Freitag, 4. Juli 2025

Die Grenzen zwischen realitätsbezogenen und fantasieerzeugten Informationen verschwimmen immer mehr. Die politischen Machtkämpfe sind zu Informationsmachtkämpfen geworden, und wer die Deutungshoheit in wichtigen gesellschaftspolitischen Themen gewonnen hat, bzw. wer es geschafft hat festzulegen, was die wichtigsten Themen sind, hat den politischen Erfolg in der Tasche. Vielen Politikern ist jedes Mittel recht, um diesen Erfolg zu erlangen, eingeschlossen die Bereitschaft, die Wahrheit zu verraten. 

Nun gibt es viele alte Sprüche, die Politiker mit Lügnern gleichsetzen, z.B. das jüdische Sprichwort „Eine Lüge ist eine Lüge, zwei sind Lügen, aber drei sind Politik.“ Politik gilt schon lange als schmutziges Geschäft, als ein garstiges Lied. 

Dieses verallgemeinerte und stereotype Misstrauen gegen die Politik und die Politiker hat im Informationszeitalter eine neue Dimension erhalten. Es geht nicht mehr um den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge, sondern um das zunehmende Verschwinden dieses Unterschieds. Der klassische Lügner weiß, was die Wahrheit ist und dass er sie für seine Zwecke verbiegt. Er anerkennt also die Wahrheit und versteht sein Verhalten als Verstoß dagegen.

Dagegen gibt es für den Lügner aus dem Informationszeitalter nur eine Wahrheit, die sich mit seiner Weltsicht deckt. Er unterscheidet nicht zwischen Subjektivität und Objektivität, sondern erklärt seine subjektiven Ansichten zu objektiven Wahrheiten. Lügner sind dann die anderen, die die eigenen Meinungen nicht teilen, denn sie leugnen das einzige Weltszenario, das es geben kann, nämlich das eigene. Wenn er seine Sichtweise verkündet, kann er gar nicht lügen, weil er meint, nur die Wahrheit zu vertreten.

Der Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit konnte früher immer wieder aufgerichtet werden, wenn sie von Politikern niedergebrochen worden war. Nach der Propagandalawine im Nationalsozialismus haben Politiker mit einigem Erfolg versucht, Vertrauen aufzubauen. Die 68er-Bewegung hat die Lügen der NS-Zeit und die nachfolgenden Versuche der Vertuschung zum Thema gemacht und die Wahrheit und die Gerechtigkeit, also die Bestrafung aller Täter eingemahnt. 

Die scheinbare Glaubwürdigkeit in sozialen Medien 

Die Neigung der Politik zur Manipulation stellt eine beständige Versuchung dar, die aus dem Festhalten der Politiker an der Macht kommt. Kritische Medien und wache Zivilgesellschaften können und müssen diese Tendenzen bekämpfen. Doch wird diese Aufgabe immer schwieriger, weil der Zerfallsprozess zwischen Wahrheit und Unwahrheit  als Resultat der zunehmenden Vereinnahmung der Wahrheitsfindung durch Informationsquellen aus dem Internet immer undurchschaubarer und unkontrollierbarer wird. 

Inzwischen sind die sogenannten sozialen Medien an die Spitze der Glaubwürdigkeit gerückt. Denn sie suggerieren uns, dass wir von unseren Mitmenschen, von unseren Facebook- und Instagram-„Freunden“ direkt informiert werden, so als säßen sie vor uns und wir können genau abschätzen, ob sie die Wahrheit sagen oder lügen. Wenn Leute früher gesagt haben, etwas wäre wahr, weil es im Fernsehen gesagt wurde, so genügt heute eine Nachricht auf Telegramm, und schon gibt es Tausende, die sich die Information als unhinterfragte Wahrheit einverleiben und weiterverbreiten. Faktenchecks sind mühsam und werden oft einfach deshalb nicht gemacht, weil Nachrichten einlangen, die das eigene Weltbild bestätigen und von vertrauenswürdigen Personen kommen, sodass das Gehirn sofort die völlige Zustimmung signalisiert. 

Gemeinwohlschädigende Interessen

Hinter diesen Vorgängen, mit denen sich die Meinungen einer großen Zahl von Menschen fortlaufend selbst bestätigen, stehen politische Interessen (die wirtschaftlichen Interessen, die untrennbar mit den politischen verknüpft sind, lasse ich in diesem Artikel beiseite.) Politische Interessen, die gemeinwohlschädigend sind, müssen versuchen, sich ein soziales Mäntelchen umzuhängen, um sympathisch zu erscheinen und von den Wählern unterstützt zu werden. Mittels der modernen Formen der Wahrheitsverzerrung gelingt die Verschleierung, indem der Unterschied zwischen Wahrheit und subjektiver Erfindung eingeebnet wird. Das Ziel ist die Beseitigung der Wirklichkeit als Bezugspunkt der Wahrheit, sodass die Propaganda ungehindert ins Bewusstsein der Menschen einfließen kann. Dann ist das Kunststück vollbracht, das Wahlvolk dazu zu motivieren, einer Politik zuzustimmen, die ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen zuwiderläuft.

Desinformation, Missinformation und Malinformation

Der britische Investigativjournalist Eliot Higgins, Gründer des Recherchenetzwerks Bellingcat, unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Desinformation, Missinformation und Malinformation. 

Bei der Desinformation handelt es sich um falsche Informationen, die mit der Absicht geteilt wurden, zu betrügen oder zu schaden. Der menschlichen Bosheit sind keine Grenzen gesetzt, deshalb gibt es so viel Desinformation, aber das Informationszeitalter mit seinen schier unbegrenzten Möglichkeiten hat zum inflationären Gebrauch von solchen Widrigkeiten geführt. Die Flutung der Kommunikationsräume mit Unwahrheiten hat den Hauptzweck, Wahrheit und Lüge ununterscheidbar zu machen.

Missinformation wiederum ist Falschinformation, die von Menschen geteilt wurde, weil sie glaubten, dass etwas wahr ist, ohne es selbst zu überprüfen. Das passiert immer öfter, weil so viele Informationen herumschwirren, dass viele selbst beim besten Willen mit dem Nachforschen nicht zurande kommen. Leuten, denen man vertraut, nimmt man ab, was sie von sich geben und verbreitet es weiter, ohne zu merken, dass sie sich des Luges und Truges mitschuldig machen.

Das Verständnis darüber, dass es eine moralische Pflicht darstellt, die Mitmenschen mit fakten- und wahrheitsgetreuer Information zu versorgen, anstatt ungeprüfte faktenferne und ideologiebeladene Nachrichten einfach weiterzuleiten, ist nur mangelhaft ausgebildet. Es ist eine Untugend, denn für schädliche Folgen von Fehlinformationen, die ohne Faktenabklärung weitergegeben wurden, ist auch die Person verantwortlich, die die Nachricht weitervermittelt. Es gibt allerdings keine Instanz, die diese Verantwortung einfordert, und diejenigen, die Falschnachrichten weiterverbreiten, befinden sich in einer Blase, in der sie die Bestätigung und Berechtigung fürs Täuschen und Manipulieren bekommen.

Bei der Malinformation geht es um wahre Information, die aber mit der Absicht, Schaden zu verursachen, veröffentlicht wird – wenn etwa selektiv bestimmte Dateien geleakt werden, aber nicht in ihrer Gänze und in ihrem Zusammenhang wiedergegeben werden. Es handelt sich um Halbwahrheiten oder herausgepickte Details, die hochgespielt werden. Malinformation sind Informationen, die faktisch korrekt sind, aber aus dem Zusammenhang gerissen, selektiv veröffentlicht oder so präsentiert werden, die verleumderisch oder manipulativ wirkt. Es werden z.B.  nur bestimmte Passagen aus einer Rede gezeigt, während der vollständige Zusammenhang weggelassen wird, was beim Publikum einen verzerrten Eindruck hinterlässt.

Zunehmend werden gefälschte Videos in Umlauf gebracht, um politische Gegner zu desavouieren. Eine weitere beliebte Form der Malinformation stellt das willkürliche Interpretieren von Statistiken oder wissenschaftlichen Forschungsresultaten dar. 

Hier ein aktuelles Beispiel: Im letzten halben Jahr haben die rechten Parteien im EU-Parlament die NGOs als Angriffsobjekt erkoren. Der europäische Rechnungshof hatte bemängelt, dass die Vergabe von Förderungen an NGOs intransparent wäre, ohne jedoch Gesetzesverstöße zu finden. Aus dieser Information haben die genannten Parteien den Vorwurf formuliert, dass die NGOs die Klimapolitik der EU beeinflussen würden und dafür Förderungen bekämen, ohne Beweise vorzulegen. Der festgestellte Mangel: Fehlende Transparenz bei der Förderungsvergabe wird benutzt, um die NGOs zu diskreditieren und die EU als undurchsichtige und korrupte Großorganisation darzustellen.

Kontrolle der Informationsgesellschaft als Aufgabe von allen

Wir stehen somit vor der Aufgabe, kompetente und integre Internetkontrolleure zu  werden, um die verschiedenen Formen des Informationsmissbrauches zu erkennen, aufzudecken und mit ethischen Umgangsformen in der Nachrichtenübermittlung der Verrohung der Sitten entgegenzuwirken. Diese Aufgabe ist unerlässlich, weil eine klare Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit eine zentrale Grundlage des menschlichen Zusammenlebens darstellt.

Wo sich Untugenden ausbreiten, braucht es Menschen, die die Tugend einfordern und sie gleichzeitig selbst leben. Es  geht darum, ein Schambewusstsein zu wecken und zu kultivieren. Es muss verhindert werden, dass das Ausnutzen der Schwächen der Informationskonsumenten für die eigenen Zwecke zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit wird. Das Zerstören des Zusammenhalts in der Gesellschaft durch das Verbreiten von Unwahrheit kann und darf nicht hingenommen werden.

Zum Weiterlesen:
Zwischen Wissenschaft und Lügenproduktion
Der Angriff auf den Wahrheitsbegriff von rechts
Wenn Fiktion zum Faktum wird

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