Montag, 1. Februar 2021

Der magische Moment

Wir alle kennen diese Momente: Etwas soll in uns hochkommen, und alles bleibt still. Wir brauchen eine Idee oder einen weiterführenden Gedanken, aber nichts tut sich. Uns fällt nichts mehr ein. Wir wissen nicht weiter. Wir stehen an. 

Ich erlebe das dauernd während dem Schreiben. Ein Satz ist geschrieben, der klingt gut. Aber was soll im nächsten Satz stehen? Der Text ist unvollständig, ich weiß aber nicht, was noch fehlt und wie ich weitermachen soll. Ich stehe vor einem Loch in Raum und Zeit.

Ich kenne es auch aus der therapeutischen Arbeit. Das Gespräch kommt an einen Punkt, an dem die Klientin nicht mehr weiterweiß und mich hilflos und erwartungsvoll anblickt. Ich soll ihr helfen. Ich spüre die Erwartung und meine eigene, doch es kommt keine Idee, die das Gespräch fortsetzen und in die Tiefe führen könnte. Ein Moment der Leere tritt auf.

Bei Aufstellungen taucht diese Erfahrung fast jedes Mal auf, sodass sie offensichtlich einen Teil des Prozesses darstellt. Zunächst befinden sich die aufgestellten Repräsentanten an ihren Positionen und teilen ihre Befindlichkeit. Es wird ein wenig umgestellt, doch ist noch keine Lösung greifbar. Die Spannung, die aus der fehlenden Ordnung in dem System stammt, ist spürbar und überträgt sich auf die Teilnehmer, die Repräsentanten und die Person, um deren Anliegen es geht. Auch der Leiter nimmt sie wahr mitsamt der Erwartung, jetzt eine entscheidende Änderung vorzunehmen. Es tritt ein Moment einer spannungsgeladenen Stille ein, der sich scheinbar ins Unendliche ausdehnen möchte. Rien ne va plus

Ablenken oder Annehmen

In solchen Momenten haben wir zwei Optionen: Die Leere anzunehmen und in sie einzutauchen, oder über sie hinweggehen und uns ablenken, indem wir z.B. irgendetwas tun oder sagen, was die Leere überbrückt: Eine Floskel aus dem therapeutischen Repertoire, eine Umstellung aus Verlegenheit.

Oft merken wir gar nicht, dass wir uns in einem Leeremoment befinden, und dann ist er schnell wieder weg, weil wir gleich etwas anderes machen, das die Leere füllt. Wenn wir uns aber der Leere bewusst werden, haben wir die Wahl, uns auf diese unangenehme Erfahrung der Ungewissheit einzulassen. Die oftmalige Erfahrung zeigt, dass das Zulassen dieser Leere die einzige Möglichkeit ist, den Prozess gut weiterzuführen. Damit das möglich ist, brauchen wir die entsprechenden Erfahrungen, die sich im Lauf des therapeutischen Arbeitens ansammeln und die uns immer mehr Sicherheit geben, die Momente der Ungewissheit auszuhalten.

Was geschieht in diesen Momenten?

Wenn wir solche Erfahrungspunkte näher erforschen, erkennen wir, dass es sich nicht um Momente des Versagens handelt, wie wir sie zunächst wahrnehmen. Vielmehr sind es Angelpunkte, an denen etwas Besonderes geschieht. Es kommt zu einer Wahrnehmungsverschiebung von außen nach innen, die Aufmerksamkeit geht ins eigene Innere und damit von der Vielheit zur Einfachheit. Wir können weiters vermuten, dass zugleich die Hemisphärendominanz im Großhirn von links nach rechts wechselt und wir vom Verstand zur Intuition, vom linearen Denken und Schlussfolgern in eine erweiterte ganzheitliche Bewusstseinsform hinübergehen.

Zunächst erscheint das bedrängende Gefühl, am Ende einer Sackgasse angekommen zu sein. Im Aushalten der Situation und im Einlassen auf das Gefühl verändert sich die Bedeutung und aus der Sackgasse wird eine Schnittstelle, eine Schwelle zur Emergenz einer unvorhersehbaren Einsicht. Dabei wird deutlich: Neues entsteht nicht in der logischen und konsequenten Weiterentwicklung von dem, was vorher da ist, sondern in einem Schritt aus dem vorgegebenen Rahmen heraus in einen neuen, weiteren Raum hinein. Das bekannte Terrain wird verlassen, ein unbekanntes Feld wird betreten. Das Sicherheitsdenken macht der Magie des Augenblicks Platz.

Die Angst vor dem Unbekannten

Wir halten diese Momente deshalb so schwer aus, weil wir uns vor dem Unbekannten und Ungewissen fürchten. Lieber bleiben wir beim Vertrauten, als Schuster, die ihren Leisten kennen und den neuen misstrauen. Man kann ja nie wissen, was das Neue bringt, vor allem, wenn wir es noch nicht kennen. Also weichen wir aus und lenken uns ab von der lästigen Erfahrung der Ungewissheit. 

Letztlich meldet sich eine Angst vor dem Tod, dem Moment der größten Ungewissheit. Er zeigt uns, dass es keine absolut verlässliche Sicherheit im Außen gibt, dass wir aber die Sicherheit in uns finden, indem wir akzeptieren, was gerade ist. Auch in den magischen Momenten der Leere stirbt etwas, eine vorgefasste Meinung über die Wirklichkeit und deren Gesetzmäßigkeiten. Dieser Tod einer illusionären Sicherheit macht den Platz frei für den Eintritt in einen größeren Raum, der neue Einsichten und Durchblicke erlaubt. Es ist ein Stück Ego-Tod geschehen.

Akzeptanz als Schlüssel zur Magie

Das bewusste Annehmen und Durchleben solcher Momente stärkt unser Vertrauen in das Größere und Umfassendere, das alle Prozesse durchwirkt, und an dem wir vor allem teilhaben können, wenn wir uns aus unseren fixierten Annahmen lösen. Es stärkt auch unsere Bereitschaft, nichts mehr festhalten zu müssen, an das wir uns in unserem angstgeleiteten Sicherheitsdenken klammern: Keine Konzepte, Ideen und Zuschreibungen, keine Erwartungen und Feststellungen, keine logischen Ableitungen und Schlussfolgerungen sind nun wichtig, weil sie alle nur Krücken darstellen, die wir beiseite legen können, sobald wir bereit sind, die Magie von Momenten der Leere anzunehmen und wirken zu lassen.

Zum Weiterlesen:
Emergenz und die Abkehr vom Determinismus
Von der Ungewissheit zur Mystik
Ungewissheit als Chance
Mit Unvorhersehbarkeiten leben


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