Zum Abschluss dieser kleinen Artikelserie über die Sorgen sollen die Gedanken Martin Heideggers, eines der bekanntesten Philosophen des 20. Jahrhunderts, betreffend der Sorge besprochen werden.
Das Phänomen der Sorge nimmt nämlich bei Heidegger einen ganz zentralen Raum ein: Die Sorge ist ein Wesenszug des menschlichen Lebens. Er unterscheidet in seinem ersten bahnbrechenden Buch „Sein und Zeit“ (1926) zwischen der Sorge um das Selbst und der Sorge für andere, der Fürsorge. Von dieser gibt es wieder zwei Formen, die einspringende Fürsorge, die anderen ihre Sorgen abnehmen will, und die vorspringende Fürsorge, die dem anderen helfen soll, seine eigene Sorge zu erkennen und zu tragen.
Die Sorge ist demnach der Antrieb für jegliches menschliches Handeln. Ohne Sorge würden wir in der Selbst- und Seinsvergessenheit landen, kümmerten und scherten wir uns um nichts. Die Sorge weckt uns auf und hält uns wach, damit wir den Blick auf das, was das Leben sinnvoll macht, nicht verlieren.
Sie hat allerdings auch die Gestalt der Belastung, was sich in der Anschauung spiegelt, dass das menschliche Dasein nach Heidegger ein „Sein zum Tode“ ist, dass also alles menschliche Tun im Schatten der Endlichkeit steht. Damit argumentiert Heidegger innerhalb des zeitgenössischen Denkrahmens des Existentialismus, obwohl er selber nicht dieser Richtung zugezählt werden wollte. Was bei Heidegger mit dem Begriff der Sorge bezeichnet ist, wird bei Albert Camus zur Vorstellung der Absurdität der menschlichen Existenz angesichts der Sinnentleertheit des Lebens und des anschließenden Todes weitergetrieben. Dazu kommt, dass Heidegger die Angst als Grundgegebenheit des Menschen ansieht, nicht nur als prägendes Gefühl, sondern als Wesenszug des Menschen. Dieser wird also einer fundamentalen Belastung unterworfen zu sein verstanden. „Worum sich die Angst ängstet, ist das In-der-Welt-sein selbst.“ Dadurch also, dass der Mensch in der Welt ist, also in seinen Lebenszusammenhängen lebt, hat er Angst.
Auch wenn Heidegger die Sorge als Wesenszug des Menschen unterscheidet vom Besorgtsein, womit die Sorgen des Alltags gemeint sind, bleibt bestehen, dass es keinen Ausweg aus der Sorge gibt. Sollte ein Leben sorgenfrei sein, bleibt die Grundsorge bestehen, mit der der Mensch im Bann seines Todes steht.
In diesen Zusammenhang reiht sich Heideggers Verständnis von Zeitlichkeit ein, die das Wesen der Sorge verkörpert, denn Zeitlichkeit bedeutet für ihn die Orientierung des Menschenlebens auf die Endlichkeit und Sterblichkeit hin.
Können wir Heideggers Sorge ebenso entsorgen, wie wir uns von unserem „kleinen“ Besorgtsein entlasten können? Dabei geht es um die Frage, welchen Stellenwert wir der Zeitlichkeit in unserem Leben einräumen, was so viel heißt wie, welches Gewicht wir dem Tod geben und welche Macht wir ihm über unser Leben einräumen.
Unsere Endlichkeit begegnet uns fortwährend als Faktum. Wir wollen etwas erreichen und scheitern. Wir möchten eine Leistung erbringen und schaffen es nicht. Wir wollen uns gut ausschlafen und wachen mitten in der Nacht auf. Wir streben nach einer harmonischen Beziehung und sind schon wieder im Streit gelandet. Jede dieser Endlichkeitserfahrungen können wir als Anlass für mehr Sorge nehmen: Was, wenn es nie besser wird? Wir können sie aber auch als Gelegenheit nutzen zu akzeptieren, was gerade ist. Wir sind an eine Grenze gestoßen, und das hat alle möglichen Gefühle ausgelöst. Zugleich geht das Leben weiter, möglicherweise in einer anderen Richtung als wir gewünscht oder erwartet haben. Indem wir all die Gefühle, die auftauchen, akzeptieren und ihnen Raum in uns geben, können wir spüren, dass das Leben weiterfließt, und dass nur unser partieller Kontrollversuch und unsere probeweise Einflussnahme nicht erfolgreich war. Damit sind wir der Macht der Endlichkeit schon wieder entronnen. Sie ist nur Folge einer enttäuschten Erwartung.
Wer von der „Kraft des Jetzt“ (Eckhart Tolle) kostet, steigt aus der Zeitlichkeits-Sorge-Struktur aus. Im Jetzt gibt es nur das, was gerad ist. Die Zeitlichkeit rückt erst ins Bewusstsein, sobald wir das Jetzt verlassen und dabei die Zeitmaschine im Kopf anwerfen. Dann sind wir an Vergangenheit und Zukunft angehängt, oft holen wir uns die Ängste aus der Vergangenheit und projizieren sie dann gerne als Sorgen in die Zukunft.
Heideggers philosophisches Vorgehen war nach seinem Lehrer Edmund Husserl phänomenologisch bestimmt, d.h. bezog sich auf die Erfahrungswelt der Menschen. Die Erfahrungstiefe aus dem Eintauchen in den Moment, von der viele Mystiker sprechen, war ihm wie vielen seiner Zeitgenossen offenbar nicht zugänglich. Wir haben in unserer Zeit viel mehr Möglichkeiten, mit dieser Dimension der Spiritualität in Kontakt zu treten, weil viele Lehrer und Meister diesen Weg aufzeigen und vermitteln. Wir erleben auf diesem Weg eine Form von innerer Freiheit, die den Horizont der Philosophie von Heidegger übersteigt. Und wir haben in unserer Zeit viele therapeutische Methoden zur Verfügung, um uns von Ängsten und Sorgen zu befreien. Schließlich können wir die Kombination von Therapie und Meditation nutzen, um uns aus dem Bann der existentialen Todesangst und der von ihr erzeugten existentialen Sorge zu lösen.
So bleibt der Geltungsbereich von Heideggers Existentialontologie auf die materialistisch geprägte Lebenswelt des 20. Jahrhunderts und ihre Sorgen und Ängste beschränkt. Er thematisiert, psychologisch betrachtet, die dominanten Überlebensstrategien seiner und unserer Zeit und verankert den entfremdeten, traumatisierten oder neurotischen Zustand der Menschen in seinem Wesen, und nur innerhalb dieses engen Rahmens, der durch das Geworfensein des Menschen in sein Leben festgelegt ist, könne der Mensch seine Freiheit, sein Entwerfen entfalten.
Dieses Geworfensein gibt es in der Form der vielfältigen Verletzungen und Belastungen, die wir als epigenetisches Erbe unserer Vorfahren in uns tragen. Wir können uns nicht aussuchen, in welche Familie wir hineingeboren werden. Es gibt aber Wege, wie wir die Verstrickungen in den transgenerationalen Traumatisierungen auflösen können. Jeder Schritt der inneren Befreiung auf diesem Weg hilft uns, uns mehr und mehr selbst in der bedingungslosen Annahme des gegenwärtigen Moments zu finden. Wir brauchen nicht mehr an einem „Wesen“ festzuhalten, das von der angstbesetzten Unausweichlichkeit des Todes überschattet ist, sondern können unserer Endlichkeit mit unendlichem Vertrauen begegnen. Je mehr wir erkennen, dass so etwas wie ein „Wesen“ in uns gar nicht gibt, sondern nur Festlegungen unserer Identität, die aus unerlösten inneren Abhängigkeiten stammen, desto weiter bewegen wir uns heraus aus der Gewalt von Angst und Sorge und hin zur inneren Freiheit des achtsamen Im-Moment-Lebens.
Zum unersten Abschluss eines ernsten Themas:
Der strenge Priester mahnt die Gemeinde: "Der Tod kann ganz plötzlich kommen. Bevor dieser Tag endet, kann noch jemand aus dieser Gemeinde sterben."
Eine ältere Dame in der ersten Reihe beginnt zu kichern.
"Was gibt es da zu lachen?"
"Ich gehöre nicht zu dieser Gemeinde."
Zum Weiterlesen:
Die großen Sorgen und die Verantwortung
Sorgen entsorgen
Sorgen und Planen
Die Sorgen von übermorgen
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