Wir kommen als bedürftige Wesen auf die Welt. Wenn etwas unserem Organismus und unserer Psyche fehlt, wird es als innere Spannungen spürbar und führt dann zu spontanen Unmutsäußerungen. Erfolgt die passende Reaktion aus der Umwelt, dann löst sich die Bedürfnisspannung auf und es kehrt Friede und Glück ein. Mit der Zeit lernen die Kleinkinder, mit ihren Bedürfnissen umzugehen. Die Frustrationstoleranz wächst und die Befriedigungsreaktion muss nicht sofort, sondern kann auch zeitverzögert erfolgen. So erfährt das Kind, dass es sich darauf verlassen kann, dass Bedürfnisse früher oder später gestillt werden. Und es kann sich verlassen, dass auf das Bedürfnis die richtige Form der Befriedigung folgt. Auf diese Weise bleibt es mit der Weisheit seines Organismus und seiner Psyche verbunden. Es erhält beständig Rückmeldungen darüber, was gerade fehlt, welcher Mangel besteht und wie er beruhigt werden kann. Jede erfolgreiche Befriedigung wirkt als bestätigende Rückmeldung: Es ist in Ordnung, Bedürfnisse zu haben, zu äußern und es kann darauf vertraut werden, die passende Befriedigung zu bekommen.
Soweit das Idealbild. In der Regel vollziehen sich die
Abläufe nicht so reibungslos und einfach. Es kann zu Fehlinterpretationen der
Bedürfnisäußerungen des Kindes kommen, sodass auf die Bedürfnisäußerung eine
andere Form der Befriedigung kommt, z.B. auf das Bedürfnis nach Zuwendung wird
das Kind mit Nahrung gefüttert. In diesen Fällen entwickeln sich andere
Rückkoppelungsschleifen mit dem Resultat: „Meine Bedürfnisse sind nicht richtig;
was sie eigentlich sind, zeigt sich an dem, wie die anderen darauf reagieren.
Entsprechend muss ich lernen, meine Bedürfnisse neu zu verstehen und mich an
diese Änderung zu gewöhnen.“
Es zählt dann nicht mehr das innere Wissen, sondern maßgeblich
wird die Reaktion, die von außen kommt. Die äußeren Instanzen übernehmen die
Deutungshoheit. Als Folge wird der Selbstbezug mit dem inneren Sinn und dem
Spüren von organischen Bedürfnissen geschwächt. In diese Schneise schmuggeln
sich immer mehr künstliche Bedürfnisse ein, die sich, wenn sie regelmäßig
befriedigt werden, zu Gewohnheiten verfestigen. Das Kind geht mit in den
Supermarkt und erwartet sich eines von den Schleckereien an der Kassa.
Bedürfnisproduktion im Kapitalismus
Schritt für Schritt wächst das Kind in eine Gesellschaft
hinein, in der die Bezüge zur organismischen Weisheit systematisch zurückgedrängt
werden, weil damit kein Profit gemacht werden kann. Das kapitalistische
Wirtschaftssystem funktioniert nur auf der Basis einer maximalen Distanz
zwischen Natur und menschlichem Geist. Es beruht auf der Ignoranz der
organischen Bedürfnisse, die durch künstliche Bedürfnisse ersetzt werden, also
solche, die das kapitalistische System hervorbringt und die ihm dienen.
Die Verlockungen bestehen in den Versprechen nach mehr
Sicherheit und Bequemlichkeit. Die produzierten und vermarkteten Waren sollen
unser Leben und vorhersehbarer und angenehmer machen. Wir bekommen mit dem
Warenerwerb die Vorspiegelung von Entspannung und Kontrolle mitgeliefert. Die
Fülle der dargebotenen Güter in den Konsumtempeln verleitet zur Illusion, dass Waren
emotionale Bedürfnisse befriedigen und dass schließlich selbst das Glück
käuflich ist.
Emotional labile Menschen sind die optimalen Mitspieler in
der kapitalistischen Konsumwelt. Deshalb ist es im Interesse dieses Systems,
dass die Menschen emotional verunsichert sind und bleiben. Menschen, die ihre
organismischen Bedürfnisse von anerzogenen und sekundär erworbenen
unterscheiden können und die ihre Kaufentscheidungen nach rationalen,
vielleicht sogar noch ökologischen Kriterien abwägen, sind schlechte Mitspieler
im Produktions-Konsumationskreislauf. Sie tragen zu wenig zum
Wirtschaftswachstum und zum Bruttonationalprodukt bei.
Die Werbung, der Motor der kapitalistischen Wirtschaft, will
mit emotionalen Botschaften ins Innere der Menschen eindringen und sich dort
festsetzen. Das geht umso leichter, wenn der Adressat innerlich unsicher ist
und den Bezug zu seinen organismischen Bedürfnissen verloren hat. In solchen
Fällen kann sich eine Werbebotschaft wie ein Implantat oder ein Chip im Inneren
festsetzen. (Vermutlich halten deshalb viele Menschen die Angst vor Chips, die
angeblich über Impfungen in den Körper eingeschleust werden, für real, weil sie
die Erfahrung mit den emotionalen Chips der medialen Werbung schon kennen.)
Solche Fremdkörper sind wie Symbolträger des Selbstentfremdungsprozesses, der
hier abläuft. Sie etablieren Gewohnheiten, die über fixierte Nervenbahnen im
Gehirn abgesichert werden. Möglichst viele Nervenzellen werden darauf getrimmt,
ihre Glücksbotenstoffe nur dann freizusetzen, wenn ein bestimmtes Produkt
konsumiert wird, sei es eine Zigarette, ein Auto oder ein modisches Kleid.
Zweierlei Gewohnheiten
Wir bilden Gewohnheiten aus, um uns das Leben zu
erleichtern. Routineabläufe ersparen uns energetisch aufwändige
Entscheidungsprozesse. Jeden Tag neu überlegen zu müssen, wie man sich die
Zähne putzt oder die Schuhe bindet, verschwendet unnötig Ressourcen. Denn für
Entscheidungen verbraucht unser Gehirn viel Glukose und Sauerstoff. Deshalb
werden viele Abläufe an das Unterbewusste delegiert, das sie dann in der immer
gleichen Form abspult.
Es gibt aber auch Gewohnheiten, die zwar nach dem gleichen
Muster funktionieren, aber unser Leben nicht erleichtern, sondern ihm
zusätzliche Lasten aufbürden. Jede Form der Sucht beruht auf Gewohnheiten und
ihren Mechanismen. Solche substanzgebundene oder substanzungebundene
Abhängigkeiten bestehen in Routineabläufen und fixierten Ritualen, z.B. die
Zigarette beim Morgenkaffee, der Blick ins Mobiltelefon nach dem Aufstehen oder
der Kauf einer Süßspeise beim Konditor. Es entsteht eine innere Unruhe, wenn der
Akt der Suchthandlung ausbleibt oder sich verzögert. Stress baut sich auf, als
würde die im Inneren verankerte Gewohnheit schreien wie ein Baby, das seinen
Schnuller verloren hat.
Suchtverhalten tritt also bei Erwachsenen auf, die sich dann
wie Babys verhalten. Sie sind die Sklaven ihrer Gewohnheiten, die ihnen
diktieren, was wann geschehen muss. Solche Gewohnheiten erleichtern nicht das
Leben, sondern engen es ein. Sie beschneiden die Freiheit, in Extremfällen so
stark, dass alles andere dem Suchtverhalten untergeordnet wird.
Doch sind solche Gewohnheiten derart weit verbreitet, dass
sie gar nicht mehr so auffallen wie die Extremfälle. Kaum jemand ist frei von selbstdestruktiven
Gewohnheiten. Einesteils liegen die Wurzelursachen in der Kindheit, andernteils
ist es die Umgebung in einer Gesellschaft, die von Leistung und Konsum beherrscht
ist. Die Konsumwirtschaft versucht, Kauf- und Konsumgewohnheiten zu verbreiten,
um ihre Absätze und Gewinne zu steigern. Ein Beispiel: Die
Nahrungsmittelindustrie entdeckte, wie durch das Beimischen von Industriezucker
zu verschiedenen Nahrungsmitteln der Absatz gesteigert werden konnte. Dass
Tomatensoße Zucker enthalten muss, war vorher nicht notwendig. Sobald sich aber
die Gaumen der Kunden daran gewöhnt haben, wird der Zucker unverzichtbar, „weil
es sonst nicht schmeckt“. Die Geschmacksknospen wurden umerzogen, die Mund- und
Darmbakterien verlangen nach mehr Zucker, damit sie ihre Kolonien pflegen
können, und die Gewinne der Produzenten wachsen. Dass der Volksgesundheit damit
kein guter Dienst erwiesen wird, steht auf einem anderen Blatt, und all die
dadurch entstehenden Schäden trägt die Allgemeinheit, sprich wiederum werden
die Konsumenten zur Kassa „gebeten“.
Das Wiederfinden der organismischen Bedürfnisse
Gibt es einen Weg zurück zu den organismischen Bedürfnissen,
wenn so viele Bereiche der Innenwelt sowohl auf der psychischen wie auf der
physischen Ebene von solchen manipulativen Fremdeinflüssen besetzt sind? Es
braucht Disziplin, um Gewohnheiten loszuwerden, so auch hier. Ein Beispiel liefert
das Fasten. Durch den disziplinierten Verzicht auf feste Nahrung ändern sich
viele Stoffwechselprozesse im Körper. Auch das Mikrobiom gestaltet sich um.
Viele Menschen berichten, dass einfache Nahrungsmittel nach dem Fastenbrechen
viel besser und intensiver schmecken. Was vorher fixe Gewohnheit war, z.B. die
Marmelade aufs Brot, hat auf einmal seinen Reiz verloren. Doch wenn wir
nachhaltige Änderungen erzielen wollen, ist es wichtig, die alten Gewohnheiten
nicht wieder einreißen zu lassen. Die Disziplin muss also auch nach dem Ende
des Fastens aufrecht bleiben, sonst sind die alten Muster ganz schnell wieder
da. Wenn es gelingt, die Erträge des Fastens zu sichern und weiterhin fruchtbar
zu machen, dann gelingt die Rückkehr zu den inneren, vom Organismus und von der
Psyche gesteuerten Bedürfnissen, zumindest auf der Ebene der Nahrungsaufnahme.
Ein anderes Beispiel für die Selbstdisziplin liegt darin,
sich zu entscheiden, auf bestimmte Nahrungsmittel gänzlich zu verzichten, z.B. auf
Fleisch, Zucker oder Weizengebäck. Es hilft bei einem derartigen Entschluss,
sich eine entsprechende neue Identität zu geben, z.B. sich nun als Vegetarier oder
Zuckervermeider oder Glutenverzichter zu bezeichnen und dieses Etikett im
Freundes- und Bekanntenkreis zu verbreiten.
Einen weiteren Weg bietet jede Form von Achtsamkeitstraining
und Meditation. Die Aufmerksamkeit nach innen zu richten und auf den
gegenwärtigen Moment zu beschränken, stärkt die Besinnung auf sich selbst und führt
zur Stärkung der Unterscheidungskraft zwischen dem, was wir wirklich brauchen
und dem, was uns als Bedürfnis eingeredet wurde.
Gewohnheiten, die einen zwanghaften Charakter haben und von
künstlich erzeugten Bedürfnissen kontrolliert werden, engen unsere Freiheit ein
und entfremden uns von uns selbst. Denn sie machen sich in unserem Inneren als
Fremdkörper sesshaft und lassen sich, wenn sie einmal eingewurzelt sind, nur
mehr schwer vertreiben. Doch leisten wir uns selber einen guten Dienst, wenn wir
alten Gewohnheiten mutig, diszipliniert und konsequent Lebewohl sagen, die wir
als selbstschädigend und selbsteinschränkend erkannt haben. Wir finden auf diesem
Weg zurück zur Weisheit unseres Organismus und machen uns ein Stück
unabhängiger von den Manipulationsmechanismen der Konsumgesellschaft. Auch das
dauerhafte und tiefe Glück können wir nur in diesem unseren Inneren finden.
Zum Weiterlesen:
Disziplinierung und Selbstdisziplin
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen