Samstag, 13. Mai 2017

Die Sorgen von übermorgen

Sorgen binden uns an eine unsichere Zukunft. In der Fantasie malen wir uns aus, was alles passieren könnte, mit dem wir nicht zurechtkommen. Wir denken dabei, dass wir uns mit dem Sorgen-Machen auf Situationen vorbereiten können: Wenn wir wissen, was auf uns zukommt, werden wir nicht am falschen Fuß erwischt. Wir können uns jetzt schon ausdenken, wie wir reagieren werden, falls der Fall X eintritt.

Allerdings: Wir wissen nie sicher, wie und was geschehen wird. Die Zukunft unterliegt nicht unserer Kontrolle und hält sich nicht an das, was wir von ihr wünschen, befürchten oder erwarten. Aber wir probieren es immer wieder mit dem Probehandeln, zu dem uns die Sorgen verleiten, nach dem Motto:  Mal angenommen, morgen Nachmittag geht die Welt unter, was sollte ich da am Vormittag noch unbedingt erledigen – die Wäsche aus der Waschmaschine nehmen und das Paket bei der Post abholen? Vielleicht weniger dramatisch: So viele Termine morgen, wenn da einer länger dauert als geplant, kommt alles durcheinander und ich schaffe das nicht, da muss ich bei jedem Termin genau auf die Uhr schauen, was aber, wenn der Verkehr dazwischen staut, d.h. ich muss ein paar Minuten mehr einrechnen, also muss ich mich ganz knapp fassen und darauf schauen, dass auch die anderen möglichst wenig reden, usw. usw.


Wir wollen alle Eventualitäten einplanen, verlieren uns aber bald in der Unendlichkeit der Möglichkeiten. Die Konsequenz ist dann, dass wir den nächsten Tag gleich voller Stress beginnen, mit all den Ungewissheiten und deren möglicher Auswirkungen im Hinterkopf.

Besonders kompliziert wird die Situation, wenn wir uns Sorgen über Übermorgen machen: Was passiert, wenn A passiert, und danach kommt die Frage, was nach A geschehen wird, wie wir mit B umgehen sollten, das ja nach A auftauchen könnte, obwohl wir noch gar nicht wissen, ob A überhaupt passieren wird. Aus einer Unbekannten soll eine weitere gefolgert werden. Ich habe eine Flugreise gebucht und höre, dass die Fluglinie in wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist. Ich mache mir Sorgen, ob es die Fluglinie noch geben wird, ob ich in diesem Fall einen Ersatzflug bekomme, ob dieser rechtzeitig eintreffen würde, ob ich das Meeting noch erreichen würde, was passieren würde, wenn es nicht mehr klappt, ob das Meeting gleich verschoben werden sollte, aber ob dann alle Beteiligten Zeit hätten, und ob bei einer Verschiebung ein anderes Verkehrsproblem dazwischen kommen könnte usw.


Chaos bewirkt Stabilität


Hier stoßen wir auf chaotische Prozesse. Zunächst gibt es eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, dass A passiert und eine möglicherweise geringere, dass es nicht zu A kommt. B ist davon abhängig, dass A passiert. D.h. die Wahrscheinlichkeit für B ist ungleich geringer als die von A, usw. Je mehr wir in die Zukunft gehen, desto komplexer wird das Bild.

Davon können die Meteorologen ein Lied singen: Drei bis vier Tage in die Zukunft, und die Prognose wird immer unsicherer, weil so viele Faktoren mitspielen und kleine Veränderungen eines Faktors viele andere Faktoren verändern können, bis die ganze Wetterprognose kippt. Auch mit den aufwändigsten Computerprogrammen lässt sich bis heute keine brauchbare Wettervorhersage über ein paar Tage hinaus erstellen. Und wir, mit unseren internen Denkprogrammen meinen, dass wir die möglicherweise auftauchenden Eventualitäten Jahre voraus bedenken sollten, um sorgenfrei leben zu können. Doch brauchen wir nur zurückdenken, um zu erkennen, wie aussichtslos unsere prognostischen Versuche sind: Was wussten wir vor zehn Jahren über das Heute?

Wir wünschen uns, dass unser Leben auf linearen Prozesse mit klarer Kausalität aufgebaut wäre. Wenn ich den Schalter drücke, soll das Licht angehen. Wenn ich im Geschäft anrufe, soll jemand abheben und freundlich antworten. In diesem Rahmen  fühlen wir uns sicher, und die Zukunft ist überschaubar und planbar.

Was uns an der Technik so gefällt, ist ihr Bestreben, lineare Prozesse zu erschaffen, die unsere Welt überschaubar und frei von Zufällen machen. Die prinzipielle Unkontrollierbarkeit der Zukunft wird zurückgedrängt. Wir gewöhnen uns an hohe Zuverlässigkeiten: dass Züge zur vorgesehenen Zeit fahren, die Müllabfuhr an den angekündigten Tagen kommt, Wasser aus dem Hahn und Strom aus der Steckdose fließt, dass das Auto anspringt und das Handy Anrufe entgegennimmt. In der Lebenswelt einer westlichen modernen Gesellschaft ist das Chaos zu einem hohen Grad eliminiert. Gerade das macht uns so intolerant und indigniert, sobald die hochgeschraubten Erwartungen enttäuscht werden: der Flug verschiebt sich „auf unbestimmte Zeit“, der Computer stürzt aus unerfindlichen Gründen ab, und Whatsapp ist für Stunden nicht zugänglich. Irgendwo in den Weiten der technologischen Netzwerke haben sich Prozesse gegenseitig überfordert und schließlich ausgeschaltet, aus linearen Prozessen sind plötzlich chaotische Strukturen entstanden. Chaos führt zu Ängsten, was im Übrigen auch damit zusammenhängt, dass wir uns noch zu wenig mit der Chaostheorie auseinandergesetzt haben.  Denn diese beruht auf der Einsicht, dass viele Bereiche der Natur und noch mehr der Kultur durch chaotische, also nicht vorhersagbare Verläufe gekennzeichnet sind. Es gibt Systeme, die umso stabiler sind, je chaotischer ihr Verhalten ist. Ein Beispiel ist die Variabilität des Herzschlages als Hinweis auf dessen Gesundheit.



Der vermeintliche Gewinn beim Sorgenmachen


Im Körper bedeutet Chaos einen Extremzustand auf einem Kontinuum, dessen anderes Ende die Erstarrung und Immobilisierung darstellt und in dessen Mitte die Kohärenz, also die Übereinstimmung der Körperschwingungen beheimatet ist.

Die Sorge ist eine treibende Kraft, die uns aus der Mitte des Kontinuums herausholt. Aus Angst, in ein Chaos zu stürzen, flüchten wir in die Gegenrichtung in einen Zustand von Immobilität und reduzieren damit unsere Möglichkeiten, der Wirklichkeit flexibel und kreativ zu begegnen.

Die Sorge hilft uns nur scheinbar beim Fokussieren: Wir konzentrieren uns auf ein Thema, das uns Angst macht und suchen nach Wegen, die die Bedrohung reduzieren könnten, damit wir mehr sichere Aussichten auf die Zukunft haben. Das soll uns in der Gegenwart beruhigen. Wir sind nicht mehr schutzlos dem ausgeliefert, was uns die Zukunft bringen könnte, sondern basteln uns Strategien, die uns helfen sollen, besser damit umgehen zu können.

Allerdings ist es der Anteil an Angst, der in jeder Sorge steckt, der uns an einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Thema hindert. Ängste blockieren unsere kognitiven Funktionen, die wir bei der Problembewältigung brauchen, sodass uns unter diesen Umständen die bestmöglichen Lösungen gar nicht einfallen. Erst wenn wir über die Beruhigung der Sorge wieder zu mehr Entspannung finden, kann die optimale Lösung auftauchen.

Mit solchen Erfahrungszyklen bestätigen wir uns freilich die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der Sorge: Ohne sie wären wir ja nicht auf die Problemlösung gestoßen. Folglich nehmen wir an, dass wir Sorgen brauchen, um im Leben weiterzukommen, und je mehr davon, desto besser, je weiter hergeholt, desto intelligenter, je ferner in die Zukunft projiziert, desto weitblickender.

Und schon haben wir dabei den Umweg übersehen, den wir genommen haben: Zunächst erlauben wir das lähmende und begrenzende Überhandnehmen der Sorge, um sie dann mit mangelhaften Denkfähigkeiten einigermaßen zu beruhigen, bis wir schließlich dorthin kommen, von wo uns die Sorge entführt hat: In einen vertrauensvollen und entspannten Zustand, der die besten Voraussetzungen für jede Problemlösung darstellt. Ohne Sorge hätten wir uns in Ruhe mit der Situation und ihrer Problematik auseinandersetzen können und hätten vielleicht mehr als nur eine beste Lösung gefunden.

Mittels Sorgen wollen wir die Zukunft kontrollieren, die sich freilich nicht kontrollieren lässt. Statt dessen kontrollieren wir uns selber und unsere Fantasie und Kreativität. Je weiter wir die Sorge in die Zukunft verschieben, desto mächtiger und unerbittlicher wird der Griff, den sie auf uns ausübt.

Machen wir uns bewusst, dass Sorgen nichts als Denkkonstrukte sind, mit einem recht vagen Bezug zur Wirklichkeit, und dass sie emotional mit Feigheit und Kontrollsucht verbunden sind. Sie rauben uns Kraft und Klarheit.

Haben wir also den Mut, uns der Gegenwart und ihren Erfordernissen zu stellen und zu vertrauen, dass wir es immer wieder in die Zukunft hinein schaffen werden, ohne dass wir im Kopf alles Mögliche vorwegnehmen müssen, was vielleicht oder vielleicht auch nicht, vielleicht so oder vielleicht doch anders stattfinden könnte.


Zum Weiterlesen:
Die großen Sorgen und die Verantwortung
Die zuträgliche Leichtigkeit und die Schwere

Sorgen und Planen 
Sorgen entsorgen

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