr dort Grenzen, wo die Interessen des Gemeinwohls verletzt statt gefördert werden. Zwar entsteht das Recht aus politischen Prozessen, aber wenn es in Geltung gesetzt ist, hat sich die Politik an die Gesetze zu halten und kann sie nur mit qualifizierten Mehrheiten abändern. Wenn Gesetze von Politikern willkürlich gebrochen oder ignoriert werden, müssen sie zur Rechenschaft gezogen werden. Um diese Konsequenzen zu vermeiden, tendieren rechte Politiker zu autoritären Regierungsformen, in denen das Recht nicht mehr vom Volk ausgeht, sondern von den Werten und Interessen der eigenen Partei oder der Führungsperson.

Um die sozialen Rückentwicklungen, die durch die Implementierung des „Rechts des Stärkeren“ in Gang gesetzt werden, hintanzuhalten, gilt es, wachsam gegenüber allen autoritären Tendenzen zu sein und die demokratischen Grundsätze und die Menschen mit allen Mitteln zu verteidigen.

Zum Weiterlesen:
Die Unverschämten und die Korruption
Die Unverschämten und ihr Kampf gegen die Aufklärung
Die Demokratie, die Verschämten und die Unverschämten
Die Verschämten und die Unverschämten

 

Freitag, 20. Juni 2025

Die Unverschämten und die Korruption

Zurzeit wird in Österreich ein Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen FPÖ-Parteiobmann und Vizekanzler Heinz Christian Strache vorbereitet. Er soll sich massiv an den Parteifinanzen für private Zwecke bedient haben: Schiurlaube, Geburtstagsfeste, Taxifahrten von Kindern und Mutter, teure Manschettenknöpfe, die als Büromaterial verbucht wurden usw. Da es sich bei den Parteifinanzen um Gelder handelt, die aus der öffentlichen Hand stammen, also von der Gesellschaft bezahlt werden, „vom kleinen Mann“, für den sich dieser Politiker so hingebungsvoll eingesetzt haben will, geht es um Korruption.

In diesem Artikel behandle ich die Zusammenhänge zwischen unverschämter Machtausübung und Korruption, nach der Erkenntnis, dass Macht korrumpiert, und absolute Macht absolut korrumpiert. Politiker, die zu einer absoluten Machtposition streben, innerhalb einer Partei oder eines ganzen Staates, sind deshalb der Korruption besonders zugeneigt.

Die Flucht aus der Beschämung

Die Sehnsucht von allen Verschämten liegt darin, aus der Scham herauszufinden und selber beschämen zu können, also andere in die Lage der Schwäche und Herabwürdigung zu bringen. Es gibt Verschämten, denen es gelingt, die Seite zu wechseln und in die Rolle der Unverschämten zu schlüpfen. Sie schaffen also die Gegenbesetzung, die Verkehrung ins Gegenteil – die Überwindung der Ohnmacht durch den Erwerb der Macht. Es ist eine Macht, die dann um jeden Preis gehalten und ausgebaut werden muss, denn sie bietet die Sicherheit gegen jede Beschämung.

Ein verbreitetes Mittel zur Verstärkung der Machtposition besteht darin, sie für eigene, persönliche Zwecke (oder die von Nahestehenden oder Verwandten) auszunutzen. Unverschämte, die an die Staatsmacht gelangt sind, sehen das als Einladung zur Selbstbedienung an den Ressourcen des Staates. Sie verfügen über vielfältige Möglichkeiten, Geld, das eigentlich der Gemeinschaft gehört, in die eigenen Taschen abzuzweigen, also Korruption zu praktizieren.

Beschädigung des Gemeinschaftsgefühls

Unter Korruption versteht man den Missbrauch einer anvertrauten Machtstellung oder Funktion zum privaten oder persönlichen Vorteil. In dieser Definition ist übrigens enthalten, dass Macht immer anvertraut ist, also einen Vertrauensvorschuss jener beinhaltet, die die Macht abtreten, z.B. die Wähler in einer Demokratie. Das lateinische Wort corrumpere bedeutet so viel wie verderben. Wenn Einzelne die Allgemeinheit für ihre egoistischen Zwecke ausnutzen, verderben sie das Gemeinschaftsgefühl in sich selber, sie lassen also die Schamgefühle, die sie an prosoziales Handeln erinnern, absterben. Sie sind dann verdorben oder verfault in dem Bereich ihrer Seele, der sie auf die Bedürfnisse der Mitmenschen aufmerksam machen will. 

Sie beschädigen auch das Gemeinschaftsgefühl im Außen. Denn der gesellschaftliche Zusammenhalt wird mit jeder korrupten Handlung geschwächt, die Vertrauensgrundlage erleidet einen Riss, das Misstrauen wächst. Dazu kommt, dass gemeinschaftsschädigendes Verhalten den Anreiz zur Nachahmung bietet. Menschen wollen sich grundsätzlich sozial verhalten, wenn sie aber merken, dass sich andere ihren Egoismus erlauben, sehen sie nicht ein, warum sie auf eigene Vorteile gegenüber der Gemeinschaft verzichten sollen. Auf diese Weise beginnt der soziale Zusammenhalt zu erodieren.

Außerdem ist eine besondere Form der Unverschämtheit, sich an der Gemeinschaft für die eigene Bereicherung zu bedienen, denn im Grund wird die ganze Gemeinschaft beschämt, der die beschämende Person angehört. Sie wird als Objekt der Bereicherung betrachtet, ohne eigenen Wert. Man kann ihr wegnehmen, was man will, ohne jede Rücksichtnahme.

Zwar entzieht sich die unverschämte Person gewissermaßen selbst den Boden, der ihre Sicherheit gewährleistet. Denn sie leben ja selber aus und durch die Gemeinschaft. Aber unverschämte Menschen sind unfähig, an die Konsequenzen ihrer Handlungen zu denken, weil sie den Blick in die Zukunft perfekt verschließen können. In ihrer Machtverblendung meinen sie, dass es das Universum gut mit ihnen meint, weil es sie an die Spitze gebracht hat und nun so reichlich mit öffentlichen Gütern versorgt. Also kümmern sie sich nicht um die Folgen ihrer Unverschämtheiten, sondern genießen sie. Fliegen die Machenschaften auf, so geben sie sich verwundert und empört, als wäre es eine bodenlose Frechheit und Bosheit, wenn jemand die Verbrechen aufdeckt, in die sie sich verwickelt haben. 

Rache an Eltern als Hintergrund der Korruptionsgier

Die Rechtfertigung für ihr Tun finden die Unverschämten im Hintergrund ihrer Seele in ihrer Vergangenheit und in allem, was ihnen angetan wurde, als sie noch klein und ohnmächtig waren. Die Unverschämtheit ist die Rache für erlittene Beschämungen. Die Korruption besteht darin, sich zurückzuholen, was einem die Eltern schuldig geblieben sind. Aus der kindlichen Sichtweise wirken die Eltern als Allmacht im Ganzen; für die korrupten Politiker steht dann der „Vater“-Staat stellvertretend für die Eltern, an dem sie sich jetzt schadlos halten können – als Rache und als Ausgleich für erlittenes Leid. Den Tätern in der eigenen Lebensgeschichte soll heimgezahlt werden, was sie verbrochen haben. Es sind solche unbewusst wirkende Mechanismen, die Politiker zur Korruption und Wirtschaftstreibende zur Steuerhinterziehung anleiten. 

Da Unverschämte viel zu wenig Empathie in ihren Aufwachsen erhalten haben, bringen sie auch kein Mitgefühl für die Opfer der eigenen Rücksichtslosigkeiten und Bosheiten auf, sondern glauben sich im vollen Recht, sich auf Kosten anderer Menschen und der Allgemeinheit zu bereichern. Sie denken nur an die Schädigungen, die sie selbst erlitten haben, und sie suchen jene Formen der Wiedergutmachung, die sie reicher und mächtiger macht. Denn Reichtum und Machtfülle gelten ihnen als einzige Absicherung gegen jede Gefahr der Beschämung und Demütigung.

Ein funktionierendes Justizsystem in demokratischen Staaten ist der beste Garant gegen ausufernde Korruption. Dazu kommen investigative Medien, die oft Korruptionsfälle aufdecken. In autoritär regierten Staaten werden deshalb die Medien an die Kandare genommen, die Justiz wird politisch beeinflusst, um die korrupten Machenschaften nicht zu behindern. 

Zum Weiterlesen:
Die Unverschämten und ihr Kampf gegen die Aufklärung
Die Demokratie, die Verschämten und die Unverschämten
Die Verschämten und die Unverschämten