Die Kritik an dieser Auffassung, die etwa Karl Marx zu dem berühmten Zitat von „Religion ist Opium fürs Volk“ motivierte, bezieht sich vor allem darauf, dass die Religionen den Menschen ein besseres Leben nach dem Tod versprechen, sodass sie sich nicht über die ungerechten und unmenschlichen Lebensbedingungen aufregen müssen, unter denen sie jetzt leiden. Außerdem wird den Religionen vorgehalten, dass sie mit Hilfe von Angstmachen bzw. Verlocken die Menschen dazu bringen wollen, sich in einem gewünschten Sinn zu verhalten. Um nicht den Qualen der Hölle zu verfallen, sondern sich in Ewigkeit an den Genüssen des Himmelreiches gütlich tun zu können, mag es schon wert sein, sich sittsam und brav den Geboten von Gesellschaft und Religion unterzuordnen.
Die neuere Theologie
Um dieser Kritik zu entgehen, haben moderne Theologen versucht, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele neu zu interpretieren. Sie sprechen vom Ziel des menschlichen Lebens in der Begegnung mit Gott nach dem Tod (Heinrich Tischner), die dem menschlichen Leben erst Sinn verleiht. Reinhard Körner meint: „Gott wird mich 'anschauen', mir zugewandt mit einer Liebe, wie ich mir das im schönsten Traum nicht vorstellen könnte.“ Körner schreibt auch, dass Gott den Menschen nicht zugrundegehen lassen könnte, wenn er ihn liebte, und deshalb muss es ein Weiterleben geben. Dietmar Mieth schreibt, es gehe darum, jetzt schon leben, was dann einmal sein wird.
Gemeinsam ist diesen Auffassungen die Idee, dass das Menschsein erst nach dem Tod seine Verwirklichung finden kann. Das, was jetzt nicht vollkommen ist, wird diese Vollkommenheit erlangen, wenn das Erdenleben zu Ende ist. Das Verheißene wird aufgeschoben auf eine Zukunft in einem anderen Seinszustand. Trotz der Betonung der Einheit von Seele und Körper tritt die Dualität spätestens nach dem Tod auf den Plan. Es verändert nichts, wenn von einer weiterbestehenden seelischen Identität gesprochen wird und wenn der sterbliche Körper von einem Leib unterschieden wird, der weiterleben kann. Seele und Psyche zu unterscheiden ist dann auch nur eine Spitzfindigkeit, letztlich ist klar: Vollkommenheit gibt es nur, wenn eines nicht mehr da ist, nämlich dieser physische Körper.
Der Materialist
Ein gestandener Materialist ist durch solche Überlegungen überhaupt nicht beeindruckbar. Er würde trocken sagen, dass es dieser physische Körper ist, der all die Ideen von Vollkommenheit, von Weiterexistenz, von Leib und Seele produziert hat. Das Ganze soll dann erst Wirklichkeit werden, wenn er, der Produzent, nicht mehr existiert? Das Fest findet erst statt, wenn der, der es sich ausgedacht und geplant hat, verschwunden ist – ziemlich unfair.
Die Atheistin
Die Atheistin würde dem Theologen entgegenstellen, dass ein Gott, der die Menschen so erschafft, dass sie unvollkommen und unglücklich das Leben in dieser Wirklichkeit durchleben müssen, um ihr Ziel in einer ungewissen, nur dem Glauben zugänglichen anderen Wirklichkeit zu finden, nicht von Liebe, sondern von Zynismus geleitet sein muss: Ein Gott, der sich zu irgendeinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte diesen Menschen offenbart und ihnen mitteilt, dass sie nach nichts anderem streben sollen, als nach dem Tod mit ihm zusammenzukommen, um dort die wahre Liebe zu erleben.
Der Mystiker
Anders argumentiert der Mystiker. Er weist darauf hin, dass das Leben immer im Moment vollzogen wird. Die Zukunft ist immer nur als eine Projektion des Denkens verfügbar, wird also auch immer im Moment entworfen. So ist auch die Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tod eine Wunschfantasie, die aus dem Nicht-Akzeptieren des gegenwärtigen Moments entspringt. Die Zukunft wird als das Bessere und die Gegenwart als das Schlechtere dargestellt. Damit findet eine Entfremdung und Abspaltung vom momentanen Erleben statt.
Der katholische Mystiker Willigis Jäger schreibt: “Die Religionen bestärken uns in dieser falschen Auffassung vom Leben, bieten uns Hoffnungsbilder an. Das Eigentliche - sagen sie - kommt erst noch. Im Himmel, später, nach dem Tod, dann kommt die heile Welt: Eine bessere Wiedergeburt, bis das Nirwana erreicht wird; Auferstehung, Himmel und ewige Seligkeit; Ausgleich für all das Gute und das Böse. Religionen leben von diesen Hoffnungsbildern. Hoffnungsbilder sind wichtig, weil der Mensch sonst der Sinnlosigkeit anheim fällt. Sie sind aber auch das letzte Bollwerk, hinter dem das Ich sich verschanzt, um seinen Fortbestand zu retten.” (S. 59)
„Der Sinn des Lebens liegt nicht darin, möglichst lange zu leben, sondern Augenblick für Augenblick zu leben.“ (S. 64) „Unsterblichkeit ist nur im Augenblick zu finden, oder sie ist überhaupt nicht zu finden.“ (66) (Zitate aus: Willigis Jäger: Das Leben endet nie. Über das Ankommen im Jetzt. Theseus Verlag, Bielefeld 2013)
Der Mensch, der sich in den gegenwärtigen Moment versenkt und seine Fülle wahrnehmen kann, hat den Sinn schon gefunden. Er wird keine Energie auf das Imaginieren einer noch besseren Zukunft oder auf das Wachrufen vergangener Zeiten verschwenden. Da in diesem Moment das Ganze des Lebens gegenwärtig ist, braucht es keine Unsterblichkeit oder keine Wiedergeburt, kein Paradies und keine Hölle.
Das Gefühl der Sinnlosigkeit, dem die Hoffnungsbilder als Therapeutikum dienen können, stellt sich ein, wenn der Sinn in der Vergangenheit oder in der Zukunft gesucht wird. Da es von beiden keine lebendige Erfahrung, sondern nur eine Erinnerung oder eine Fantasie gibt, hat der Sinn, der daraus gewonnen wird, nur eine schwache Basis, die jederzeit zusammenbrechen kann.
Willigis Jäger wurde übrigens 2001 seitens der katholischen Glaubenskongregation ein Rede-, Schreib- und Auftrittsverbot erteilt. In der Folge wurde ihm die Ausübung jeder öffentlichen Tätigkeit untersagt. Die offizielle Kirche hat wieder einmal einen Trennungsstrich zwischen sich und der Mystik gezogen, obwohl der Theologe Karl Rahner schon vor fünfzig Jahren prophezeite, „dass der Christ der Zukunft ein Mystiker sei oder nicht mehr sei.“
Kirchliche Theologie, Materialismus, Atheismus, Mystik – unterschiedliche Zugangsweisen zu den „letzten Fragen“ des Menschseins – und unterschiedliche Auffassungen über den Menschen und seine Stellung im Ganzen des Kosmos.
Theologe wird man durch Studium, Materialist und Atheist durch Nachdenken, Mystiker kann man nur durch Innenerfahrung werden. Oft haben Mystiker studiert und können gut nachdenken. Sie verbinden all das aber mit einer konsequenten inneren Suche und Erforschung, oft in Zusammenhang mit Askese und Ritualen. Jesus war 40 Tage in der Wüste, Buddha saß viermal sieben Tage unter den Bäumen, Muhammad zog sich in die Höhle Hira zurück. Mystiker überzeugen nicht durch Argumente, sondern durch ihre Persönlichkeit, die sich durch die Innenerforschung gereinigt und gewandelt hat. Sie zeigen durch ihr Beispiel, dass inneres Wachstum möglich und lohnend ist.
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