Montag, 23. Juni 2025

Das "Recht des Stärkeren"

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war geprägt von dem Bemühen vieler Politiker, die Willkür einzelner Machthaber einzugrenzen und durch übergeordnete Gesetze zu regulieren. Es ist die UNO als weltweite Organisation entstanden, der mittlerweile fast alle Staaten der Welt angehören. Die EU wurde auch als Friedensprojekt gegründet, aus der Erkenntnis heraus, dass im 20. Jahrhundert die beiden Weltkriege ihren Anfang in Europa genommen haben. Es wurde internationale Gerichtshöfe ins Leben gerufen, um Kriegsverbrechen weltweit zu ahnden. Es hat in dieser Zeit immer wieder Kriege gegeben, die durch willkürliche Machtansprüche entfesselt wurden. Doch schien ein großer Teil der Weltbevölkerung und der Staaten von der Überzeugung getragen, dass das Recht (das nationale und das Völkerrecht) der Willkür vorangeht. Mächtige haben immer wieder versucht, das Recht in ihrem Sinn zu verbiegen, doch sind sie meist über kurz oder lang gescheitert. 

Wir erleben in dieser Zeit Entwicklungen, die den Anschein erwecken, dass der Konsens jener, die für die rechtliche Regulierung der Willkür eintreten, schwindet zugunsten jener, die das „Recht“ des Stärkeren propagieren und durchsetzen. Schon bei der ersten Präsidentschaft von Donald Trump wurde dieser Schritt vollzogen, doch vor allem nur im Inneren der USA. Viele dieser Willkürakte wurden von der darauf folgenden Regierung wieder rückgängig gemacht. Die zweite Präsidentschaft hat Trump nun von Anfang an ganz offen auf vielen Ebenen durch das Prinzip des Mächtigeren und Stärkeren gegenüber dem Recht ausgerichtet. Gerichtsentscheide werden von der Regierung einfach ignoriert, Richter diffamiert oder abgesetzt. Die Exekutive stellt sich über die Legislative und über die Jurisdiktion, und damit gibt es keine Gewaltenteilung mehr. Wo die Gewaltenteilung ausgehebelt ist, ist eine Diktatur entstanden – die USA befinden sich gerade auf diesem Weg.

Die Konkurrenz der Autokratien und die EU

Die mächtigsten Staaten der Welt, USA, Russland und China, sind damit Diktaturen oder Halbdiktaturen. Sie befinden sich in fortlaufenden Konkurrenzspannungen, die manchmal zu kriegerischen Auseinandersetzungen, oft über Stellvertreter, führen. Die EU, zwar als Wirtschaftsraum mächtig, kann diesen Staaten auf militärischem Gebiet  nichts entgegensetzen. Außerdem fehlt die politische Geschlossenheit in dem Vielstaatengebilde. Aber der Grundkonsens der EU besteht nach wie vor darin, der demokratischen Willensbildung, der Gewaltenteilung und der Korruptionskontrolle den Vorrang einzuräumen, auch wenn es einzelne rechtsgerichtete Regierungen gibt, die diesen Konsens zu unterlaufen versuchen. 

Die politische Weltlandschaft ist also zurzeit so beschaffen, dass die EU den einzigen demokratisch funktionierenden Gegenpol zu den drei autokratisch regierten Weltmächten darstellt. Als 1945 vorgeschlagen wurde, den Papst in die Neuordnung der Welt nach dem 2. Weltkrieg einzubinden, soll Stalin gefragt haben: „Wieviele Divisionen hat der Papst?“ Ähnlich scheint es sich mit dem moralischen Gewicht, das die EU in die Machtthemen der Welt einbringen will, zu verhalten. Wer über die größere Zerstörungskraft verfügt, kann vorgeben, wo es lang geht, wer nicht mit militärischer Übermacht drohen kann, muss sich fügen. Es helfen keine frommen Gebete und moralischen Appelle, wenn die Geschütze losdonnern und die Bombenteppiche ausgebreitet werden. 

Deshalb hat die EU nur die Wahl, weltpolitisch eine nachgeordnete Geige zu spielen oder aufzurüsten, um die europäischen Werte, die der Aufklärung verdankt und verpflichtet sind, mit Gewicht in die verschiedenen Konflikte einzubringen und damit für mehr Menschlichkeit und weniger Willkür zu sorgen. Die Weltlage ist zurzeit so beschaffen, dass es keinen anderen Player gibt, der diese Aufgabe wahrnimmt.

Die Rechtlosigkeit des „Rechts des Stärkeren“

Das „Recht des Stärkeren“, das von Diktatoren und autoritären Herrschern beansprucht wird, ist allerdings kein Recht, sondern besteht in der Außerkraftsetzung des geltenden Rechts. Es ist nichts als die gewaltsame Durchsetzung eigener Willkür. Der blanke Egoismus soll mit der Überstülpung des Begriffes des „Rechts“ eine moralische Legitimation erhalten. Was Recht ist, was erlaubt und was richtig ist, wird vom Machthaber festgelegt und durchgesetzt. Moralische Überlegungen spielen keine Rolle. 

Willkürherrschaft ist ungeeignet für eine moderne Gesellschaft.

Historisch betrachtet, geht die Zurückdrängung von Willkürherrschaft einher mit der Entwicklung von Rechtsstaaten, in denen die Herrschenden auf Gerechtigkeit und Ausgleich achten, damit die immer komplexer werdende Gesellschaft mit dem technischen und ökonomischen Fortschritt mitkommen kann. Es gibt in der Geschichte viele Beispiele, bei denen die Gesellschaft hinter dem Fortschritt zurückgeblieben ist, und dann kam es fast unweigerlich zu Unruhen und Aufständen. Die großen Revolutionen haben alle mit solchen Spannungszuständen zu tun. 

In einer modernen Gesellschaft ist das „Recht des Stärkeren“ dysfunktional und erzeugt massive Konflikte. Denn die Basis für die Abläufe auf allen Ebenen stellen die Werte der Aufklärung dar. Wenn diese Werte zugunsten voraufklärerischer Werte ignoriert werden, kann die Gesellschaft nicht mehr funktionieren und hat nur die Chance, sich auf eine überholte Form der Interaktion zurückzuentwickeln, wie das in autoritär geführten Staaten der Fall ist. Die Prinzipien wie Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte haben dort keinen Stellenwert. Das Leben der Individuen ist stark eingeschränkt und getragen von einem starken Risiko der Bestrafung, falls von den vorgegebenen Normen abgewichen wird.

Willkür ist untauglich, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Wenn sie überhandnimmt, gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder bricht die Gesellschaft irgendwann zusammen und zerfällt in voneinander abgeschottete Festungen oder die Willkür der Mächtigen wird gebrochen. Die Geschichte zeigt jedenfalls auf längere Sicht, dass die Willkür immer wieder in ihre Schranken gewiesen wird. Denn sie bedroht nicht nur die Individuen, sondern ist auch untauglich zur Regulierung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen.

Rechte werden verliehen, nicht angeeignet.

Der Terminus vom „Recht des Stärkeren“ enthält einen weiteren Pferdefuß: Recht ist nicht etwas, das sich Einzelpersonen oder Gruppen einfach nehmen, sondern es wird von der Gemeinschaft formuliert und dann Einzelnen zuerkannt oder abgesprochen. In tribalen Gemeinschaften beraten die Menschen untereinander, welche Regeln für alle gelten.  In Demokratien gibt es Parlamente, in denen diese Prozesse ablaufen. Es heißt, dass das Recht vom Volk ausgeht, also auf einer Zustimmung einer großen Mehrheit in der Gesellschaft aufbaut und auf Basis dieser Rückkoppelung laufend weiterentwickelt wird.

Die Äußerung des Obmanns der FPÖ Herbert Kickl, dass das Recht der Politik folgen muss, stellt eine Ansage für die Errichtung einer Autokratie dar. Das Recht ist der Gegenpol zur politischen Macht und setzt ihr dort Grenzen, wo die Interessen des Gemeinwohls verletzt statt gefördert werden. Zwar entsteht das Recht aus politischen Prozessen, aber wenn es in Geltung gesetzt ist, hat sich die Politik an die Gesetze zu halten und kann sie nur mit qualifizierten Mehrheiten abändern. Wenn Gesetze von Politikern willkürlich gebrochen oder ignoriert werden, müssen sie zur Rechenschaft gezogen werden. Um diese Konsequenzen zu vermeiden, tendieren rechte Politiker zu autoritären Regierungsformen, in denen das Recht nicht mehr vom Volk ausgeht, sondern von den Werten und Interessen der eigenen Partei oder der Führungsperson.

Um die sozialen Rückentwicklungen, die durch die Implementierung des „Rechts des Stärkeren“ in Gang gesetzt werden, hintanzuhalten, gilt es, wachsam gegenüber allen autoritären Tendenzen zu sein und die demokratischen Grundsätze und die Menschen mit allen Mitteln zu verteidigen.

Zum Weiterlesen:
Die Unverschämten und die Korruption
Die Unverschämten und ihr Kampf gegen die Aufklärung
Die Demokratie, die Verschämten und die Unverschämten
Die Verschämten und die Unverschämten

 

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