Dieser Tage haben wir uns gegenseitig oft alles Gute gewunschen. Jeder versteht offensichtlich etwas anderes darunter, aber gibt es vielleicht ein gemeinsames Gutes, das alle Menschen teilen?
Beim Schlussbild von Aufstellungen (Themen-
oder Familienaufstellungen), bei gelungenen therapeutischen oder
freundschaftlichen Gesprächen und bei anderen Formen von erfolgreichen Veränderungsprozessen
im inneren und zwischenmenschlichen Bereich zeigt sich ein eigentümliches Phänomen:
Es tritt eine Erleichterung und ein Gefühl von Stimmigkeit ein – so ist es
richtig, so soll es sein. Es ist, als ob eine helle Wesenheit in den Raum
getreten wäre, die die ganze Atmosphäre in ein neues Licht taucht, das sich gut
und wahr anfühlt. Alle, die im Raum sind, teilen diese Empfindung und fühlen
sich erleichtert.
Eine Parallele finden wir auf der
gesellschaftlichen Ebene, wenn wir auf die allgemeinen Menschenrechte schauen,
die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und bei der französischen
Revolution proklamiert und von der UNO für die Menschheit 1949 beschlossen
wurden. Es sind Rechte, die allen Menschen zugesprochen und zugebilligt werden,
die ihnen also für ihr Menschsein, unbesehen von irgendwelchen anderen
Merkmalen oder Leistungen, zukommen. Auch hier können wir nicht anders, als einfach
einmal zuzustimmen: Ja, alle Menschen sind gleich, alle Menschen sind frei.
Vielleicht haben wir da und dort Vorbehalte und Zweifel, die Details
anbetreffen, aber die grundlegenden Gedanken können wir nicht ableugnen.
Gibt es also etwas, worauf sich alle
Menschen einigen können, weil sie erkennen, dass das, und genau das, das
Menschliche ist? Gibt es also etwas, das wir uns als Menschen teilen und das
wir alle für gut und wahr halten? Gibt es etwas, woran wir nicht zweifeln und
das uns intuitiv von seiner Richtigkeit überzeugt?
Bio-psychologische Gemeinsamkeiten
Was uns als Menschen verbindet, ist die
gemeinsame Erbinformation, die zur Ausbildung von bio-psychischen
Grundstrukturen führt, aus denen bestimmte Grundbedürfnisse hervorgehen (Ernährung,
Aufmerksamkeit, Zugehörigkeit, Wertschätzung …). Diese Bedürfnisstruktur ist
kulturell invariant, es gibt sie also überall in der Menschenwelt. Die Achtung
und Förderung dieser Bedürfnisse vor allem in der Kindheit und in der
Ausbildung führt dazu, dass sich Menschen in guter Weise entwickeln können und
zu guten Menschen werden. Die Missachtung oder Vernachlässigung dieser
Bedürfnisse hat Störungen und Fehlanpassungen zur Folge, sodass Menschen
dadurch in ihrer Menschlichkeit geschädigt werden und in der Folge zu asozialem
Verhalten tendieren.
Ordnungsprinzipien der Gemeinschaft
Über die Grundbedürfnisse hinaus und in
enger Verbindung zu ihnen gibt es weiters Grundstrukturen in der sozialen
Verfasstheit menschlicher Gemeinschaften. Menschen sind von ihren Anfängen an Gemeinschaftswesen,
die nur in und mit Bezugsgruppen überlebensfähig sind. Werden die
Grundprinzipien des Zusammenlebens respektiert und bestärkt, so entwickeln sich
tragfähige und flexible Gemeinschaften mit einem fließenden Gleichgewicht
zwischen Autonomie und Gruppenloyalität. Werden diese Grundlagen missachtet, so
entstehen dysfunktionale Gruppen, meist mit hohem Aggressionspotenzial oder mit
depressiven Einstellungen.
Solche Grundstrukturen sind u.a. die
Reihung der Generationen (die Älteren unterstützen die Jüngeren, damit die
Jüngeren ein neues Leben aufbauen), die Gleichordnung der Geschlechter (Mann
und Frau sind als Menschen gleichviel wert und geben ergänzend Unterschiedliches
in die Gemeinsamkeit ein) und die Ebenbürtigkeit von Geschwistern (trotz der
altersgemäßen Ordnung). Bert Hellinger, den ich als bedeutenden Erforscher
dieser Strukturen schätze, hat von den „Ordnungen der Liebe“ gesprochen. Damit
ist gemeint, dass die Liebe, die so etwas wie ein universales Lebensmittel in
allen menschlichen Belangen darstellt, nur im Rahmen einer richtigen, also den
Grundlagen menschlichen Zusammenlebens entsprechenden Ordnung wirken kann.
Die Soziologen argwöhnen gerne, wenn solche
Grundstrukturen (anthropologische Konstanten) vertreten werden, dass damit
Herrschaftsstrukturen, die sich geschichtlich entwickelt haben, als
„naturnotwendig“ gerechtfertigt werden sollen. Diese kritische Haltung ist
wichtig, und die Unterschiede der Ebenen sollten nicht vermischt werden.
Allerdings leuchtet auch ein, dass der Mensch nicht ein durch und durch von der
Menschheitsgeschichte erzeugtes Produkt sein kann. Sonst hätten die
unterschiedlichen Kulturentwicklungen auch unterschiedliche Menschen mit
unterschiedlichen Bedürfnisstrukturen hervorgebracht. Vielmehr wirken die anthropologischen
Grundstrukturen auf die Geschichte und Kulturentwicklung ein und bilden auch
deren Grundlage. Verwegen behauptet, kommt die Psychologie historisch und auch
logisch vor der Geschichte.
Gewalt und Friede
Nehmen wir als Beispiel für eine menschliche
Grundverfasstheit das Streben nach Frieden. Ich verstehe hier vereinfacht
Friede als Abwesenheit von Gewalt. Unter Gewalt verstehe ich die Durchsetzung
eigener Interessen mittels überlegener Macht ohne Rücksicht auf Schwächere. Wir
gehen wohl nicht fehl in der Annahme, dass sich der überwiegende Großteil der
Menschen Frieden wünscht, vor allem jene, die unter alltäglicher Gewalt zu
leiden haben. Aber auch wir in unseren weitgehend abgesicherten Breiten
wünschen uns ganz dringlich die Erhaltung und Vertiefung des Friedens und
sicher nicht ein Anwachsen von Gewalt. Und selbst die Mächtigen, die
Ist es also ein Grundanliegen der Menschen,
ihr Zusammenleben friedlich zu gestalten, oder ist der Friede nur eine begrenzte
Phase zwischen Kriegen, die notwendig sind, um die Angelegenheiten der Menschen
zu regeln? Die Geschichte scheint der letzteren Auffassung recht zu geben.
Kriege hat es möglicherweise zu allen Zeiten gegeben, und die
Zukunftsaussichten sind nicht gerade rosig, wenn wir die gegenwärtige Situation
betrachten. Zwar hat es nach den überraschenden Befunden der Wissenschaft im
Lauf der Menschheitsgeschichte einen signifikanten Rückgang von Gewalttaten
gegeben (vgl. Steven Pinker, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit.
Fischer 2013), aber das Leiden, das durch Gewalt auf der Welt herbeigeführt
wird, ist noch immer viel zu hoch.
Der Maßstab der Menschlichkeit
Viel zu hoch nach welchem Maßstab? Nach dem
Maßstab der Menschlichkeit, der besagt, dass Gewalt in jeder Form der
Menschlichkeit widerspricht. Gewalt ist allerhöchstens eine Notfallreaktion, zu
der Menschen fähig sind und die auch zur Grundausstattung dazugehört. Teil der
Grundstruktur ist aber auch die Kompetenz, Gewalt zu kontrollieren und zu reduzieren,
und eine wichtige Aufgabe der Kulturentwicklung liegt darin, die Gewaltursachen
(im wesentlichen Ungleichheit und Ungerechtigkeit, also Widersprüche gegen die
allgemeinen Menschenrechte) zu beseitigen. Der Imperativ, Gewalt einzudämmen, stammt
aus dem Grundrepertoire des Menschlichen, und das Gefühl der Scham, das jede Gewaltausübung
unweigerlich begleitet, um auf dessen Unmenschlichkeit hinzuweisen, ebenfalls.
Gewalt ist zwar eine der vielen menschlichen
Möglichkeiten, und möglicherweise gibt es auf dem Planeten keine andere Spezies,
die so grausam sein kann wie die Menschen, aber sie ist für Notfälle vorgesehen
und deshalb immer eine Notfallsreaktion. Die eigentliche Aufgabe der
Kulturentwicklung liegt darin, die Anlässe für Notfälle so weit zu reduzieren, dass
Gewalt nicht mehr angewendet werden muss. Dazu gehört ganz vordringlich die Absicherung
der emotionalen Grundlagen für die Entwicklung von Friedfertigkeit in der
Kindheit und im Schulsystem.
Gewaltfreie Formen der Konfliktlösung und
Kommunikation nehmen den größten Teil des sozialen Raumes ein, weil sie dem Wollen
der Menschen und ihren Grundbedürfnissen entsprechen, während ihr Gegenteil,
mit Scham behaftet, nicht gewollt ist, sondern aus unbewussten Antrieben heraus
immer wieder geschieht. Unserem bewussten Wollen entspricht, dass sie mehr und
mehr verschwinden soll. Dazu bedarf es allerdings großer Anstrengungen zur
Einsetzung und Durchsetzung der Menschenrechte und des globalen sozialen
Ausgleichs.
Eine Hoffnung besteht auch darin, dass mit
dem Schwinden der Gewalt und gewaltvoller Kommunikationsformen und
Konfliktlösung die Gewalt, die die Menschheit auf die eigenen natürlichen
Lebensgrundlagen ausübt, zurückgeht. Je mehr die gegenseitige Achtung, begleitet
von einer Ächtung von Gewalt, in zwischenmenschlichen Bereichen von familialen
Beziehungen bis in die Weltpolitik Einzug hält, je mehr das Wollen des Guten
die Handlungen der Menschen, der mächtigen und der weniger mächtigen, bestimmt,
desto mehr Friede tritt ein, zum Wohle aller, selbst der Pflanzen, Tiere und der
anderen Naturwesen.
Die Bewegungsrichtung von der Gewalt zum
Frieden ist nicht eine, die wir willkürlich wählen müssen und für die wir
Entscheidungsgrundlagen und Argumente brauchen. Sie ist das, was wir als
Menschen brauchen und deshalb aus tiefstem Grund wollen. Gewalt, wo immer sie auftritt,
wollen wir überwinden und zurück zum Frieden kommen. Blauäugig oder naiv sind wir
dort, wo wir glauben, dass Appelle an die Menschlichkeit genügen, um den
Frieden zu mehren. Wir müssen alles daran setzen, die Quellen von Gewalt
trockenzulegen, und das erfordert viel Arbeit und Einsatz. Aber es lohnt sich.
Der Gutmensch und das Gute im Menschen
Tiefe, eine Dimension des Menschlichen
Lieber Wilfried, Gerade in Zeiten wie diese, ist es immer wieder erleichternd und erreichernd von dir zu lesen. Deine tiefe
AntwortenLöschenMenschlichkeit, dein Wissen und deine Bereitheit ins Innere zu scvhauen beglücken mich. Danke Much love, Tilke
Liebe Tilke,
Löschenherzlichen Dank für dein liebes Feedback!