Donnerstag, 11. Mai 2017

Achtsamkeit und Lebensqualität

Die Schulung der Achtsamkeit besteht vor allem darin, den Augenblick in seinem Sosein anzunehmen, ohne Zutat oder Abstrich. Wenn das gelingt, wird deutlich, dass jeder Moment eine Fülle enthält, in der Weite dessen, was erfahrbar ist, und in der Tiefe dessen, was darin an Bedeutung enthalten ist. 

So wird jeder Moment zu einer überwältigenden Erfahrung, und wir brauchen nur in Wertschätzung und Dankbarkeit einen inneren Schritt zurück tun, um die Fülle und Tiefe voll würdigen zu können. Sie ist uns geschenkt. Unsere einzige Leistung besteht darin, uns für diese Erfahrungsform zu öffnen und unsere Bereitschaft anzubieten, sie als Ganze anzunehmen.

Hier zwei Beispiele. Wir sind in der Menge anderer Menschen unterwegs, viele Menschen sind um uns herum. Wir können uns bedrängt, eingeengt, behindert oder sogar bedroht fühlen. Oder wir öffnen uns, und dann erschließt sich die Fülle und die Tiefe, die jeder Mensch ist, genau in dem, wie er oder sie ist – jedes Menschenwesen ein Wunder.

Wir trinken eine Tasse Tee und freuen uns kurz, weil sie unseren Durst löscht, worauf wir unsere Aufmerksamkeit gleich wieder anderswohin wandern lassen.  Oder wir nehmen wahr, welches Geschenk wir mit dieser einfachen Tasse Tee bekommen, und erahnen plötzlich, wie viele Menschen daran mitgewirkt haben, dass wir jetzt in diesen Genuss kommen: Menschen, die die Pflanzen gepflanzt und geerntet haben, sie verpackt und für den Transport hergerichtet haben, bis zu den Personen, die das fertige Produkt ins Regal gestellt haben, damit wir nur danach zu greifen brauchen; dazu kommen noch alle Menschen, die dazu beigetragen haben, dass wir über das Geld verfügen, diesen Tee zu kaufen, die dafür sorgen, dass das Wasser und der Strom bereit gestellt ist usw. Eine unübersehbare Anzahl von Menschen hat dazu das Ihre beigesteuert, dass wir in diesem Moment diese spezielle Qualität im Leben genießen dürfen.

Welche unglaublichen Netzwerke haben wir Menschen erschaffen, damit wir uns gegenseitig beschenken können? Auch wenn vieles an diesen Austauschprozessen im Sinn der ökonomischen Gleichheit  und sozialen Gerechtigkeit zu verbessern ist – wieviel gibt es da, das gut ist und Gutes bewirkt, und wie wenig machen wir uns davon bewusst! Wenn wir uns auf diese Zusammenhänge einlassen, erkennen wir mehr von unseren Möglichkeiten, an der Vermenschlichung der Welt mit achtsamem Handeln mitzuwirken.

Achtsamkeit und Unterhaltung


Die Lebensqualität in ihrer Fülle und Tiefe verändert unser Verhältnis zur Unterhaltung. Wir verwenden die Unterhaltung als Gegenmittel zur Langeweile, die wir als unangenehm erleben, und dafür dienen die Produkte der Unterhaltungsindustrie als gekonnte gemachte Ablenkungen. Wenn wir mit der Haltung der Achtsamkeit an die Langeweile herantreten, beginnen wir sie als inneres Phänomen zu erforschen statt dass wir uns von ihr ablenken. Wir suchen nichts Interessantes im Außen, das die innere Ödigkeit vertreiben soll, sondern wenden unser Interesse dem zu, was wir gerade spüren, auch wenn es ein scheinbarer Mangel am Spüren ist. Wie fühlt sich innere Leere, Schalheit, Öde an? Wie fühlen sich die Impulse an, den Fernseher einzuschalten, trotz des Wissens, dass das angebotene Programm unbefriedigend ist? Was geschieht, wenn ich mich in diese Gefühle und Impulse hinein entspanne? Es kann sein, dass sich die Langeweile in ein interessantes Selbsterforschungsprojekt umgewandelt hat.

Natürlich können wir ebenso achtsam genießen, was uns die Unterhaltungsindustrie anbietet, solange und soweit es uns gefällt. Aber wir brauchen diese Produkte nicht mehr in dem Sinn, dass sie einen Reizmangel in uns füllen sollten. Denn mit dem Fokus auf Achtsamkeit gibt es keinen Reizmangel mehr. Vielmehr nehme wir den Konsum von Unterhaltung einfach als eine andere Variante der Qualität des Lebens, die wir uns gönnen. Gleich was wir tun, mit Hilfe der Achtsamkeit ist uns in jedem Moment die höchste Qualität des Lebens zugänglich, wir brauchen nur diesen Zugang zu öffnen und in die Fülle und Tiefe eintreten.


Zum Weiterlesen:
Ist Achtsamkeit ein Tranquilizer?
Langeweile, eine Form der Selbsttäuschung
Der Achtsamkeitsboom und seine Grenzen

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