Sonntag, 3. Januar 2021

Der Friede ist ein Grundbedürfnis

Dieser Tage haben wir uns gegenseitig oft alles Gute gewunschen. Jeder versteht offensichtlich etwas anderes darunter, aber gibt es vielleicht ein gemeinsames Gutes, das alle Menschen teilen?

Beim Schlussbild von Aufstellungen (Themen- oder Familienaufstellungen), bei gelungenen therapeutischen oder freundschaftlichen Gesprächen und bei anderen Formen von erfolgreichen Veränderungsprozessen im inneren und zwischenmenschlichen Bereich zeigt sich ein eigentümliches Phänomen: Es tritt eine Erleichterung und ein Gefühl von Stimmigkeit ein – so ist es richtig, so soll es sein. Es ist, als ob eine helle Wesenheit in den Raum getreten wäre, die die ganze Atmosphäre in ein neues Licht taucht, das sich gut und wahr anfühlt. Alle, die im Raum sind, teilen diese Empfindung und fühlen sich erleichtert.

Eine Parallele finden wir auf der gesellschaftlichen Ebene, wenn wir auf die allgemeinen Menschenrechte schauen, die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und bei der französischen Revolution proklamiert und von der UNO für die Menschheit 1949 beschlossen wurden. Es sind Rechte, die allen Menschen zugesprochen und zugebilligt werden, die ihnen also für ihr Menschsein, unbesehen von irgendwelchen anderen Merkmalen oder Leistungen, zukommen. Auch hier können wir nicht anders, als einfach einmal zuzustimmen: Ja, alle Menschen sind gleich, alle Menschen sind frei. Vielleicht haben wir da und dort Vorbehalte und Zweifel, die Details anbetreffen, aber die grundlegenden Gedanken können wir nicht ableugnen.

Gibt es also etwas, worauf sich alle Menschen einigen können, weil sie erkennen, dass das, und genau das, das Menschliche ist? Gibt es also etwas, das wir uns als Menschen teilen und das wir alle für gut und wahr halten? Gibt es etwas, woran wir nicht zweifeln und das uns intuitiv von seiner Richtigkeit überzeugt?

Bio-psychologische Gemeinsamkeiten

Was uns als Menschen verbindet, ist die gemeinsame Erbinformation, die zur Ausbildung von bio-psychischen Grundstrukturen führt, aus denen bestimmte Grundbedürfnisse hervorgehen (Ernährung, Aufmerksamkeit, Zugehörigkeit, Wertschätzung …). Diese Bedürfnisstruktur ist kulturell invariant, es gibt sie also überall in der Menschenwelt. Die Achtung und Förderung dieser Bedürfnisse vor allem in der Kindheit und in der Ausbildung führt dazu, dass sich Menschen in guter Weise entwickeln können und zu guten Menschen werden. Die Missachtung oder Vernachlässigung dieser Bedürfnisse hat Störungen und Fehlanpassungen zur Folge, sodass Menschen dadurch in ihrer Menschlichkeit geschädigt werden und in der Folge zu asozialem Verhalten tendieren.

Ordnungsprinzipien der Gemeinschaft

Über die Grundbedürfnisse hinaus und in enger Verbindung zu ihnen gibt es weiters Grundstrukturen in der sozialen Verfasstheit menschlicher Gemeinschaften. Menschen sind von ihren Anfängen an Gemeinschaftswesen, die nur in und mit Bezugsgruppen überlebensfähig sind. Werden die Grundprinzipien des Zusammenlebens respektiert und bestärkt, so entwickeln sich tragfähige und flexible Gemeinschaften mit einem fließenden Gleichgewicht zwischen Autonomie und Gruppenloyalität. Werden diese Grundlagen missachtet, so entstehen dysfunktionale Gruppen, meist mit hohem Aggressionspotenzial oder mit depressiven Einstellungen.

Solche Grundstrukturen sind u.a. die Reihung der Generationen (die Älteren unterstützen die Jüngeren, damit die Jüngeren ein neues Leben aufbauen), die Gleichordnung der Geschlechter (Mann und Frau sind als Menschen gleichviel wert und geben ergänzend Unterschiedliches in die Gemeinsamkeit ein) und die Ebenbürtigkeit von Geschwistern (trotz der altersgemäßen Ordnung). Bert Hellinger, den ich als bedeutenden Erforscher dieser Strukturen schätze, hat von den „Ordnungen der Liebe“ gesprochen. Damit ist gemeint, dass die Liebe, die so etwas wie ein universales Lebensmittel in allen menschlichen Belangen darstellt, nur im Rahmen einer richtigen, also den Grundlagen menschlichen Zusammenlebens entsprechenden Ordnung wirken kann.

Die Soziologen argwöhnen gerne, wenn solche Grundstrukturen (anthropologische Konstanten) vertreten werden, dass damit Herrschaftsstrukturen, die sich geschichtlich entwickelt haben, als „naturnotwendig“ gerechtfertigt werden sollen. Diese kritische Haltung ist wichtig, und die Unterschiede der Ebenen sollten nicht vermischt werden. Allerdings leuchtet auch ein, dass der Mensch nicht ein durch und durch von der Menschheitsgeschichte erzeugtes Produkt sein kann. Sonst hätten die unterschiedlichen Kulturentwicklungen auch unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnisstrukturen hervorgebracht. Vielmehr wirken die anthropologischen Grundstrukturen auf die Geschichte und Kulturentwicklung ein und bilden auch deren Grundlage. Verwegen behauptet, kommt die Psychologie historisch und auch logisch vor der Geschichte.

Gewalt und Friede

Nehmen wir als Beispiel für eine menschliche Grundverfasstheit das Streben nach Frieden. Ich verstehe hier vereinfacht Friede als Abwesenheit von Gewalt. Unter Gewalt verstehe ich die Durchsetzung eigener Interessen mittels überlegener Macht ohne Rücksicht auf Schwächere. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, dass sich der überwiegende Großteil der Menschen Frieden wünscht, vor allem jene, die unter alltäglicher Gewalt zu leiden haben. Aber auch wir in unseren weitgehend abgesicherten Breiten wünschen uns ganz dringlich die Erhaltung und Vertiefung des Friedens und sicher nicht ein Anwachsen von Gewalt. Und selbst die Mächtigen, die

Ist es also ein Grundanliegen der Menschen, ihr Zusammenleben friedlich zu gestalten, oder ist der Friede nur eine begrenzte Phase zwischen Kriegen, die notwendig sind, um die Angelegenheiten der Menschen zu regeln? Die Geschichte scheint der letzteren Auffassung recht zu geben. Kriege hat es möglicherweise zu allen Zeiten gegeben, und die Zukunftsaussichten sind nicht gerade rosig, wenn wir die gegenwärtige Situation betrachten. Zwar hat es nach den überraschenden Befunden der Wissenschaft im Lauf der Menschheitsgeschichte einen signifikanten Rückgang von Gewalttaten gegeben (vgl. Steven Pinker, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit. Fischer 2013), aber das Leiden, das durch Gewalt auf der Welt herbeigeführt wird, ist noch immer viel zu hoch.

Der Maßstab der Menschlichkeit

Viel zu hoch nach welchem Maßstab? Nach dem Maßstab der Menschlichkeit, der besagt, dass Gewalt in jeder Form der Menschlichkeit widerspricht. Gewalt ist allerhöchstens eine Notfallreaktion, zu der Menschen fähig sind und die auch zur Grundausstattung dazugehört. Teil der Grundstruktur ist aber auch die Kompetenz, Gewalt zu kontrollieren und zu reduzieren, und eine wichtige Aufgabe der Kulturentwicklung liegt darin, die Gewaltursachen (im wesentlichen Ungleichheit und Ungerechtigkeit, also Widersprüche gegen die allgemeinen Menschenrechte) zu beseitigen. Der Imperativ, Gewalt einzudämmen, stammt aus dem Grundrepertoire des Menschlichen, und das Gefühl der Scham, das jede Gewaltausübung unweigerlich begleitet, um auf dessen Unmenschlichkeit hinzuweisen, ebenfalls.

Gewalt ist zwar eine der vielen menschlichen Möglichkeiten, und möglicherweise gibt es auf dem Planeten keine andere Spezies, die so grausam sein kann wie die Menschen, aber sie ist für Notfälle vorgesehen und deshalb immer eine Notfallsreaktion. Die eigentliche Aufgabe der Kulturentwicklung liegt darin, die Anlässe für Notfälle so weit zu reduzieren, dass Gewalt nicht mehr angewendet werden muss. Dazu gehört ganz vordringlich die Absicherung der emotionalen Grundlagen für die Entwicklung von Friedfertigkeit in der Kindheit und im Schulsystem.

Gewaltfreie Formen der Konfliktlösung und Kommunikation nehmen den größten Teil des sozialen Raumes ein, weil sie dem Wollen der Menschen und ihren Grundbedürfnissen entsprechen, während ihr Gegenteil, mit Scham behaftet, nicht gewollt ist, sondern aus unbewussten Antrieben heraus immer wieder geschieht. Unserem bewussten Wollen entspricht, dass sie mehr und mehr verschwinden soll. Dazu bedarf es allerdings großer Anstrengungen zur Einsetzung und Durchsetzung der Menschenrechte und des globalen sozialen Ausgleichs.

Eine Hoffnung besteht auch darin, dass mit dem Schwinden der Gewalt und gewaltvoller Kommunikationsformen und Konfliktlösung die Gewalt, die die Menschheit auf die eigenen natürlichen Lebensgrundlagen ausübt, zurückgeht. Je mehr die gegenseitige Achtung, begleitet von einer Ächtung von Gewalt, in zwischenmenschlichen Bereichen von familialen Beziehungen bis in die Weltpolitik Einzug hält, je mehr das Wollen des Guten die Handlungen der Menschen, der mächtigen und der weniger mächtigen, bestimmt, desto mehr Friede tritt ein, zum Wohle aller, selbst der Pflanzen, Tiere und der anderen Naturwesen.

Die Bewegungsrichtung von der Gewalt zum Frieden ist nicht eine, die wir willkürlich wählen müssen und für die wir Entscheidungsgrundlagen und Argumente brauchen. Sie ist das, was wir als Menschen brauchen und deshalb aus tiefstem Grund wollen. Gewalt, wo immer sie auftritt, wollen wir überwinden und zurück zum Frieden kommen. Blauäugig oder naiv sind wir dort, wo wir glauben, dass Appelle an die Menschlichkeit genügen, um den Frieden zu mehren. Wir müssen alles daran setzen, die Quellen von Gewalt trockenzulegen, und das erfordert viel Arbeit und Einsatz. Aber es lohnt sich.

Zum Weiterlesen:

Der Gutmensch und das Gute im Menschen

Das Gute und das Böse

Tiefe, eine Dimension des Menschlichen

Der Bösewicht in uns 


2 Kommentare:

  1. Lieber Wilfried, Gerade in Zeiten wie diese, ist es immer wieder erleichternd und erreichernd von dir zu lesen. Deine tiefe
    Menschlichkeit, dein Wissen und deine Bereitheit ins Innere zu scvhauen beglücken mich. Danke Much love, Tilke

    AntwortenLöschen