Donnerstag, 4. Dezember 2014

Die Idee der Inkarnation und die allgemeine Vernunft

Viele ungeprüfte Annahmen erzeugen viele Ungereimtheiten um das Konzept der bewussten Inkarnation, also der Vorstellung, dass sich die Seele, bevor sie in der Empfängnis körperliche Form annimmt, für das Leben, das sie auf sich nimmt, bewusst entscheidet. Im vorigen Blogbeitrag zu dem Thema wurde versucht, die Spuren des Egos in diesem Konzept aufzuspüren und die praktischen Folgen zu erörtern, die mit der Verantwortungsübernahme aus einer angeblich bewussten Entscheidung verbunden sind.

Die ätherische Mega-Verantwortung


Das Modell der Bewusstseinsevolution kann nützlich sein, um die Ebenen der Modellbildung besser verstehen und zuordnen zu können. Die persönlicher Verantwortungsfähigkeit, die der Seele vor der Empfängnis zugesprochen wird, ist ein Leitthema der personalistischen Stufe der Bewusstseinsevolution. Dort ist die Idee maßgeblich, dass jeder Mensch die umfassende Verantwortung für sein Leben übernehmen soll. Allerdings gehört auch die Einsicht dazu, dass diese Verantwortung nur schrittweise altersgemäß aufgebaut und übernommen werden kann. Ein Kleinkind kann nicht im gleichen Maß für sein Leben Verantwortung übernehmen wie ein Erwachsener, und noch weniger gilt das für einen winzigen Embryo. Auf der personalistischen Ebene lernen wir also zu unterscheiden, welches Ausmaß an Verantwortung einem bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation zugemutet werden kann.

Die nächste, systemische Stufe des Bewusstseins relativiert dann schon die Bedeutung der Verantwortung und des freien Willens. Systemisch betrachtet, wird klar, dass es keine absolute Verantwortung für das eigene Leben geben kann. Denn es ist eingewoben in umfangreiche und weitreichende Zusammenhänge, Motive, Rücksichten, Einflüsse, Prägungen usw., die die Spielräume unserer Entscheidungen so eng halten, dass sich unsere Entscheidungsfreiheit in der Praxis ziemlich bescheiden ausnimmt.

Bei der Rückprojektion auf einen vorgeburtlichen Zustand wird dagegen im Modell der bewussten Inkarnation die höchstmögliche Form der Verantwortung angenommen, die auch notwendig ist, wenn eine Entscheidung von solcher Tragweite wie die über das eigene Lebensschicksal gefällt werden soll. Nie wieder im Leben stehen wir vor einer solchen Entscheidungssituation, nicht einmal dann, wenn wir überlegen, unserem Leben ein Ende zu setzen. Denn da ist ja vorher schon einiges passiert. Und wenn wir zu dieser Frage die Literatur zu Hilfe nehmen, sehen wir etwa bei Dostojewski, welch furchtbares inneres Ringen um die Entscheidung zum Selbstmord entsteht (z.B. im Roman „Die Dämonen“). Wir sind völlig überfordert, wenn wir uns vorstellen, über das, was wir sind, eine Entscheidung über Sein oder Nichtsein zu treffen. Deshalb ist es immer eine Form der Verzweiflung, der emotionalen Verwirrung, die dazu führt, Hand an sich zu legen. Ob also jemals ein „Freitod“ aus einer „wirklich“ freien Entscheidung gefällt wurde, ist äußerst fraglich.

Woher jedoch soll diese kristallene Klarheit in der Situation vor der Empfängnis kommen, mit der sich eine Seele in voller Freiheit entscheiden müsste, ihr zukünftiges Schicksal in der ganzen Last der Verantwortung, für die volle Länge und für alle Details, auf sich zu nehmen? Nie mehr sonst im Leben kommen wir in eine solche Lage, und deshalb entwickeln wir auch nie die Kompetenz, die wir für eine derartige weitreichende und umfassende Entscheidung benötigen würden.

Wie kommen wir überhaupt auf die Idee einer solchen Entscheidungsklarheit und Entscheidungsmacht? Es ist unser assoziatives Denken, das die Möglichkeit einer derartigen Entscheidungsfähigkeit entwerfen kann, ohne dass es dafür jemals die praktischen Grundlagen geben muss. Mit unserer Fantasie verfügen wir über die Macht, uns Dinge auszudenken, die nie in Wirklichkeit passiert, praktisch ausgeschlossen sind und auch wahrscheinlich nie eintreten werden. Unter der Leitidee der Perfektion verpassen wir uns selber in dieser fantasierten Rückprojektion eine gottähnliche Macht: Was wir teilweise und fehlerbehaftet in unserem realen Leben beherrschen, können wir uns als Ideal in vollkommener Form vorstellen und ausdenken, auch wenn wir es in der Realität nie verwirklichen können. Wir können uns auf diese Weise auch die Allmacht Gottes und weitere andere Attribute des höchsten Wesens vorstellen und ausdenken, ohne dass wir für uns selber je eine Verwirklichung dieser Macht erlebt hätten. Wenn wir uns eine solchen Macht im realen Leben selber anmaßen, werden wir schnell (und zu Recht) als größenwahnsinnig eingeschätzt. Wenn wir sie auf die Anfänge unseres Lebens rückprojizieren, können wir jedoch in esoterischen Kreisen mit „spiritueller Weisheit“ punkten.

Angesichts der Frage einer vor der Empfängnis wirksamen Entscheidungskompetenz und -intelligenz legt sich ein ätherischer Schleier über die Klarheit des Denkens. Dafür brechen sich die unterschwelligen Antriebe ihre Bahn, die uns größer machen wollen, als wir sind, weil wir uns so klein und ohnmächtig fühlen. Sie prägen zu diesem Zweck die Vorstellung der makellosen und übermächtigen Seele, wie sie vor dem Anfang einer Lebensbahn steht und heroisch die umfassendste Entscheidung trifft, die jemals getroffen wird. Damit brauchen wir uns nie mehr mit unserer inneren Kleinheit und all den Gefühlen der Ohnmacht auseinandersetzen, die wir aus vielen Erfahrungen unseres Lebens angesammelt haben.


Die Realität vor der Fantasie


Was ist die Realität vor der Fantasie? Millionen Samenzellen streben zu einer Eizelle, und im günstigen Fall kommt es zur Vereinigung und zur Entstehung neuen Lebens. Es entsteht ein Embryo, winzig klein (0,1 mm), kaum differenziert, wenig Ressourcen, der Umgebung ausgeliefert auf Gedeih und Verderb, mit einer minimalen Überlebenskompetenz.

Da braucht es niemanden, der entscheidet, da hat keine Verantwortung Platz, sondern es ist die Übermacht des biologischen Prozesses, die hier das Sagen hat. Solche Vorgänge finden in der Natur permanent statt. Braucht es eine Seele, die sich bewusst entscheidet, in eines von fünf Katzenbabys zu schlüpfen? Braucht es eine Seele, die in eine der Tausenden Moskitolarven schlüpft, die sich in eine Lacke tummeln?

Bei vielen befruchteten Eizellen bestimmt die Natur einen frühen Tod, bei anderen, dass sie wachsen und reifen können. Um diese Zusammenhänge verstehen zu können, braucht es keine vorab getroffenen Entscheidungen, keine Übernahme von Verantwortung, keine Schuld und keine Rechtfertigung. Verantwortung setzt voraus, dass es Ressourcen der Selbststeuerung gibt und dass Alternativen zur Verfügung stehen. Bei der minimalen Handlungskompetenz, über die jedes ungeborene Leben verfügt, ist kaum ein Verantwortungsspielraum vorhanden.


Geist über Natur


Vielleicht ist es gerade dieses enorme Ausgeliefertsein, das unsere Anfänge kennzeichnet und das in der Funktionsweise der Natur begründet ist, das uns dazu motiviert, eine seelische Macht in diese Situation hineinzuprojizieren, die all das inszeniert hat? Vielleicht ist es unser Narzissmus, der nicht zugeben will, dass unser Leben immer schon einer größeren Macht ausgeliefert war? Bezeichnenderweise ist die Idee der bewussten Inkarnation im 19. Jahrhundert entstanden, in der Zeit, in der viele Menschen vom Überschwang der grenzenlosen Beherrschung und Kontrolle der Natur durch Wissenschaft und Technik begeistert waren. Wenn wir als Menschheit der Natur unseren Willen aufzwingen können, kann es doch nicht sein, dass unser eigener Beginn dem Gutdünken der Natur unterworfen ist. Auch hier muss der menschliche Geist der Natur übergeordnet werden.
 

Ist das nicht ziemlich unfair?


Weiters könnte man noch fragen, wie dann der Körper, dieses reine Naturprodukt, dazukommt, die Last dieser Entscheidung zu übernehmen, die ihm die Seele aufbürdet? Schließlich leidet er genauso unter den Schwierigkeiten des Lebens, zu dem sich die Seele entschieden hat. Ein unfaires Bündnis, das er da mit dieser Seele im Moment seiner Entstehung eingeht, eingehen muss, gewissermaßen im schwächsten Moment über den Tisch gezogen, oder  schon mit einer Hypothek belastet, sobald es los geht, ohne selber die Chance zu haben, ja oder nein zu sagen. Anschließend, für den Rest des Lebens, kann er gemeinsam mit der Seele die Suppe auslöffeln, die sie ihm eingebrockt hat.

Aber wer fragt einen Körper, wenn doch der Geist der Materie überlegen ist? Vielleicht ist der Geist nur deshalb überlegen, weil er überlegen sein will, weil er nicht akzeptieren kann, dass er nur ein Partner des Körpers ist?

Schließlich fragt sich der gemeine Menschenverstand, was in einer Seele vor sich geht, wenn sie sich bewusst entscheidet für ein Leben, das sie schon vor sich sieht: Mühsal, Armut, Probleme ohne Ende? Wer würde sich da frohen Mutes und voll Begeisterung auf ein solches Abenteuer einlassen? Würden sich nicht alle diese Seelen, die da zu einem bestimmten Zeitpunkt inkarnieren wollen, erst einmal um die knappen Startplätze für die Wohlstandsoasen der Welt streiten, sodass nur die, die ihre Ellbogen schlechter einsetzen können, dann die Masse der Elendsinkarnationen übernehmen müssen? Wie anders als ein wildes Gerangel können wir uns den Selektionsprozess vorstellen: Wer kriegt die Generaldirektorsfamilie, wer die alleinerziehende Supermarktverkäuferin, und wer den Slumbewohner in Bangla Desh?

Krass gesagt: Wie blöd muss so eine Seele sein, wenn sie, wohlgemerkt im vollen Wissen, was ihr blühen wird, ein mieses Leben mit minimalen Möglichkeiten und Chancen wählt, vorauswissend, was da alles schiefgehen wird und was alles fehlen wird, von dem die Nachbarseele, die clever in die Kreise der lucky few inkarniert, im Überfluss haben wird? Schwach dagegen ist das Argument, dass ja jedes Leben seine Herausforderungen hat und sich auch die Prinzessin schwertun kann, ihr Lebensglück zu finden, wenn unter der Matratze eine Erbse versteckt ist.

Dazu fällt mir Otto Waalkes ein: „Neulich besuchte ich einen Freund, einen Millionär. Der glaubte, der unglücklichste Mensch zu sein, weil ihm sein Rasierpinsel ins Klo gefallen war. Da nahm ich ihn beiseite und sprach: ‚Freilich bist du übel dran, dass dir dein Rasierpinsel ins Klo gefallen ist. Aber es gibt Leute, die sind viel schlechter dran als du. Die haben noch nicht einmal einen Bart!‘ Da fiel es ihm wie Schuppen aus den Haaren.“ („Das Wort zum Montag“)

Da hat offenbar eine Seele vor ihrer Inkarnation übersehen, dass auch ein Millionärsleben seine täglichen Dramen zu bewältigen hat, und sie könnte deshalb für das nächste Leben vielleicht für bengalischen Straßenkehrer optieren.


Holistisches Verständnis


Die Theorie, dass alles, so wie es geschieht, in sich einen Sinn trägt, und dass es gut ist, wenn wir es so akzeptieren, wie es kommt, können wir erst auf der holistischen Bewusstseinsstufe verstehen und verwenden. Wird dieses Konzept auf einer vorherigen Stufe der Evolution angewendet, stiftet es Verwirrung und verschiebt die Gewichte der Verantwortung. Das wäre so ähnlich, wie wenn eine Mutter zu ihrem Kind, das sich verletzt hat und weint, sagt, dass das genauso hat kommen müssen, wie es kommt, und dass es, statt zu jammern und zu klagen, akzeptieren soll, was ist. Ein Kind muss erst in seinen Gefühlen verstanden, unterstützt und getröstet werden, dann kann es irgendwann einmal selber zu der Einsicht kommen, dass alles, was passiert, seinen Sinn und seine Berechtigung hat.

Mit dieser Einstellung kommen wir in Frieden mit uns und unserer Umgebung. Zu dieser Einstellung kommen wir, indem wir uns durch die Themen durcharbeiten, die wir nicht so akzeptieren können, wie sie sind. Es hilft dabei nicht, die Beschwernisse und Belastungen unseres Lebens durch vorexistenzielle Konstruktionen zu beschönigen und uns zusätzlich noch die Verantwortung für unsere Existenz von Anfang an aufbürden.

Das holistische Bewusstsein lehrt uns, dass die Wahrheit einfach ist. Es zeigt uns, wie befreiend es ist, Konzepte und Modelle loszulassen, die uns, auch wenn wir ihnen vertraut haben und uns an sie gewöhnt haben, eigentlich Ballast und Hindernis auf unserer Innenreise sind. Da kann es helfen, diese Modelle von verschiedenen Seiten zu betrachten und auf unterschiedliche Erfahrungsebenen zu beziehen. Dann erkennen wir ihre Willkürlichkeit und Relativität und können leichter auf sie verzichten, was uns im Sinn dieser Bewusstseinsstufe hilft, mehr im Fließen des Moments zu sein.


Vgl. Das Modell der Inkarnation und die praktischen Konsequenzen

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen