Wilhelm Lehmbruck: Sitzender Jüngling |
Das Weinen als Trauerreaktion ist ein intensives Gefühl und es bewirkt, dass wir uns auf uns selbst zurückziehen. Es verbindet uns stark mit uns selbst, alles andere um uns herum wird plötzlich nebensächlich. Wir gehen ganz nach innen und sind ganz bei uns selbst. Wir stärken dadurch unsere Selbstbeziehung. Denn unsere Selbstbeziehung nährt und wächst durch Beziehungen zu anderen Menschen. Wenn eine dieser Beziehungen im außen nicht mehr möglich ist, müssen wir die Beziehung zu uns selbst neu errichten und in uns festigen. Dabei hilft uns das Trauern. Wir kehren ein bei uns selbst, um uns zu trösten, zu laben und zu kräftigen. Wir reorganisieren unser verletztes Selbst, sodass es wieder ganz werden kann.
Gelingt uns dieses Trauern aus irgendeinem Grund nicht, dann schwächt uns der nicht verarbeitete Verlust langfristig. Unsere Selbstbeziehung hat Schaden erlitten, der nicht gutgemacht ist, und wir verlieren an Kraft und Sicherheit. Wir können die Leere, die der verstorbene Mensch hinterlassen hat, nicht füllen und werden immer wieder von ihr eingeholt. Sie lähmt uns und bindet Lebensenergien. Wir laufen Gefahr, statt zu trauern depressiv zu werden.
Die soziale Funktion der Trauer
Die Trauerreaktion hat noch einen anderen Sinn. Sie sendet ein starkes soziales Signal aus. Wenn wir weinen, zeigen wir uns verletzlich und schwach. Wir sind für niemanden eine Bedrohung, wir lösen keine Angst aus, im Gegenteil, wir sind hilfsbedürftig und weitgehend handlungsunfähig. Wer uns in dieser Lage mit Empathie begegnet, wird den Impuls spüren, uns zu halten und zu trösten. Wir bekommen sozialen Zuspruch und emotionale Zuwendung von Menschen, die uns wohlgesonnen sind. Das vertieft diese Beziehungen, und wir festigen auf einer tieferen Ebene unsere Überzeugung darüber, dass wir nicht alleine sind und dass das soziale Leben weitergeht, auch wenn es an einer Stelle unterbrochen wurde.
Das Gedenken und das Vermächtnis
In diesem Sinn gedenken wir auch der Verstorbenen. Wir halten sie in unserer Erinnerung lebendig und geben ihnen einen Anteil an und in unserem Leben. Damit halten wir weniger eine Illusion aufrecht (ein Mensch, der verstorben ist, ist eben nicht mehr lebendig). Vielmehr bleibt die soziale Beziehung zwischen den Lebenden und den Verstorbenen bestehen, allerdings mit geänderten Vorzeichen: Es gibt eben kein lebendiges Gegenüber mehr, das aus sich heraus in der Kommunikation reagiert. Dennoch wirkt die Beziehung zwischen Lebenden und Verstorbenen weiter, in den Lebenden, die auch den Nicht-mehr-Lebenden Lebendigkeit verleihen können.
Wir schätzen Menschen über ihren Tod hinaus. Damit anerkennen wir, dass sie immer mehr sind als ihr Leben zwischen Geburt und Tod und dass ihre Bedeutung über die Person hinausgeht, die sie waren.
Manchmal sprechen wir von einem Vermächtnis: Menschen hinterlassen etwas, das über ihren Abschied hinaus wirkt. Und das trifft nicht nur auf die berühmten Persönlichkeiten, wie z.B. Seneca oder Goethe, die in ihren Werken und Zitaten weiterwirken und Menschen seit Jahrhunderten immer wieder inspirieren. Das trifft auf alle Menschen zu: Jeder hinterlässt etwas, was nur er/sie hinterlassen kann, und das können hundert Kompositionen sein oder eine Art zu lächeln, ein Lieblingsspruch, ein Händedruck, eine Geste oder eine besondere Art sich umzublicken. All das kann bedeutsam sein und verdient Wertschätzung, und aus einer bestimmten Perspektive sind alle diese unterschiedlichen Vermächtnisse in ihrer Wertigkeit gleich. Letztlich und eigentlich geht es darum, die Person als Person in ihrer Einzigartigkeit und Ganzheit im Gedenken lebendig zu erhalten. Wir erinnern uns an sie, und wir fühlen uns bereichert und inspiriert und können anderen davon ein Stück weitergeben.
Das Ego und der Verlust
Der Verlust menschlicher Beziehungen ist ein Verlust an Möglichkeiten, und das ist der Grund, warum sich manchmal Wut in die Trauer mischen kann. Es wurde uns etwas weggenommen, was uns „gehört“ hat, und wir konnten nichts dagegen machen. Wir haben ein Stück Freiheit verloren, das wir an diesen Menschen geknüpft haben, und das wir in dieser Form nicht mehr leben können. Wir haben auch eine Möglichkeit verloren, unsere Liebe zu leben und auszudrücken. Aus spiritueller Sicht betrachtet, ist es das Ego, das um seine verlorenen Möglichkeiten trauert oder dagegen wütend rebelliert.
„Ich hätte noch so gerne dies oder jenes mit der Person getan oder gesprochen, warum musste sie so früh gehen, dass das nicht mehr möglich ist?“ So fragt das beleidigte Ego und beklagt seine Hilflosigkeit. Doch das trauernde Selbst weiß, dass es nur eine Möglichkeit hat, die neue Situation zu verarbeiten, indem im Zulassen des Schmerzes die Unausweichlichkeit dessen, was passiert ist und wie es passiert ist, akzeptiert wird.
Hier findet sich eine weitere Funktion der Trauer: Sie beruhigt das verletzte Ego und lässt es zurücktreten. Es hilft nicht, aus einer überlegenen Position zu dozieren, dass die ganze Trauergeschichte bloß eine Ego-Veranstaltung sei und wir dabei nur regressiven Gefühlsmustern nachhängen. Mit dieser selbstkritischen Haltung geschieht einzig und allein, dass sich das Ego selbst übertrumpfen will. Es ignoriert die vegetative und die soziale Funktion der Trauer.
Dazu eine Zen-Geschichte:
Ein Meister erhielt die Nachricht, dass sein Bruder verstorben sei. Daraufhin fing er bitterlich zu weinen an. Nach einiger Zeit kamen die Schüler und fragten ihn, warum er denn so weine, obwohl er ja immer gelehrt hatte, dass alle Phänomene nur Illusion seien und dass die Wahrheit nur im Annehmen der Unbeständigkeit alles Seins zu finden wäre. Da sagte der Meister: „Freilich ist es nur eine Illusion, aber es ist eine besonders schmerzliche.“
Wir können der Wirkung der Trauer vertrauen; wir können uns ihr ganz anvertrauen: Sie führt durch den Prozess des Abschiednehmens und der Verarbeitung des Verlustes bis zur Wiedererrichtung und Stärkung des sozialen Netzes. Indem alle Gefühle, die dabei auftauchen, akzeptiert und zugelassen werden, weitet sich das Bewusstsein über den eigenen Schmerz hinaus und etwas Größeres tritt ins Blickfeld, das alles umfasst, das Leben und das Sterben, das Glück und die Trauer.
Dazu noch eine Geschichte:
Ein berühmter Zenmeister pflegte immer wieder 48 Stunden lang zu weinen. Einer seiner Schüler sagte zu ihm: „Sie sind kein richtiger Meister. Sie lassen sich von ihren Emotionen überwältigen und heulen wie ein kleines Kind.“ Der Meister antwortete: „Meine Freiheit besteht darin, zu weinen, wenn ich traurig bin.“ Er war völlig eins mit seiner Trauer, als er traurig war. Und er war wirklich in der Tiefe seiner Traurigkeit. Der Erfolg davon war aber, dass er den größten Teil seiner Traurigkeit in 48 Stunden bewältigt hatte. Dann war’s vorbei.
Vgl. Das Ego und das Weiterleben nach dem Tod
Theologie und Mystik zum Weiterleben nach dem Tod
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