Donnerstag, 7. Juli 2022

Böse sind immer die anderen, oder?

Was andere falsch machen und uns antun, merken wir meist schneller als das, was wir selber angestellt haben. Wenn andere unsere Grenzen überschreiten oder missachten, reagiert unser System sofort mit Alarmreaktionen, und wir merken uns solche Vorfälle auch leichter, weil sie in unserem Angstgedächtnis solide abgespeichert werden. Deshalb kommen wir schnell zur intuitiven Auffassung, dass das Böse um uns herum geschieht und wir selber nur ganz selten, wenn überhaupt, seiner Versuchung unterliegen. Außerdem meinen wir, dass unser Leid schlimmer ist als das der Menschen, die sich bei uns über unser Verhalten beklagen. Den eigenen Schmerz spüren wir allemal stärker als jenen der Mitmenschen.

In Beziehungen entstehen aus diesen Sichtweisen die bekannten Ping-Pong-Spiele, die wir schon im Sandkasten mit Gleichaltrigen gelernt haben: Du warst zuerst gemein zu mir; du warst viel böser zu mir als ich zu dir; du hast mich tiefer verletzt als ich dich, usw. 

Wenn wir nicht ganz unverschämt sind, sehen wir einen Teil der Schuld an solchen Streitereien bei uns, aber üblicherweise den kleineren. Wir wähnen uns als die Besseren und können damit unsere Selbstachtung aufrechterhalten. Zugleich geraten wir in die Opferrolle, denn wenn wir schwerer betroffenen sind als die andere Person, sind wir als Opfer einem mächtigeren Täter in die Hände geraten. Die Opferrolle ist mit Ohnmacht und Hilflosigkeit verbunden, und deshalb ist sie uns sehr unsympathisch, auch wenn sie uns dazu dienen kann, diejenigen, die uns Böses antun, anzuprangern. Tätersein ist noch unsympathischer als die Opferrolle. Schließlich können wir mit der Unterstützung und Empathie der Umwelt rechnen, wenn wir unschuldig einer Bosheit zum Opfer fallen.

Diese Dynamik kennen wir aus vielfältigen Beziehungserfahrungen. Anderen Böses zuzuschreiben haben wir früh gelernt, als unsere Eltern einer Verwechslung aufgesessen sind: Wir haben als Kinder etwas gemacht, was nicht den Regeln oder Erwartungen entsprochen hat, und wurden dafür mit moralischen Zuschreibungen zurechtgewiesen: Du bist böse, wenn du so etwas machst. Die Eltern haben unser unschuldiges und unwissendes Verhalten mit unserer Person verwechselt und diese infrage gestellt, was uns auf einer tiefen Ebene getroffen, verunsichert, beschämt und verletzt hat.

Später nutzen wir als Waffe, was uns früher verletzt hat. Unser Unbewusstes will sich rächen für Verletzungen, die uns früh zugefügt wurden. Andere Menschen werden zur Projektionszielscheibe, obwohl die Beschädigung, die uns leiden lässt, schon lange vorher zugefügt worden ist.

Die Notwendigkeit und Relativität der moralischen Kritik 

Wenn es nun so heikel und missverständlich ist, wenn wir das Böse in anderen wahrnehmen und rückmelden, sollten wir deshalb lieber den Mund halten? Sollten wir wegschauen oder darüber hinweggehen? Wir müssen Akte des Bösen, die andere begehen, benennen. Denn die Untaten von Mitmenschen zu ignorieren, zu vertuschen oder zu entschuldigen, ist selber eine Untat, weil sie das Bestehen von Amoralität unterstützt oder begünstigt. Wir sind also beim Wegschauen, Schönreden, Bagatellisieren oder Ablenken von bösen Handlungen selber mit dem Bösen im Bunde. Böses, das nicht in die Schranken gewiesen wird, neigt zur Wiederholung und Ausbreitung. Wer mit Betrug Erfolg hat, wird zu weiteren Betrugshandlungen ermutigt. Wer mit gewaltsamer Konfliktlösung durchgekommen ist, wird schneller den Impuls verspüren, den anderen niederzureden oder zuzuschlagen.

Wir helfen grundsätzlich dem Guten, wenn wir Böses aufzeigen und auf Täter und ihre Taten aufmerksam machen. Allerdings ist das Benennen des Bösen nur gut, wenn die angeprangerte Tat wirklich böse ist, was oft nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann. Es kann sein, dass wir die Sachlage nicht ausreichend überprüft haben und deshalb eine ungerechtfertigte Kritik anbringen, die aus Projektionen gespeist ist und der anderen Person Unrecht tut.

Dazu kommt, dass es individuelle Maßstäbe für das Gute und das Böse gibt, die durch Kindheitserfahrungen entstanden sind. Dazu kommen noch kollektive Einflüsse. Sie stammen aus dem sozio-kulturellen Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind und enthalten häufig gewichtige Anteile an ungeprüften Ideologien und Glaubenssystemen. All diese Maßstäbe sind von Emotionen und emotional geprägten Erfahrungen getränkt, die meist über das Unbewusste die inneren Bewertungskriterien beherrschen und in der öffentlichen Debatte mitmischen. Die rationalen Begründungen bei solchen Bewertungen und daraus abgeleiteten Maßstäben spielen im Allgemeinen nur die zweite Geige.

Die Rolle der Scham

Moralische Kritik ist also für die Pflege des Zusammenlebens notwendig. Sie bedient sich der Scham als emotionalem Hebel: Wer eines asozialen Verhaltens beschuldigt wird, soll mit Scham reagieren und mit deren Unterstützung sein Verhalten ändern. Das schlechte Gewissen für eine schlechte Handlung entsteht, wenn ihre Sozialschädlichkeit erkannt und benannt wird. Oft meldet sich das Schamgefühl gleich nach der Tat, manchmal braucht es die Nachhilfe durch aufmerksame Mitmenschen. In diesen Fällen war eine Schamabwehr aktiv, die die eigene Schamreaktion unterdrückt hat, indem es ein Gefühl der Selbstrechtfertigung erzeugt hat.

Die Zwiespältigkeit der moralischen Kritik

Was noch zu beachten ist: Bei der Kritik am Verhalten anderer Menschen begeben wir uns allzu leicht in die übergeordnete Position einer moralischen Autorität, die uns eigentlich nicht zusteht. Wir sind ja keine besseren Menschen als all die anderen, wir verfügen nicht über das Monopol der moralischen Bewertung. Vielmehr befinden wir uns grundsätzlich mit allen Menschen auf einer Augenhöhe. Nur wenn jemand durch sein Tun aus dem konsensuellen Rahmen des Zusammenlebens ausgeschert ist und auf Kosten der Mitmenschen den eigenen Vorteil betreibt, wenn also jemand die Ebene der Augenhöhe verlassen hat, muss die Überschreitung der Regeln kritisiert und eine Korrektur eingemahnt werden. Vorausgesetzt, es handelt sich um Regeln, die für das Zusammenleben unerlässlich und erforderlich sind, damit es weiterhin funktionieren kann.

Wir befinden uns also in einer Zwickmühle: Wir müssen das Böse in den anderen Menschen aufzeigen und begeben uns selber ins Reich des Bösen, sobald wir uns auf ein moralisches Podest stellen und von dort mit Verachtung auf die Übeltäter herabschauen. Dieser Falle entgehen wir nur, wenn wir unsere Kritik möglichst frei von Ego-Einflüssen halten. Im Grund handelt es sich um einen selbstlosen Dienst, den wir damit der Gemeinschaft leisten. Wir sollten dabei nicht zulassen, dass sich Impulse zum Beschämen einschleichen, wie z.B. bei einer herabwürdigenden oder lächerlichmachenden Kritik. Auch spöttische Belehrungen, haltlose Unterstellungen, Erpressungen oder Drohungen fallen unter diese Kategorie, die aus moralischer Arroganz gespeist ist. 

Egofreie Rückmeldungen

Stattdessen gilt es, darauf zu achten, dass die Kritik von einem Ort der Wertschätzung kommt. Die kritisierte Person sollte als Mensch respektiert werden und sich so fühlen können, und diese Haltung sollte auch in der Form der Kritik zum Ausdruck gebracht werden, indem wir sie mit Respekt und Höflichkeit äußern. Was auch immer Menschen Böses tun, berechtigt uns nicht, eine Position der verachtenden Überheblichkeit einzunehmen, aus der heraus wir die andere Person als ganze aburteilen. Sobald sich also unser Ego einmischt, richten wir mehr Schaden an als wir an Nutzen erzeugen können.

Wir alle verfallen selber manchmal dem Antrieb zum Bösen, ohne dass wir es wirklich wollen. So geht es auch den anderen, wenn sie Schaden anrichten: Ihr Unbewusstes hat sie im Griff. Wir sind in unserer Anfälligkeit für das Böse gleich. Wir können nur selber dafür sorgen, dass sich diese Antriebe verringern. Von den anderen können wir nur hoffen, dass sie zu besseren Menschen werden wollen.

Kritik, die wir im Rahmen von Respekt und Wertschätzung ausüben, hat viel höhere Chancen darauf, dass sie angenommen und umgesetzt wird, als aggressiv oder abschätzig geäußerte Rückmeldungen. Sobald eine moralische Kritik mit druckvollen Änderungserwartungen verstärkt wird, erzeugt sie Ängste und Schamgefühle, die zu Abwehrformen und Widerstand führen. Wenn hingegen spürbar ist, dass es die Person, die uns kritisiert, grundsätzlich gut mit uns meint, tun wir uns leichter, unser Verhalten zu ändern. Umgekehrt heißt das, dass wir, wenn uns das Verhalten anderer stört oder verletzt, nur mit einer achtungsvollen Einstellung bewirken können, dass sich die andere Person ändert. Jeder Druck, jeder Stress, den wir in die Rückmeldung hineinlegen, läuft unseren eigenen Intentionen zuwider und führt zum Gegenteil von dem, was wir eigentlich erreichen wollen. 


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