Dienstag, 23. Februar 2021

Die Welt der Wunder

„Ein Wunder ist etwas über alle Maßen Erstaunliches, während das, woran wir erkennen, dass es eingetreten ist, meistens etwas ganz Einfaches und Alltägliches ist.“ (Insa Sparrer)

Gehören Wunder in die Kindheit, als wir noch keine klaren Grenzen zwischen Realität und Fantasie kannten? Sollten wir als Erwachsene grundsätzlich skeptisch sein, wenn wir von Wundern hören? Was haben wir von Wunderheilungen, die nur einige wenige erleben, während viele andere weiter leiden müssen? Gibt es Privilegierte, die mit Wundern überschüttet werden, und die vielen anderen, die immer leer ausgehen?

Oder sollten wir uns mehr für die Welt der Wunder öffnen? Sollten wir die magische Wirklichkeit unserer Kindheit wieder einladen, um den Mühen des grauen und langweiligen Alltags zu entkommen? Sollten wir nach Wundern suchen oder streben? Brauchen wir mehr Wunderglaube, um die Menschheit aus ihren Nöten zu erlösen?

Ein Wunder ist 

  • …etwas, das wir aus dem, was gerade ist, nicht vorhersehen oder vorhersagen können. Alle Wunder haben also das Überraschungsmoment für sich. Und sie bereiten uns Freude, sobald sie eintreten. Mit Wundern haben wir ein Glück.
  • …die Lösung eines Problems, das uns vorher unlösbar erschien. Wir stehen vor einem steilen Berg und wissen nicht, wie wir ihn überwinden könnten, doch plötzlich weitet sich der Blick und wir sehen den Weg.
  • …die überraschende Wendung in einer schwierigen Situation. Die Konstellation, in der wir feststecken, ändert sich plötzlich, irgendein Element hat sich verändert oder erscheint uns verändert, und es ist wieder eine Bewegung nach vorne möglich. Mitten in einer Katastrophe kommt es zu einer wundersamen Rettung.

Wunder stehen im Widerspruch zu unseren Absichten, Erwartungen, Gewohnheiten und Mustern. Wunder sind nur Wunder, wenn sie unwahrscheinlich sind. Sie entführen uns in die Sphäre des Absichtslosen, Unerwarteten, Unberechneten, Ungewöhnlichen und Unüblichen, in eine Anderswelt. 

Wo die Routine herrscht, bleiben Wunder fern. Wir befinden uns im Alltags-Funktionsmodus, der auf das Maximieren von Sicherheit ausgerichtet ist. Das Vertraute und Gewohnte schützt uns vor Überraschungen, unliebsamen wie liebsamen. Wir halten unsere Blicke gesenkt und fixieren uns auf das Überschaubare, ohne Aussicht über den Tellerrand. 

Wenn wir aber die gewohnten Abläufe unterbrechen, geben wir den Wundern eine Chance. Erst indem wir innehalten, indem wir einen Moment der Stille zulassen, öffnen sich die Räume, in die die Wunder eintreten können. Dafür brauchen wir einen Schuss Mut, denn das Verlassen der gewohnten Komfortzone ist mit dem Risiko von Enttäuschungen oder Langeweile verbunden. Wir müssen uns der Ungewissheit aussetzen, die wir schwer aushalten. Aber die Wunder sind durch und durch unsicher und unserem kontrollierenden Zugriff entzogen: Wir können sie nicht erzwingen, wir können sie nicht einmal wollen oder herbeibeten. Je mehr wir uns auf sie festnageln, je mehr wir uns von ihrem Auftreten abhängig machen, desto unwahrscheinlicher werden sie.

Wunder bringen uns in Kontakt mit einer Welt, die jenseits unserer Einflussnahme und Einsichtsmöglichkeiten liegt, eine Welt, in der Zusammenhänge bestehen, die wir nicht im Geringsten begreifen. Wunder sind nach all unseren Maßstäben unberechenbar und unzuverlässig. Sie kommen, wann sie wollen, und sie bleiben weg, wenn es ihnen beliebt. Oft ist es so, dass ein Wunder erst eintritt, wenn wir die Hoffnung schon fahren haben lassen. Dann wundern wir uns nur noch und umso mehr.

Hier ein paar Eigenschaften von Wundern:

Sie sind nur wirklich, wenn sie eingetreten sind. Sie sind eingetreten, wenn wir sie innerlich als solche wahrnehmen. Wunder sind also keine objektiven Gegebenheiten, sondern es gibt sie nur in unserer inneren Wahrnehmung, und ihre Bedeutung ziehen sie daraus, dass sie einen Kontrast zu unseren subjektiven Erwartungen und zu unserem begrenzten, aus unseren bisherigen Erfahrungen geformten Möglichkeitshorizont bilden.

Die Antwort auf Wunder, die uns grundsätzlich und immer geschenkt werden, kann nur Dankbarkeit sein. Wir haben sie nicht durch irgendeine Leistung errungen, nicht einmal unseren Glauben oder unsere besonders intensive Aufmerksamkeitsfokussierung dürfen wir uns gutschreiben. Wunder sind gänzlich unabhängig von dem, was wir tun oder nicht tun. Sie ereilen uns unverdientermaßen, und wir sollten sie als Zugabe zu dem annehmen, was wir schon haben, als Oberskrönchen auf der Torte unseres Lebens. Solche unerwarteten Überraschungen können wir nur mit staunender Dankbarkeit quittieren. 

Wunder bringen uns folglich mit unserer Bescheidenheit und Demut in Kontakt, wenn wir bereit sind, sie als solche anzunehmen. Hochmut hingegen führt zu selbstbezogener Eitelkeit, eine Sphäre, die den Wundern fremd ist. Wir können nicht prahlen, wenn uns ein Wunder geschieht, wir können es nicht unserem Ego zuschreiben. Vielmehr zeigt es uns, dass unser Leben nur zu einem kleinen Teil von unseren Plänen, Absichten, Erwartungen und Leistungen gestaltet wird und dass es einen großen Teil gibt, der unserem Einfluss entzogen ist. Wunder sind das Tor für die Welt des Wunderbaren.

Für die Welt der Wunder öffnen

Wunder sind flüchtige Gebilde, leicht und willkürlich wie der Wind. Doch gibt es einen Weg, sich der Welt der Wunder anzunähern. Dazu brauchen wir nur unseren Blickwinkel zu ändern, weg von den bekannten Sicht-, und Erfahrungsweisen, die alle auf Zweckmäßigkeit und Sicherheitsgewinn ausgerichtet sind. Wir müssen auch weg von den Denkmodellen und Glaubensvorstellungen, mit denen wir die Welt erklären wollen. 

Statt dessen wählen wir einen Zugang zur Wirklichkeit, der bereit ist, zu verklären, was uns begegnet. Verklärung bedeutet, die Dinge nicht in ihrer Funktionalität, sondern in ihrer Schönheit wahrzunehmen. Auf diesem Weg begegnen wir z.B. dem Wunder unseres Körpers, des Lebens, das in uns wirkt. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit nach innen und spüren, wie unsere Atmung den Bauch und den Brustkorb bewegt und bemerken, dass durch dieses Geschehen unser Körper in jedem Moment mit Sauerstoff versorgt und von Kohlendioxid befreit wird. Wir spüren das Schlagen unseres Herzens, das mit seinem verlässlichen Pochen den Blutstrom im Körper aufrechterhält. 

Was für Wunder spielen sich da ab? Wie können wir jemals begreifen, was da abläuft und uns am Leben erhält? So können wir weiter in unserem Körper forschen und die anderen Organe, Muskeln, Knochen, Nerven und Gewebe bestaunen.

Auf ähnliche Weise nähern wir uns den Wundern in der Natur oder den Wundern der Künste, aber auch die Wunder der Technik und der Organisationsfähigkeit der Menschen verdienen unser Staunen, sobald wir unseren kritischen und unzufriedenen Geist beiseite stellen. Sobald wir die Wunderbrille aufsetzen, verklärt sich die Welt, die wir zuvor erklären wollten.

Große und kleine Wunder

Die großen und die kleinen Wunder, alle sorgen sie dafür, dass wir Glück haben. Wir müssen sie nur zur Kenntnis nehmen und wertschätzen. Was wir also immer wieder tun können ist, die Welt in ihrer Doppeldeutigkeit wahrzunehmen, in ihre Profanität mit unseren Lebensproblemen und in ihrer Sakralität mit ihren Katastrophen, Schicksalsschlägen, freudigen Überraschungen und Wundern. 

Was wir noch tun können, ist unser Augenmerk auf die kleinen und kleinsten Wunder zu richten, die uns widerfahren: ein freundlicher Blick, ein feiner Sonnenstrahl, eine sich öffnende Knospe, ein Wohlgefühl im Bauch, ein schwindender Kopfschmerz …

An all diesen Hinweisen können wir erkennen, was wir für ein Glück haben: dass wir leben.


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