Nach dem ersten Atemzug verändert sich die Lunge so stark wie kein anderes Organ. Vor der Geburt hat die Lunge keine Funktion, das ist bei Menschen und Mäusen ähnlich. Sie wird zwar schon vortrainiert durch verschiedene Muskelbewegungen, die das Ungeborene vollzieht, ist aber noch von einer Flüssigkeit ausgefüllt und wird von der Plazenta direkt durchblutet, während das körpereigene Gefäßsystem das Organ umgeht. Beim ersten Atemzug, der beim Menschen mit einem kräftigen Schrei verbunden ist, wird die Flüssigkeit vom Körper absorbiert. Die Lunge entfaltet sich und wird ab jetzt voll durchblutet. In den nächsten drei Wochen entwickelt sich die Lunge zu dem, was sie den Rest des Lebens sein soll: Das zentrale Atmungsorgan. Durch das plötzliche Aufdehnen der Lunge und durch den ersten Schrei werden bestimmte Mediatoren freigesetzt, darunter ein Zytokin, das Interleukin 33, das dann einen großen Einfluss auf andere Immunzellen hat.
Im Körper der Mutter war die Lunge noch keimfrei. Doch danach braucht die Lunge eine gut funktionierende Immunabwehr, denn mit jedem Atemzug strömen Schadstoffe und Bakterien in die Lunge ein. Dieses Immunsystem wird ebenfalls mit dem ersten Atemzug aktiviert. In einer Kettenreaktion. IL 33 wird ausgeschüttet und aktiviert IL2-Zellen, spezielle weiße Blutkörperchen, die in die Lunge einwandern. Das führt dazu, dass die wichtigsten Immunzellen, die Alveolamakrophagen, in den Atemwegen ihre Arbeit aufnehmen.
Die IL2-Zellen sind wichtig für das Aufrechterhalten eines Gleichgewichts. Einerseits sollen Schadstoffe abgewehrt werden, andererseits soll nicht überreagiert werden. Das Immunsystem wird durch die IL2-Zellen gleich wieder heruntergeschraubt. Das hat aber auch einen Nachteil, weil Bakterien eine größere Chance haben, sich im Körper breitzumachen.
Der erste Atemzug kann mehr oder weniger gut funktionieren. Die Wehen spielen eine wichtige Rolle, auch der Temperaturschock kurz nach der Geburt ist ein wichtiger Auslösefaktor. Für den Lungenstartschuss haben nicht alle Babys die gleichen Voraussetzungen. Kaiserschnittkinder sind im Nachteil.
Dies ist der leicht geglättete Text eines Beitrages auf Ö1 über die Forschungsarbeit von Sylvia Knapp von der Medizinischen Universität Wien, gesendet am 3. März 2017 unter dem Titel „Der erste Atemzug und das Immunsystem“ (Dimensionen der Wissenschaft um 19:05) – von mir transkribiert.
Kommentar:
Auch in diesem Zusammenhang erscheint der Kaiserschnitt als nachteilig für die Gesundheit der Kinder. Er stellt einen künstlichen Eingriff in einen Vorgang dar, der von Natur aus seine innere Logik hat, hier dargestellt im Zusammenhang mit der Entwicklung des Immunsystems in der Lunge. Wenn dieser Prozess nicht stattfinden kann, fehlen wichtige Komponenten, die das Kind dann auf andere Weise später aufbauen muss.
Der Artikel verleitet in einem Punkt zur Verstärkung eines bekannten Vorurteils: Je stärker der Schrei des Babys nach der Geburt, desto besser für die Gesundheit und Robustheit des Babys. Auf meine Anfrage dazu schreibt die ORF-Redaktion zurück: „Frau Ronzheimer hat in dem Beitrag über deren (Sylvia Knapps) aktuelles Forschungsprojekt berichtet. Ihres Wissens nach ist der erste Atemzug und der damit meist verbundene Schrei ausschlaggebend für die Entwicklung des Immunsystems der Lunge. Das Immunsystem entwickelt sich laut Silvia Knapp auch bei einem Kaiserschnitt, also unter nicht idealen Umständen, normal, aber eben nicht so gut wie bei einer natürlichen Geburt. Ob der Schrei ausschlaggebend ist, kann Frau Ronzheimer nicht sagen, es ging um den ersten Atemzug. Bei einem Schrei ist der natürlich tiefer.“
Natürlich erfordert ein Schrei einen tieferen Atemzug. Doch sind viele Geburtsforscher der Ansicht, dass der Schrei durch die abrupte Durchtrennung der Nabelschnur ausgelöst wird. Babys, denen die Nabelschnur zum Auspulsieren gelassen wird, fangen meistens langsam und behutsam, also ohne Schrei, zu atmen an. Sie leiden also nicht unter dem Plazenta-Trauma, das im anderen Fall vermutlich der emotionale Auslöser des Schreies ist.
Vgl. Kaiserschnitt - Die Geburtsmethode der Zukunft?
Kaiserschnitt - Ein feministisches Thema
Warum die Geburt im Krankenhaus gelandet ist
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