Donnerstag, 11. August 2022

Die frühkindlichen Wurzeln der Ideologien

Ideologien sind Fantasiegebilde, die die Übersichtlichkeit in komplexen Situationen versprechen. Die Fantasie bewirkt, dass die Ideologie nur lose mit der Wirklichkeit in Verbindung steht, sie nimmt ein paar Elemente und filtert die meisten aus. Die von ihren Zusammenhängen isolierten Elemente werden verallgemeinert, deshalb All-Aussagen. Geben Sicherheit auf der Emotionalebene. Sicherheit auf der Emotionalebene brauchten wir als Embryos im Mutterleib. Deshalb ist jede Ideologie mitsamt ihren Symbolen geladen von embryonalen Themen. Ideologien dienen den frühkindlichen Sicherheitsbedürfnissen. Sie sind ungeeignet für das Verstehen der Realität und für das Entwickeln von konstruktiven Handlungen. Sie wirken retraumatisierend, d.h. sie verstärken die Traumalast, die vor allem in der pränatalen Phase entstanden ist und befestigen die Abwehr dagegen.

Ideologien wirken erwachsen und richten sich auch vorwiegend an Erwachsene. Denn sie werden in sprachlicher Form übermittelt und folgen einer Logik, die stringent wirkt, aber nur Sinn macht, wenn die jeweiligen Grundannahmen akzeptiert werden. Diese Grundlagen und Ausgangspunkte bleiben aber im Dunkeln und sollen außer Frage stehen. Jeder Versuch, die Vorannahmen herauszuarbeiten und mit der Realität zu konfrontieren, muss bekämpft werden, weil er das ganze Gebäude der Ideologie bedroht. Ideologien entstehen also nicht aus der Realität, sondern sie nutzen die Realität ausschnittsweise oder verzerrt, um das eigene Konzept und Narrativ plausibel zu machen und zu begründen.

Sie sind also kindlichen Ursprungs, vorrational, traumähnlich und emotional geladen. Sie tragen die Traumaenergie aller nicht geheilten frühen Verletzungen in sich. Sie kommen aus der rechten Gehirnhemisphäre und sprechen ihre Anhänger auf dieser Ebene an. Wie wir wissen, verfügen Embryos und Babys nur über die emotional geprägte rechte Gehirnhälfte. Die linke Hälfte entwickelt sich langsam während der Kindheit, verbunden mit dem Erwerb der Sprache. In diesem Prozess verändert sich die Wirklichkeitserfahrung: Ursprünglich gibt es keine klare Grenzen zwischen Realität und Fantasie; erst die linke Hemisphäre sorgt für die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion, zwischen innen und außen und zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Jede Traumaerfahrung bringt zurück in die vorrationale Sphäre des Erlebens und Wahrnehmens. Damit bieten sich kollektive Traumafelder als ideale Nährboden für Ideologien an. Die Pandemiezeit hat viele Beispiele für diesen Zusammenhang hervorgebracht. Menschen, die sich im Bann eines individuellen oder eines kollektiven Traumas befinden, sind gelähmt und verunsichert; sie klammern sich deshalb oft an die Strohhalme, die Ideologien oder Verschwörungstheorien anbieten. Selbst eine Idee ohne jeden Bezug zur Realität kann ein Stück Sicherheit und Orientierung bieten, das dringend benötigt wird. Auf diese Weise verbindet sich die Überlebenshoffnung mit der Theorie oder Ideologie bis hin zu einer Identifizierung. Wenn diese Fixierung erfolgt ist, muss die Ideologie um den scheinbaren Preis des Überlebens verteidigt werden. Das gedankliche Konstrukt ist voll mit Emotionen aufgeladen und wird mit unterstützenden Informationen abgesichert und vor widersprechenden Informationen abgeschottet. In Extremfällen wird das eigene Selbst über die Ideologie definiert.

Erwachsensein heißt, die eigenen Fantasien beständig an der Realität zu überprüfen, also das Innere mit dem Äußeren abzugleichen. Erwachsensein ist mit der Erfahrung der permanenten Veränderung, der Unbeständigkeit und des fortlaufenden Lernens vertraut. Erwachsenwerden bedeutet, sich von Identifikationen zu lösen und das eigene Selbst in jedem Moment neu zu definieren. Das erwachsene Selbst umfasst auch das kindliche Selbst, aber es ist dafür zuständig, dass es zwischen diesen beiden Instanzen eine klare Unterscheidung gibt, dass sich also das innere Kind nicht unerkannt in die erwachsenen Agenden einmischt.

Ideologien tragen nichts zum gesellschaftlichen Fortschritt bei, im Gegenteil, sie sind Hemmschuhe der sozialen und politischen Evolution. Die Aufklärung umfasst das Unterfangen, Ideologien mit der Realität zu konfrontieren und auf dieser Weise ihrer sinnstiftenden Macht zu entkleiden. Eine Welt ohne Ideologien ist eine Welt, in der die Erwachsenen das letzte Wort haben und die Verantwortung für die Entscheidungen tragen, die die Zukunft der Menschheit betreffen.

Zum Weiterlesen:
Kindsein und Erwachsensein
Das Kind in uns
Verschwörungstheorien und Normalitätsscham
Wirklichkeit und Fantasieprodukte

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