„Ich bin verletzt.“ „Du hast mich verletzt.“ „Sie war ganz verletzt.“ Solche Äußerungen fallen immer wieder in der Kommunikation, und in den meisten Fällen geht es nicht um körperliche Verletzungen, sondern um seelische Wunden. Wie wir wissen, können bei Menschen emotionale Verletzungen die gleichen Reaktionen im Gehirn hervorrufen wie körperliche Verwundungen.
Was sind Verletzungen? Sobald wir uns mit einem Messer
schneiden, reagiert der Körper sofort durch das Austreten von Blut und
signalisiert die Verletzung nach innen mit einem Schmerzreiz. Analog erleben wir
seelische Verletzungen. Sie entstehen dadurch, dass etwas von außen in unsere
Sphäre eindringt, das uns Schmerz bereitet, weil wir es als schädlich, feindlich
und bedrohlich erleben. In diesem Fall reagiert die Seele. Obwohl der Körper
heil bleibt, leiden wir.
Körperliche und emotionale Verletzungen tun weh, körperlich
und/oder psychisch. Deshalb meiden wir die Gefahren für Verletzungen, so gut es
geht, und wollen es auch tunlichst unterlassen, andere zu verletzen. Denn
Verletzungen, die wir anderen zufügen, schmerzen uns auch selber, wenn wir emotional
mit der Person verbunden sind, die wir verletzt haben. Zusätzlich dazu lösen sie
bei uns ein Schamgefühl aus. Die Scham meldet sich nämlich sofort, sobald eine
Verletzung im zwischenmenschlichen Bereich auftritt.
Da die Scham die Wächterin über die sozialen Beziehungen
ist, schaut sie auch darauf, dass es im sozialen Netzwerk möglichst zu keinen
Verletzungen kommt. Sie sagt: Hüte dich davor, jemandem weh zu tun, denn dann
melde ich mich und bereite dir ein äußerst unangenehmes Gefühl. Sie wirkt also zur
Abschreckung vor Respektlosigkeiten und Grenzüberschreitungen und hilft uns bei
der Impulskontrolle, sodass wir die Neigungen, andere achtlos zu behandeln, möglichst
im Keim unterbinden.
Wir können nicht nicht verletzen
Wir können nicht nicht verletzen, wenn wir uns in sozialen
Beziehungen bewegen, und das tun wir die ganze Zeit. Es kommt deshalb immer
wieder zu Störungen in der Kommunikation, zu Missverständnissen und zu
Verletzungen. So unvollkommen die Menschen sind, so unvollkommen sind auch ihre
Beziehungen. Wir können unsere Achtsamkeit verbessern und daran arbeiten,
sensibler für die Grenzen und für die heiklen Punkte bei anderen Menschen zu
werden. Dennoch sind und bleiben unsere Mitmenschen Mysterien, die wir nie zur
Gänze verstehen können, und wir sind Mysterien für sie.
Die Unendlichkeit der Unterschiede unter den Menschen
Daraus folgt, dass die Menschen über ganz unterschiedliche
Empfindlichkeiten und Störungsquellen verfügen, die in den verschiedenen Beziehungen
aktiviert werden. Diese Unterschiede tragen zur enormen Komplexität und
Vielschichtigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen bei. Und deshalb ist es gar
nicht möglich, einander nicht zu verletzen. Selbst bei den besten Absichten können
wir nicht alle Faktoren berücksichtigen, die eine Verletzung bei anderen
auslösen können.
Die Auslöser für Verletzungen sind nämlich so vielfältig wie
es Menschen gibt. Was den einen stört und aufregt, ist für den anderen eine
willkommene Abwechslung oder eine Hilfe. Es gibt Menschen, die sich verletzt
fühlen, wenn sie einen Ratschlag bekommen, andere sind dankbar dafür. Viele reagieren
beleidigt, wenn sie auf einen Fehler hingewiesen werden, andere nehmen es als sinnvollen
Hinweis für eine Verbesserung.
Unter den Menschen treten auch unterschiedliche Grade der Verletzbarkeit
auf. Manche Leute stecken Beleidigungen mit Humor weg oder bleiben so bei sich,
dass sie nicht getroffen werden, sondern gelassen bleiben. Andere sind von
feinen atmosphärischen Verstimmungen gleich tief verletzt. Was die eine gar
nicht bemerkt oder nicht ernst nimmt, löst bei der anderen eine emotionale
Krise aus. Jemand vergisst schnell, was ihm Schlimmes passiert ist, jemand
anderer muss immer wieder und lange Zeit daran denken und bleibt dauerhaft
gekränkt. Für die eine ist ein Vorkommnis eine Bagatelle, für die andere das
gleiche Ereignis eine Katastrophe.
Menschen unterscheiden sich durch ihren Hauttypus; auf der
emotionalen Ebene spricht man von dünnhäutig und dickhäutig, je nachdem, wie
leicht oder schwer die Reaktion auf eine Verletzung ausgelöst wird. Dünnhäutige
Menschen spüren sofort, wenn ihnen etwas zuwider läuft. Dickhäutige hingegen merken
nicht oder kaum, wenn sie schlecht behandelt werden. Sie gehen scheinbar
darüber hinweg, können aber oft dann nachträglich darunter leiden und sich
ärgern, nicht rechtzeitig darauf reagiert zu haben. Den Dickhäutern spricht man
deshalb ein Langzeitgedächtnis für erlittene Verletzungen und Demütigungen zu,
das zu verheerenderen Reaktionen anstiften kann als sie bei Dünnhäutigen
vorkommen. Sie verfügen über ein emotionales Fass, das lange nicht voll ist,
aber dann kommt der Tropfen, der es zum Überlaufen bringt, und der bewirkt dann
eine Explosion, die sich gewaschen hat. Er führt dann unter Umständen zu einer
Gewaltaktion oder zum kompletten Beziehungsabbruch, der für die andere Person
völlig überraschend kommt und nicht nachvollziehbar ist.
Das Bewerten der Verletzlichkeit
Es hilft nicht weiter, wenn wir Bewertungskriterien
einführen und z.B. Menschen, die ganz leicht verletzbar sind, als übersensibel
und hysterisch abwerten, oder die, die viel weniger verletzbar sind, als unsensibel
und verhärtet diagnostizieren. Denn die Auslöser für Verletzungen und die Tiefe
von Verletzungserfahrungen sind von Faktoren bestimmt, über die kein Mensch die
Kontrolle hat, sondern die vom Unbewussten aus gesteuert werden. Sie reichen
von genetischen und epigenetischen Komponenten über die persönliche
Traumageschichte zu den im Leben erlernten Konditionierungen und Mustern, die
in den verschiedenen zwischenmenschlichen Beziehungen aktiviert werden.
Wer andere wegen ihrer leichten Verletzbarkeit abwertet,
sollte lieber bei sich selber nachschauen, ob nicht hinter der Abwertung ein
Schutz für die eigene Verletzlichkeit steckt. Die eigenen Wunden zu spüren ist
riskant. Es könnte ja sein, dass jeder dann genau diese heiklen Stellen treffen
könnte. Also ist es für manche leichter, sich unverletzlich zu geben und als
projektiven Schutz die Verletzlichkeit anderer zu kritisieren. Der Halbgott
Achill und der germanische Held Siegfried mussten qualvoll sterben, obwohl sie
fast unverwundbar waren. Sie dienen als Mahnmal für die Brüchigkeit der
Illusion der Nichtverletzbarkeit. Wilhelm Reich hat diese Abwehr als Panzerung
bezeichnet und damit ebenfalls eine Analogie zur Gewalttätigkeit gezogen, die
die Kehrseite der Verletzlichkeit darstellt: Wer nicht verletzbar ist, kann
umso leichter andere verletzen. Wer nicht umgebracht werden kann, kann umso
leichter andere Umbringen. Er ist der bessere Krieger, messbar an der Zahl der
erschlagenen Feinde.
Selbstabwertung
Weiters ist es auch nicht hilfreich, sich selbst wegen der
eigenen Verletzbarkeit abzuwerten und uns z.B. mit anderen zu vergleichen, die
weniger empfindlich sind. Die eigene Verletzungsgeschichte können wir nicht
ungeschehen machen, sie ist passiert, wie sie passiert ist, und sie hat uns zu
dem gemacht, was wir sind. Wir können aber aus den alten Belastungen
herauswachsen und die alten Wunden heilen, sodass sie in der Gegenwart nicht
mehr oder nicht mehr in dem früheren Ausmaß aktiviert werden.
Im selben Maß können wir unsere Kompetenz im Verständnis für
die Täter erweitern und vergrößern. Statt ihnen böse Absichten zu unterstellen,
können wir die „Unschuldsvermutung“ anstellen, d.h. annehmen, dass sie aus
Unwissenheit und Unbewusstheit so gehandelt haben, wie sie gehandelt haben. Sie
sind keine vollkommenen Menschen, wie wir selber.
Vermeidungsformen
So unterschiedlich die Quellen für Verletzungen sind, so
unterschiedlich sind auch die Vermeidungsformen des Verletzens. Es gibt die
Rationalisierung, z.B. durch die Erklärung, dass es wohl nicht so gemeint war. Oder
die Umwandlung der Verletzung in Wut, nach dem Motto: Angriff ist die beste
Verteidigung. Eine andere Möglichkeit bietet der Rückzug ins Beleidigtsein,
indem durch einen Kontaktabbruch signalisiert wird, was einem angetan wurde. Oder
die Retourkutsche, bei der z.B. eine Beleidigung mit einer Gegenbeleidigung
beantwortet wird.
Entsprechend der Rollen, die wir in der Kindheit übernommen
haben, bilden wir Programme aus, die später unser Leben bestimmen. Eines dieser
Programme lautet: „Ich darf niemanden verletzen.“ Die Begründung dieses Verbots
kann darin liegen, dass es fast unerträglich ist, andere in ihrem Verletztsein
sehen zu müssen. Es handelt sich um eine Identifikation …ist so mächtig, dass
der eigene Schmerz so stark ist wie bei der anderen Person. Es handelt sich
gewissermaßen um eine Überreaktion der Spiegelneurone. Es fällt schwer, das
Eigene vom Fremden zu unterscheiden. Sobald eine andere Person verletzt ist,
brechen die Ich-Grenzen zusammen und der eigene Schmerzkörper schlüpft,
bildlich gesprochen, in die verletzte Person hinein.
Hinter diesem Muster steckt das Verbot, die eigenen
Verletzlichkeiten spüren zu dürfen, und das Gebot, die Leidenszustände und
Schmerzen der anderen, vor allem der Eltern wichtiger zu nehmen als die
eigenen. Das eigene Ich darf keine klaren Grenzen haben, damit es seine
Sensoren bei den anderen hat, um deren Grenzen nicht zu verletzen.
Manche Menschen halten es für riskant, andere zu verletzen, weil
sie sich vor der Reaktion fürchten, die verheerend ausfallen könnte. Diesem
Muster liegen entsprechende Erfahrungen aus der Kindheit zugrunde: Das Kind
verärgert einen Elternteil, der darauf mit viel Zorn oder physischer Gewalt
reagiert. Es wird die Schlussfolgerung gezogen, dass es überlebenswichtig ist, penibel
auf die Grenzen der anderen Menschen zu achten, um ja keinen Fehler zu begehen.
Falls doch ein Schritt zu weit geschehen ist, der bei den anderen Unmut
auslösen könnte, muss schnell die Notbremse gezogen werden. Die rechtzeitige
oder besser noch vorzeitige Zurücknahme der eigenen Impulse wird zum Programm. Zu
diesem Zweck entwickelt sich eine verfeinerte Wahrnehmung für die subtilen Signale,
die andere aussenden, bevor sie noch ihre Grenzen als überschritten erachten. Die
Wahrnehmung ist also vorwiegend auf solche Signale ausgerichtet, mit dem Zweck,
schon im Vorfeld jegliche Gefahr von aggressiven Reaktionen zu unterbinden.
Diese eingeprägte Haltung bewirkt, dass der Kontakt nach innen geschwächt wird
und die eigenen Bedürfnisse hintan gereiht werden. Damit wird der Selbstwert
geschwächt und statt dessen die Anpassungshaltung gestärkt: „Andere sind
wichtiger als ich. Was ich will, ist weniger wichtig als das, was die anderen
wollen.“ Es verbergen sich hinter dieser Haltung viele Ängste und Schamgefühle.
Freilich gibt es zu diesem Muster auch das Gegenprogramm,
das in die Aggression statt in die Anpassung geht und die Opfer- in eine
Täterposition umwandelt: „Ich muss andere verletzen, sonst bin ich nicht sicher.“
Es entsteht aus einer Vielfalt und langen Dauer von Verletzungserfahrungen und soll
als präventiver Schutz vor weiteren schmerzhaften Erfahrungen dienen. Lieber
sollen andere leiden als ich, der ich schon so viel erdulden und durchleben
musste, so die Devise. Es handelt sich dabei um eine eingeprägte Rachereaktion,
mit der die Seele versucht, ihr Gleichgewicht auf Kosten anderer wieder
herzustellen. Solche Programme führen allerdings vor allem dazu, dass die
Hemmschwelle zum Verletzen anderer sinkt und damit das Ausmaß an Leid und
Unsicherheit wächst. Langfristig wird die Basis des wechselseitigen Vertrauens
zerstört, und ihr Wiederaufbau ist dann sehr mühsam und langwierig.
Verständnis für die Schwächen stärkt
Jede menschliche Gesellschaft braucht für ihren Zusammenhalt
den Respekt und die Achtung für die individuelle Verletzlichkeit ihrer
Mitglieder. Das Menschsein umfasst starke und schwache Seiten, sichere und unsichere
Element, und das gesamte Spektrum gehört gesehen und wertgeschätzt. Eine
Gesellschaft ist umso stärker, je mehr Raum sie für die Schwächen ihrer
Mitglieder hat.
Zum Weiterlesen:
Die toxische Männlichkeit und die Verletzlichkeit
Scham und Verletzlichkeit
Verletzlichkeit und Würde
Die Zerbrechlichkeit und Unzerstörbarkeit der Menschenwürde
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