Mittwoch, 27. Juli 2022

Der Pflegenotstand und unser Denken

Stellen wir uns eine Runde von Menschen vor, die sich noch nicht kennen. Eine Person sagt: „Ich bin Pfleger in einem Krankenhaus.“ Die nächste sagt: „Ich arbeite als Krankenschwester.“ Der dritte teilt mit: „Ich bin Oberarzt mit einer Privatpraxis.“ Die inneren Reaktionen auf diese Mitteilungen werden ganz unterschiedlich ausfallen. Es entsteht unvermeidbar in der eigenen Fantasiewelt eine innere Rang- und Statusordnung. Der Pfleger bekommt weniger Achtung und Respekt als der Arzt. Ohne es zu merken, werde ich mit dem Arzt anders reden als mit dem Pfleger.

Jeder von uns trägt die gesellschaftliche Rangordnung in sich und wendet sie fortwährend an. Niemand würde sagen, dass eine von den drei Menschen als Person mehr wert wäre als eine andere. Aber innerlich ist uns klar, für wen wir mehr Wertschätzung und Respekt haben und für wen weniger. Alle diese Personen haben viel dafür eingesetzt, um sich für ihren Beruf zu qualifizieren. Da gibt es natürlich Unterschiede. Ärzte müssen länger lernen als Krankenschwestern oder Pfleger. Aber in ihrer Arbeit wird allen viel abverlangt, und da ist es schon schwerer zu sagen, wer mehr leistet, weil die Anforderungen sehr unterschiedlich sind.

Die gesellschaftlichen Rangordnungen richten sich nicht nach der tatsächlichen Leistung, sondern nach vordefinierten Kriterien, die die Bewertungen dessen, was als Leistung gilt, steuern. Dazu gehört die Macht, die jemand kraft seiner Verantwortung trägt. Auch der Grad der Bildung wird einberechnet, wenn es um das Image geht.

Der Arztberuf steht weit oben auf der Rangliste. Auch wenn das blütenweiße Image dieses Berufs in letzter Zeit Flecken erhalten hat und manche Menschen den Ärzten immer weniger vertrauen, steht ihr Image noch immer viel weiter oben als das aller anderen Personen, die im Gesundheitsbereich arbeiten. Die „Götter/Göttinnen in weiß“ haben schließlich das letzte Wort, wenn es um Leben und Tod geht.  Wer mehr Macht hat, verdient mehr Respekt. Denn sich mit jemand Mächtigen anzulegen ist immer riskant.

Diese Macht wissen die Standesvertreter der Ärzteschaft weidlich zu nutzen und wollen sie nicht teilen. Wer will es sich schon mit den Ärzten anlegen? Schließlich kann uns allen blühen, dass wir hilflos an Schläuchen in einem Krankenbett liegen, ausgeliefert dem ärztlichen Urteil, das über uns verhängt wird und unser weiteres Schicksal bestimmt.

Der Pflegenotstand wird allseits ausgerufen, weil die Menschen älter werden und die Pflege durch die Angehörigen in vielen Fällen nicht geleistet wird und weil zu wenig Menschen diesen Beruf ergreifen bzw. längerfristig ausüben. Es ist ein sehr anstrengender Beruf mit niedrigem Image, d.h. die Menschen mühen sich ab und kriegen wenig Anerkennung dafür. Hier ist der Hebel anzusetzen, um den Notstand zu beheben. Wir sehen zwar, dass eine Schere in diesem Bereich immer weiter auseinander klafft, und meinen, dass sich etwas ändern müsste, denken aber nicht daran, dass diese Änderung in unseren Köpfen beginnen sollte. Denn solange wir nur mitleidig und etwas verächtlich auf die Pflegeberufe herabschauen, wirken wir an dem Bewusstsein mit, dass die Angehörigen dieser Berufsgruppe auf den unteren Rängen der Statuseinstufung bleiben. Daraus folgt, dass die Bezahlung und sonstige Vergünstigungen auf der untersten Ebene verbleibt. Und darauf folgt dann wieder, dass sich wenige Menschen für diesen Beruf entscheiden oder dauerhaft dabei bleiben. Viele Pfleger werfen den Job nach wenigen Jahren wieder hin, u.a. auch wegen der fehlenden sozialen und monitären Anerkennung.

Denn die Höhe der Bezahlung folgt in weiten Bereichen der Gesellschaft nicht der Leistung, sondern der Einstufung auf der Rangleiter. Damit hier mehr Gerechtigkeit walten kann, ist es notwendig, dass wir unsere inneren Bewertungen ändern und erkennen, wie wichtig jede Arbeit ist, die in der Gesellschaft und für die Gesellschaft geleistete wird. Es darf auch Unterschiede in der Bezahlung geben, die als Anreiz für bessere Qualifizierungen dienen kann. Doch braucht es auf den unteren Stufen der Rang- und Einkommensskala deutlichere Anhebungen, nicht nur als Anreize, in diese Berufe einzusteigen, sondern auch als Ausdruck der Wertschätzung der Gesellschaft, für deren alle Dienste wichtig und wertvoll sind. Wir sind zuständig für die inneren Bilder, die wir uns von all den Berufen machen und können aufpolieren, was wir bisher in ein abschätziges Eck gerückt haben.

Mit dem Schritt, vorurteilsbehaftete Bewertungen, durch die bestimmte Berufsgruppen und ihre Leistungen geringgeschätzt werden, zurechtzurücken, schwächen wir bestehende Machtverhältnisse. Wir tragen auch dazu bei, den Patriarchalismus zurückzudrängen. Denn die Statusverhältnisse, um die es in diesem Artikel geht, sind auch geschlechtlich konnotiert: Auf der Statusleiter im Gesundheitswesen stehen die Ärzte oben, mehrheitlich männlich, die Kranken-"Schwestern" in der Mitte und die Pflegekräfte unten, diese beiden Gruppen sind mehrheitlich weiblich. Wir können die Bilder in unseren Köpfen zurechtrücken, die den Männern die prestigeträchtigen und lukrativen Berufe und Posten zubilligt und den Frauen die weniger angesehenen und schlechter bezahlten Rollen überlässt. Wir können all diese Vorannahmen, auch wenn sie noch teilweise der Realität entsprechen, durch geschlechtsneutrale Einstellungen ersetzen und dadurch einen Beitrag für mehr Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und zwischen den unterschiedlichen Gruppen in der Gesellschaft leisten.

Der Pflegenotstand hat in unseren Köpfen begonnen. Wir können unsere Stereotypen überwinden und damit unseren Beitrag zur Lösung des Problems beitragen. Gesellschaftliche Richtungsänderungen geschehen auf diesem Weg.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen