Stellen wir uns eine Runde von Menschen vor, die sich noch nicht kennen. Eine Person sagt: „Ich bin Pfleger in einem Krankenhaus.“ Die nächste sagt: „Ich arbeite als Krankenschwester.“ Der dritte teilt mit: „Ich bin Oberarzt mit einer Privatpraxis.“ Die inneren Reaktionen auf diese Mitteilungen werden ganz unterschiedlich ausfallen. Es entsteht unvermeidbar in der eigenen Fantasiewelt eine innere Rang- und Statusordnung. Der Pfleger bekommt weniger Achtung und Respekt als der Arzt. Ohne es zu merken, werde ich mit dem Arzt anders reden als mit dem Pfleger.
Jeder von uns trägt die gesellschaftliche Rangordnung in
sich und wendet sie fortwährend an. Niemand würde sagen, dass eine von den drei
Menschen als Person mehr wert wäre als eine andere. Aber innerlich ist uns
klar, für wen wir mehr Wertschätzung und Respekt haben und für wen weniger. Alle
diese Personen haben viel dafür eingesetzt, um sich für ihren Beruf zu
qualifizieren. Da gibt es natürlich Unterschiede. Ärzte müssen länger lernen
als Krankenschwestern oder Pfleger. Aber in ihrer Arbeit wird allen viel
abverlangt, und da ist es schon schwerer zu sagen, wer mehr leistet, weil die
Anforderungen sehr unterschiedlich sind.
Die gesellschaftlichen Rangordnungen richten sich nicht nach
der tatsächlichen Leistung, sondern nach vordefinierten Kriterien, die die
Bewertungen dessen, was als Leistung gilt, steuern. Dazu gehört die Macht, die
jemand kraft seiner Verantwortung trägt. Auch der Grad der Bildung wird einberechnet,
wenn es um das Image geht.
Der Arztberuf steht weit oben auf der Rangliste. Auch wenn
das blütenweiße Image dieses Berufs in letzter Zeit Flecken erhalten hat und
manche Menschen den Ärzten immer weniger vertrauen, steht ihr Image noch immer viel
weiter oben als das aller anderen Personen, die im Gesundheitsbereich arbeiten.
Die „Götter/Göttinnen in weiß“ haben schließlich das letzte Wort, wenn es um
Leben und Tod geht. Wer mehr Macht hat, verdient
mehr Respekt. Denn sich mit jemand Mächtigen anzulegen ist immer riskant.
Diese Macht wissen die Standesvertreter der Ärzteschaft
weidlich zu nutzen und wollen sie nicht teilen. Wer will es sich schon mit den
Ärzten anlegen? Schließlich kann uns allen blühen, dass wir hilflos an
Schläuchen in einem Krankenbett liegen, ausgeliefert dem ärztlichen Urteil, das
über uns verhängt wird und unser weiteres Schicksal bestimmt.
Der Pflegenotstand wird allseits ausgerufen, weil die
Menschen älter werden und die Pflege durch die Angehörigen in vielen Fällen
nicht geleistet wird und weil zu wenig Menschen diesen Beruf ergreifen bzw.
längerfristig ausüben. Es ist ein sehr anstrengender Beruf mit niedrigem Image,
d.h. die Menschen mühen sich ab und kriegen wenig Anerkennung dafür. Hier ist
der Hebel anzusetzen, um den Notstand zu beheben. Wir sehen zwar, dass eine
Schere in diesem Bereich immer weiter auseinander klafft, und meinen, dass sich
etwas ändern müsste, denken aber nicht daran, dass diese Änderung in unseren
Köpfen beginnen sollte. Denn solange wir nur mitleidig und etwas verächtlich
auf die Pflegeberufe herabschauen, wirken wir an dem Bewusstsein mit, dass die
Angehörigen dieser Berufsgruppe auf den unteren Rängen der Statuseinstufung
bleiben. Daraus folgt, dass die Bezahlung und sonstige Vergünstigungen auf der
untersten Ebene verbleibt. Und darauf folgt dann wieder, dass sich wenige
Menschen für diesen Beruf entscheiden oder dauerhaft dabei bleiben. Viele
Pfleger werfen den Job nach wenigen Jahren wieder hin, u.a. auch wegen der fehlenden
sozialen und monitären Anerkennung.
Denn die Höhe der Bezahlung folgt in weiten Bereichen der
Gesellschaft nicht der Leistung, sondern der Einstufung auf der Rangleiter.
Damit hier mehr Gerechtigkeit walten kann, ist es notwendig, dass wir unsere inneren
Bewertungen ändern und erkennen, wie wichtig jede Arbeit ist, die in der
Gesellschaft und für die Gesellschaft geleistete wird. Es darf auch
Unterschiede in der Bezahlung geben, die als Anreiz für bessere
Qualifizierungen dienen kann. Doch braucht es auf den unteren Stufen der Rang-
und Einkommensskala deutlichere Anhebungen, nicht nur als Anreize, in diese
Berufe einzusteigen, sondern auch als Ausdruck der Wertschätzung der
Gesellschaft, für deren alle Dienste wichtig und wertvoll sind. Wir sind zuständig
für die inneren Bilder, die wir uns von all den Berufen machen und können
aufpolieren, was wir bisher in ein abschätziges Eck gerückt haben.
Mit dem Schritt, vorurteilsbehaftete Bewertungen, durch die
bestimmte Berufsgruppen und ihre Leistungen geringgeschätzt werden, zurechtzurücken,
schwächen wir bestehende Machtverhältnisse. Wir tragen auch dazu bei, den
Patriarchalismus zurückzudrängen. Denn die Statusverhältnisse, um die es in
diesem Artikel geht, sind auch geschlechtlich konnotiert: Auf der Statusleiter
im Gesundheitswesen stehen die Ärzte oben, mehrheitlich männlich, die
Kranken-"Schwestern" in der Mitte und die Pflegekräfte unten, diese beiden
Gruppen sind mehrheitlich weiblich. Wir können die Bilder in unseren Köpfen
zurechtrücken, die den Männern die prestigeträchtigen und lukrativen Berufe und
Posten zubilligt und den Frauen die weniger angesehenen und schlechter
bezahlten Rollen überlässt. Wir können all diese Vorannahmen, auch wenn sie
noch teilweise der Realität entsprechen, durch geschlechtsneutrale
Einstellungen ersetzen und dadurch einen Beitrag für mehr Gerechtigkeit
zwischen den Geschlechtern und zwischen den unterschiedlichen Gruppen in der Gesellschaft
leisten.
Der Pflegenotstand hat in unseren Köpfen begonnen. Wir können unsere Stereotypen überwinden und damit unseren Beitrag zur Lösung des Problems beitragen. Gesellschaftliche Richtungsänderungen geschehen auf diesem Weg.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen