Montag, 8. August 2022

Verletzlichkeit, Teil des Menschseins

„Ich bin verletzt.“ „Du hast mich verletzt.“ „Sie war ganz verletzt.“ Solche Äußerungen fallen immer wieder in der Kommunikation, und in den meisten Fällen geht es nicht um körperliche Verletzungen, sondern um seelische Wunden. Wie wir wissen, können bei Menschen emotionale Verletzungen die gleichen Reaktionen im Gehirn hervorrufen wie körperliche Verwundungen.

Was sind Verletzungen? Sobald wir uns mit einem Messer schneiden, reagiert der Körper sofort durch das Austreten von Blut und signalisiert die Verletzung nach innen mit einem Schmerzreiz. Analog erleben wir seelische Verletzungen. Sie entstehen dadurch, dass etwas von außen in unsere Sphäre eindringt, das uns Schmerz bereitet, weil wir es als schädlich, feindlich und bedrohlich erleben. In diesem Fall reagiert die Seele. Obwohl der Körper heil bleibt, leiden wir.

Körperliche und emotionale Verletzungen tun weh, körperlich und/oder psychisch. Deshalb meiden wir die Gefahren für Verletzungen, so gut es geht, und wollen es auch tunlichst unterlassen, andere zu verletzen. Denn Verletzungen, die wir anderen zufügen, schmerzen uns auch selber, wenn wir emotional mit der Person verbunden sind, die wir verletzt haben. Zusätzlich dazu lösen sie bei uns ein Schamgefühl aus. Die Scham meldet sich nämlich sofort, sobald eine Verletzung im zwischenmenschlichen Bereich auftritt.

Da die Scham die Wächterin über die sozialen Beziehungen ist, schaut sie auch darauf, dass es im sozialen Netzwerk möglichst zu keinen Verletzungen kommt. Sie sagt: Hüte dich davor, jemandem weh zu tun, denn dann melde ich mich und bereite dir ein äußerst unangenehmes Gefühl. Sie wirkt also zur Abschreckung vor Respektlosigkeiten und Grenzüberschreitungen und hilft uns bei der Impulskontrolle, sodass wir die Neigungen, andere achtlos zu behandeln, möglichst im Keim unterbinden.

Wir können nicht nicht verletzen

Wir können nicht nicht verletzen, wenn wir uns in sozialen Beziehungen bewegen, und das tun wir die ganze Zeit. Es kommt deshalb immer wieder zu Störungen in der Kommunikation, zu Missverständnissen und zu Verletzungen. So unvollkommen die Menschen sind, so unvollkommen sind auch ihre Beziehungen. Wir können unsere Achtsamkeit verbessern und daran arbeiten, sensibler für die Grenzen und für die heiklen Punkte bei anderen Menschen zu werden. Dennoch sind und bleiben unsere Mitmenschen Mysterien, die wir nie zur Gänze verstehen können, und wir sind Mysterien für sie.

Die Unendlichkeit der Unterschiede unter den Menschen

Daraus folgt, dass die Menschen über ganz unterschiedliche Empfindlichkeiten und Störungsquellen verfügen, die in den verschiedenen Beziehungen aktiviert werden. Diese Unterschiede tragen zur enormen Komplexität und Vielschichtigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen bei. Und deshalb ist es gar nicht möglich, einander nicht zu verletzen. Selbst bei den besten Absichten können wir nicht alle Faktoren berücksichtigen, die eine Verletzung bei anderen auslösen können.

Die Auslöser für Verletzungen sind nämlich so vielfältig wie es Menschen gibt. Was den einen stört und aufregt, ist für den anderen eine willkommene Abwechslung oder eine Hilfe. Es gibt Menschen, die sich verletzt fühlen, wenn sie einen Ratschlag bekommen, andere sind dankbar dafür. Viele reagieren beleidigt, wenn sie auf einen Fehler hingewiesen werden, andere nehmen es als sinnvollen Hinweis für eine Verbesserung.

Unter den Menschen treten auch unterschiedliche Grade der Verletzbarkeit auf. Manche Leute stecken Beleidigungen mit Humor weg oder bleiben so bei sich, dass sie nicht getroffen werden, sondern gelassen bleiben. Andere sind von feinen atmosphärischen Verstimmungen gleich tief verletzt. Was die eine gar nicht bemerkt oder nicht ernst nimmt, löst bei der anderen eine emotionale Krise aus. Jemand vergisst schnell, was ihm Schlimmes passiert ist, jemand anderer muss immer wieder und lange Zeit daran denken und bleibt dauerhaft gekränkt. Für die eine ist ein Vorkommnis eine Bagatelle, für die andere das gleiche Ereignis eine Katastrophe.

Menschen unterscheiden sich durch ihren Hauttypus; auf der emotionalen Ebene spricht man von dünnhäutig und dickhäutig, je nachdem, wie leicht oder schwer die Reaktion auf eine Verletzung ausgelöst wird. Dünnhäutige Menschen spüren sofort, wenn ihnen etwas zuwider läuft. Dickhäutige hingegen merken nicht oder kaum, wenn sie schlecht behandelt werden. Sie gehen scheinbar darüber hinweg, können aber oft dann nachträglich darunter leiden und sich ärgern, nicht rechtzeitig darauf reagiert zu haben. Den Dickhäutern spricht man deshalb ein Langzeitgedächtnis für erlittene Verletzungen und Demütigungen zu, das zu verheerenderen Reaktionen anstiften kann als sie bei Dünnhäutigen vorkommen. Sie verfügen über ein emotionales Fass, das lange nicht voll ist, aber dann kommt der Tropfen, der es zum Überlaufen bringt, und der bewirkt dann eine Explosion, die sich gewaschen hat. Er führt dann unter Umständen zu einer Gewaltaktion oder zum kompletten Beziehungsabbruch, der für die andere Person völlig überraschend kommt und nicht nachvollziehbar ist.

Das Bewerten der Verletzlichkeit

Es hilft nicht weiter, wenn wir Bewertungskriterien einführen und z.B. Menschen, die ganz leicht verletzbar sind, als übersensibel und hysterisch abwerten, oder die, die viel weniger verletzbar sind, als unsensibel und verhärtet diagnostizieren. Denn die Auslöser für Verletzungen und die Tiefe von Verletzungserfahrungen sind von Faktoren bestimmt, über die kein Mensch die Kontrolle hat, sondern die vom Unbewussten aus gesteuert werden. Sie reichen von genetischen und epigenetischen Komponenten über die persönliche Traumageschichte zu den im Leben erlernten Konditionierungen und Mustern, die in den verschiedenen zwischenmenschlichen Beziehungen aktiviert werden.

Wer andere wegen ihrer leichten Verletzbarkeit abwertet, sollte lieber bei sich selber nachschauen, ob nicht hinter der Abwertung ein Schutz für die eigene Verletzlichkeit steckt. Die eigenen Wunden zu spüren ist riskant. Es könnte ja sein, dass jeder dann genau diese heiklen Stellen treffen könnte. Also ist es für manche leichter, sich unverletzlich zu geben und als projektiven Schutz die Verletzlichkeit anderer zu kritisieren. Der Halbgott Achill und der germanische Held Siegfried mussten qualvoll sterben, obwohl sie fast unverwundbar waren. Sie dienen als Mahnmal für die Brüchigkeit der Illusion der Nichtverletzbarkeit. Wilhelm Reich hat diese Abwehr als Panzerung bezeichnet und damit ebenfalls eine Analogie zur Gewalttätigkeit gezogen, die die Kehrseite der Verletzlichkeit darstellt: Wer nicht verletzbar ist, kann umso leichter andere verletzen. Wer nicht umgebracht werden kann, kann umso leichter andere Umbringen. Er ist der bessere Krieger, messbar an der Zahl der erschlagenen Feinde.

Selbstabwertung

Weiters ist es auch nicht hilfreich, sich selbst wegen der eigenen Verletzbarkeit abzuwerten und uns z.B. mit anderen zu vergleichen, die weniger empfindlich sind. Die eigene Verletzungsgeschichte können wir nicht ungeschehen machen, sie ist passiert, wie sie passiert ist, und sie hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Wir können aber aus den alten Belastungen herauswachsen und die alten Wunden heilen, sodass sie in der Gegenwart nicht mehr oder nicht mehr in dem früheren Ausmaß aktiviert werden.

Im selben Maß können wir unsere Kompetenz im Verständnis für die Täter erweitern und vergrößern. Statt ihnen böse Absichten zu unterstellen, können wir die „Unschuldsvermutung“ anstellen, d.h. annehmen, dass sie aus Unwissenheit und Unbewusstheit so gehandelt haben, wie sie gehandelt haben. Sie sind keine vollkommenen Menschen, wie wir selber.

Vermeidungsformen

So unterschiedlich die Quellen für Verletzungen sind, so unterschiedlich sind auch die Vermeidungsformen des Verletzens. Es gibt die Rationalisierung, z.B. durch die Erklärung, dass es wohl nicht so gemeint war. Oder die Umwandlung der Verletzung in Wut, nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. Eine andere Möglichkeit bietet der Rückzug ins Beleidigtsein, indem durch einen Kontaktabbruch signalisiert wird, was einem angetan wurde. Oder die Retourkutsche, bei der z.B. eine Beleidigung mit einer Gegenbeleidigung beantwortet wird.

Entsprechend der Rollen, die wir in der Kindheit übernommen haben, bilden wir Programme aus, die später unser Leben bestimmen. Eines dieser Programme lautet: „Ich darf niemanden verletzen.“ Die Begründung dieses Verbots kann darin liegen, dass es fast unerträglich ist, andere in ihrem Verletztsein sehen zu müssen. Es handelt sich um eine Identifikation …ist so mächtig, dass der eigene Schmerz so stark ist wie bei der anderen Person. Es handelt sich gewissermaßen um eine Überreaktion der Spiegelneurone. Es fällt schwer, das Eigene vom Fremden zu unterscheiden. Sobald eine andere Person verletzt ist, brechen die Ich-Grenzen zusammen und der eigene Schmerzkörper schlüpft, bildlich gesprochen, in die verletzte Person hinein.

Hinter diesem Muster steckt das Verbot, die eigenen Verletzlichkeiten spüren zu dürfen, und das Gebot, die Leidenszustände und Schmerzen der anderen, vor allem der Eltern wichtiger zu nehmen als die eigenen. Das eigene Ich darf keine klaren Grenzen haben, damit es seine Sensoren bei den anderen hat, um deren Grenzen nicht zu verletzen.

Manche Menschen halten es für riskant, andere zu verletzen, weil sie sich vor der Reaktion fürchten, die verheerend ausfallen könnte. Diesem Muster liegen entsprechende Erfahrungen aus der Kindheit zugrunde: Das Kind verärgert einen Elternteil, der darauf mit viel Zorn oder physischer Gewalt reagiert. Es wird die Schlussfolgerung gezogen, dass es überlebenswichtig ist, penibel auf die Grenzen der anderen Menschen zu achten, um ja keinen Fehler zu begehen. Falls doch ein Schritt zu weit geschehen ist, der bei den anderen Unmut auslösen könnte, muss schnell die Notbremse gezogen werden. Die rechtzeitige oder besser noch vorzeitige Zurücknahme der eigenen Impulse wird zum Programm. Zu diesem Zweck entwickelt sich eine verfeinerte Wahrnehmung für die subtilen Signale, die andere aussenden, bevor sie noch ihre Grenzen als überschritten erachten. Die Wahrnehmung ist also vorwiegend auf solche Signale ausgerichtet, mit dem Zweck, schon im Vorfeld jegliche Gefahr von aggressiven Reaktionen zu unterbinden. Diese eingeprägte Haltung bewirkt, dass der Kontakt nach innen geschwächt wird und die eigenen Bedürfnisse hintan gereiht werden. Damit wird der Selbstwert geschwächt und statt dessen die Anpassungshaltung gestärkt: „Andere sind wichtiger als ich. Was ich will, ist weniger wichtig als das, was die anderen wollen.“ Es verbergen sich hinter dieser Haltung viele Ängste und Schamgefühle.

Freilich gibt es zu diesem Muster auch das Gegenprogramm, das in die Aggression statt in die Anpassung geht und die Opfer- in eine Täterposition umwandelt: „Ich muss andere verletzen, sonst bin ich nicht sicher.“ Es entsteht aus einer Vielfalt und langen Dauer von Verletzungserfahrungen und soll als präventiver Schutz vor weiteren schmerzhaften Erfahrungen dienen. Lieber sollen andere leiden als ich, der ich schon so viel erdulden und durchleben musste, so die Devise. Es handelt sich dabei um eine eingeprägte Rachereaktion, mit der die Seele versucht, ihr Gleichgewicht auf Kosten anderer wieder herzustellen. Solche Programme führen allerdings vor allem dazu, dass die Hemmschwelle zum Verletzen anderer sinkt und damit das Ausmaß an Leid und Unsicherheit wächst. Langfristig wird die Basis des wechselseitigen Vertrauens zerstört, und ihr Wiederaufbau ist dann sehr mühsam und langwierig.

Verständnis für die Schwächen stärkt

Jede menschliche Gesellschaft braucht für ihren Zusammenhalt den Respekt und die Achtung für die individuelle Verletzlichkeit ihrer Mitglieder. Das Menschsein umfasst starke und schwache Seiten, sichere und unsichere Element, und das gesamte Spektrum gehört gesehen und wertgeschätzt. Eine Gesellschaft ist umso stärker, je mehr Raum sie für die Schwächen ihrer Mitglieder hat.

Zum Weiterlesen:
Die toxische Männlichkeit und die Verletzlichkeit
Scham und Verletzlichkeit
Verletzlichkeit und Würde
Die Zerbrechlichkeit und Unzerstörbarkeit der Menschenwürde

 

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