Das Abstrakte, wie es im Denken repräsentiert wird, ist immer eine karge, abgespeckte Version des Konkreten. Das Konkrete ist das sinnlich An- und Auffassbare, das wir über unsere Sinne wahrnehmen, sowie das, was sich im Tun vollzieht, und das Abstrakte leitet sich davon ab, damit es mehr ins Allgemeine und Übergreifende übersetzt werden kann.
Wir brauchen das Abstrakte, um vom Einzelnen oder Besonderen zum Allgemeinen zu gelangen, gewissermaßen von der Detailansicht zum größeren Zusammenhang. Das Abstrakte bleibt dabei immer dem Konkreten verpflichtet, es ist ja nur die kognitive Verarbeitung der Erfahrung, die sich immer von einer konkreten äußeren oder inneren Realität ableitet.
Das Abstrakte hat also keine eigene, sondern nur eine geborgte Realität. Es ist aus dem Konkreten abgezogen, ein verallgemeinerter Auszug (lat. abstrahere – herausziehen, trennen, entfernen) aus dem detailreichen Konkreten.
Die Abstraktion ist vorzüglich eine Fähigkeit des menschlichen Gehirns, das als Meister dieser Kunst gelten kann. Wohl ist anzunehmen, dass auch einfachere Lebensformen und auch andere Systeme des menschlichen Körpers über Abstraktionsmechanismen verfügen, insofern sie auch lernfähig sind. Allerdings spielt das Gehirn mit seiner faktisch ins Unendliche gehenden und allen akuten lebenspraktischen Erfordernissen entzogenen Abstraktionsfähigkeit in einer völlig anderen Liga. Kein anderes Lebewesen auf dem Planeten hat die Integralrechnung oder eine Programmiersprache hervorgebracht, geschweige denn die Begrifflichkeit von abstrakt und konkret.
Das Abstrakte zieht sich – indem es sich aus dem Konkreten zieht – aus der Natur zurück, entfernt sich von ihr. Sein Zweck liegt genau darin: in Distanz zur Natur zu gehen, um sie beherrschen zu können. Herrschaft braucht einen Abstand zum Beherrschten, einen Überblick. So hievt sich das Abstrakte in eine erhöhte Position und blickt von dieser auf die Natur, als Objekt, dessen Funktionsweise studiert und kontrolliert werden kann.
Freilich ist es die Natur selbst, die die Instanz ihrer Beherrschung hervorbringt. Abstraktion erfordert ein menschliches Gehirn, das die Natur im Lauf einer langen Evolutionsgeschichte zu hoher Komplexität entwickelt hat. Die Natur bringt also dieses ambivalente Steuerungsmodul hervor, das als ihr eigenes Zerstörungspotenzial wie auch als Überlebenspotenzial für eine wachsende Menschheit auf diesem Planeten dienen kann.
Denn ohne die fortschreitende Entwicklung von abstrahierenden Systemen kann dieses Überleben schon lange nicht mehr sichergestellt werden. Die Abstraktion vereinfacht nicht nur das Leben, sondern verkompliziert es zugleich, indem die verschiedenen Wege und Stufen des verallgemeinernden Denkens abstrakte Beziehungen zueinander aufbauen, z.B. die Mathematik und die Technik. Daraus können neue komplexe Apparate geschaffen werden wie z.B. die Maschine, auf der dieser Artikel geschrieben wird.
Die Zwischenwelt der Kunst
Gerade weil die Welten des Abstrakten einen immanenten Drang zum Ausufern enthalten, gilt es, die Beziehung zum Konkreten bewusst zu pflegen, und dafür liefert das Naturprodukt menschliches Gehirn eine faszinierende Brücke, indem es die Zwischenwelt der Kunst entwickelt, in der die Kunstobjekte als Kopfgeburten der abstrahierenden Fantasie das Konkrete in einer neuen und überraschenden Form zur Darstellung bringen und damit bei den betrachtenden Menschen konkrete Freude am Konkreten, vermittelt über ein abstrahiertes Objekt, auslösen.
Unser Tun ist immer konkret
Der andere Bereich, der das Abstrakte begrenzt, ist die Praxis, das Tun. Was immer wir tun, ist konkret. Auch wenn die Finger, die auf die Tasten klopfen, mit einem abstrakt erzeugten Gerät ein abstraktes Produkt hervorbringen, ist der Vollzug der Bewegungen im Kontakt zwischen Körper und toter Materie unmittelbar und sinnlich, also konkret. Jedes Handeln erfordert die konkrete Sinneserfahrung, und jede Sinneserfahrung ist konkretes Handeln. Wenn wir etwas tun, liefern uns die Sinne die Orientierung. Wenn wir etwas wahrnehmen, erleben wir zugleich dessen implizite Handlungsmöglichkeiten, sprich das, was wir mit ihm anfangen können.
Der Konstruktivismus: Verlust des Konkreten
Das Abstrakte ist nicht das Gegenteil des Konkreten, sondern dessen Entfremdung oder Weiterentwicklung, je nach Blickpunkt. Es besteht ein Kontinuum zwischen beiden Polen, wobei es allerdings Konkretes ohne Abstraktes, jedoch kein Abstraktes ohne Konkretes gibt. Zwar würde ein radikaler Konstruktivist behaupten, dass es überhaupt nichts Konkretes gibt, also keine unmittelbare direkte, unabgeleitete Erfahrung, sondern dass wir es nur mit vermittelten Konstruktionen zu tun haben, weil uns beispielsweise keine „Sinnesdaten“ bewusst werden, sondern nur Nervenimpulse, die über unzählige Schaltstellen weitervermittelt wurden und wir keine Ahnung haben, ob diese dann noch in irgendeiner Weise den Ausgangsreizen entsprechen, ja dass selbst die Frage nach dem Unmittelbaren sinnlos ist, weil es für sie im Rahmen einer durchkonstruierten Welt keine Antwort geben kann. Als Erwiderung kann eingebracht werden, dass die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung, also ihre Konkretheit, vor jeder Abstraktion kommt, also auch vor jeder, die dann feststellt, dass es konkrete Erfahrungen gar nicht „gibt“. Der Konstruktivist tut so, als würde er den ganzen Tag als Konstruktivist herumlaufen; tatsächlich nutzt ihm seine Philosophie beim Herumlaufen überhaupt nicht; da braucht er die Gewissheit der konkreten Erfahrung. Er würde zwar sagen, er tut in seinem Alltagsleben nur so, als wäre alles, was er wahrnimmt, „wirklich“, als „gäbe“ es die Bordkante, über die er stolpert, während die „wirkliche Wirklichkeit“ nur eine im eigenen Kopf sein kann. Wir können jedoch die Argumentation des Konstruktivisten nur verstehen, wenn wir uns in einen außersinnlichen und außerpraktischen Zusammenhang begeben, wenn wir also das Konkrete, so weit es geht, beiseite stellen. Wir müssen also einen abstrakten Standpunkt einnehmen, um das Konkrete in seiner Existenz in Frage stellen zu können. Wie wir den Schritt zu diesem Blickpunkt tun, kann der Konstruktivist mit seinem Modell nicht nachvollziehen.
Der Konstruktivist begibt sich also auf einen abstrakten Standpunkt, der ihm fortlaufend bestätigt, dass es das Konkrete nicht geben kann. Da der Konstruktivismus nicht mehr sein kann als ein Metamodell zur Beschreibung der menschlichen Welterkenntnis, und da Modelle immer abstrakt sind, hat der Begriff des Konkreten in diesem Rahmen keinen Sinn. Das ist auch die Schwäche des Konstruktivismus, dass er die primäre, vorreflexive Erfahrungswelt, also die Welt des Konkreten, nicht verstehen kann.
Wollen wir hingegen auf die unmittelbare Frische des Konkreten nicht verzichten, wollen wir der Unmittelbarkeit des Erfahrens seinen Rang belassen, dann begnügen wir uns mit dem Platz außerhalb der Konstrukte des Konstruktivismus. Wir brauchen ein umfassenderes Weltmodell, in dem die Ursprünglichkeit der Erfahrung einen gleichrangigen Platz neben der abstrakt verarbeiteten Erkenntnis einnehmen kann. Der Siegeszug der Abstraktion, zusammen mit der von ihr ermöglichten Technik, darf seine Quelle im Konkreten nicht vergessen, sonst landen wir in der Entfremdung, in der kognitiven Dissoziation.
Die Wiedergewinnung des Konkreten
Die Folgen der Rehabilitierung des Konkreten sind weitreichend. Für unsere Lebenspraxis bedeutet das die Übernahme der Prinzipien der Achtsamkeit: Auf den Moment achten und aus ihm heraus handeln.
Auch für unsere Weltsicht als ganzer ergeben sich veränderte Perspektiven. Die europäische Neuzeit mit ihrem Aufschwung der objektiven Wissenschaften und der technischen und ökonomischen Entwicklungen haben zur invasiven Ausbreitung des Abstrakten geführt. Die subjektiven Folgen sind von verschiedenen Autoren als Entfremdung beschrieben worden: Das Konkrete ist uns fremd geworden, weil wir von so viel Abstraktheit umgeben sind, aber im Abstrakten sind wir nie heimisch geworden und werden wir uns nie wirklich wohlfühlen.
Deshalb ist es wichtig, dass wir den Rückweg zum Abstrakten immer wieder bewusst gehen. Es zieht uns ja „hinaus“ in die Natur, hin zu natürlichem Essen, zwischenmenschlichen Begegnungen und Erfahrungen mit unserem Körper. Wenn wir uns bewusst machen, dass wir uns dabei der Wirklichkeit in ihrer unmittelbaren, konkreten Form zuwenden, können wir mehr schätzen, was wir uns mit dieser Hinwendung schenken und wie sehr sie uns nottut.
Wir können den Schritt aus der Entfremdung zurück zur Wirklichkeit ganz einfach vollziehen, indem wir einen bewussten Atemzug nehmen. Wir haben weiters die Möglichkeit, die Entfremdung im größeren Rahmen zu entmachten, indem wir die Wissenschaft des Konkreten mehr Bedeutung geben. Das bedeutet dann, dass die Erste-Person-Perspektive einen gleichwichtigen Rang in der Wirklichkeitserkenntnis neben den verschiedenen Stufen der abstrahierten Forschungsergebnisse erhält. Wir hören damit auf, die Wirklichkeit nur mit dem abstrahierenden Maßstab der Wissenschaft zu bewerten und nehmen die besonderen Qualitäten der Individualitäten in ihren vielfältigen Erscheinungsformen dazu.
Zum Weiterlesen:
Die Erste-Person-Perspektive als Wissenschaft
Das innere Wissen und eine neue Methodologie
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen