Samstag, 23. September 2023

Der Nationalismus und die Scham

„Beim Nationalismus handelt es sich um die schlechte Ausdünstung von Leuten, die nichts anderes als ihre Herden-Eigenschaften haben, um darauf stolz zu sein.“  (Friedrich Nietzsche)

Der Nationalismus ist ein Kind des Stolzes. Stolz hat die Aufgabe, schambetroffene Teile der Selbstbeziehung auszugleichen und zu kompensieren. Nationale Gefühle haben wir, wenn wir uns anderen Nationen überlegen fühlen, z.B. bei einem sportlichen Ereignis, bei dem Angehörige der eigenen Nation besser waren als die anderer.  Im umgekehrten Fall schämen wir uns für unsere eigene Nation.

Der Begriff der Nation ist eine historische Spätgeburt und fällt ins 18. Jahrhundert. In der französischen Revolution wurde bekanntlich das Königtum gestürzt und die Republik eingeführt. Der König hatte lange Zeit als die Identifikationsfigur für alle Mitglieder eines Staates gegolten. Nun gab es ihn nicht mehr, und es brauchte einen anderen Anker für das Gemeinschaftsgefühl, für den die Nation herhalten musste. Fortan war es die Zugehörigkeit zu einer Nation, die den Einzelnen definieren sollte. Bis heute gibt es keine klare Begriffsbestimmung zur Nation. Manchmal ist von der Gemeinsamkeit der Sprache die Rede, doch da gibt es gleich die Schwierigkeit mit Staaten, die mehrere Sprachgruppen aufweisen. Oder es wird die Kultur als Kitt der Nation festgelegt, ein Begriff, der noch schwammiger ist, weil es in vielen Staaten unterschiedliche Volkskulturen gibt und alles, was über die lokalen Kulturen hinausgeht, wiederum nur schwerlich einer Nationalkultur zugerechnet werden kann. Oder man beruft sich auf eine gemeinsame Geschichte, die nur dort beginnen darf, wo sie sich mit der Vorstellung der Nation deckt und alles ausblenden muss, was mit der Einmischung von anderen Nationen zu tun hat oder auf Wurzeln verweisen, die gar nichts mit der aktuellen Nationalität zu tun haben. Daraus wird klar, dass wir es bei einer „Nation“ nicht mit einem objektiv existierenden Tatbestand zu tun haben, sondern mit einem Konstrukt, das viele Menschen teilen, ohne genau zu wissen, was es beinhaltet. Es ist also ein Konstrukt mit einem hohen Anteil an Fantasie und Fiktionalität, das seine Wirklichkeit dadurch erhält, dass es immer wieder und wieder erzählt wird, so lange, bis alle daran glauben. 

Der Erfolg des Nationsbegriffs hat damit zu tun, dass er eine einheitsstiftende Funktion im Prozess der Modernisierung ausübte. In diesen vom Kapitalismus geprägten Entwicklungen kam es zu vielfältigen Umgestaltungen und Zerfallsvorgängen von sozialen Einheiten, die eine hohe soziale Unsicherheit hervorriefen. Für diese Leerstelle kam der Begriff der Nation wie gerufen. Wenn die Menschen schon der Anonymität und Unbarmherzigkeit der Wirtschaftsprozesse ausgeliefert waren, wurde ihnen zumindest als Mitglieder einer Nation eine bestimmte Sicherheit gewährt. In Kriegen versuchten sich die Staaten voneinander als Nationen abzugrenzen und die Bevölkerungen hinter sich zu scharen. Selbst der russische Angriff auf die Ukraine hat zu einem starken Schub der nationalen Geschlossenheit geführt, der selbst die russisch-sprachigen und vor dem Krieg russlandfreundlichen Bevölkerungsgruppen und Gegenden erreicht hat und einer der vielen Effekte dieses Krieges ist, der von den Angreifern nicht vorausbedacht wurde.

Es war und ist bis heute ein riskantes Unterfangen, den Nationsbegriff durch Kriege zu untermauern. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts z.B. wurden genau mit dieser Absicht begonnen und endeten in beiden Fällen mit Katastrophen, auch für den Nationsbegriff. Im Ersten Weltkrieg zerfiel das österreichisch-ungarische Konstrukt, im Zweiten wurde der Nationsbegriff in Deutschland nachhaltig ramponiert. Eine wichtige Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg war die Begründung der europäischen Zusammenarbeit, die zur EU geführt hat, einem übernationalen Zusammenschluss. Denn verantwortungsbewusste und weiterblickende Politiker hatten erkannt, dass das ewige, vom Nationengedanken angestachelte Kriegführen ein Ende haben müsse und dass die Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Kriege in Hinkunft erschweren wurde, womit sie Recht behielten. 

Nationalismus und Stolz

Die Angehörigen einer Nation sollen stolz sein, dass sie dazugehören. Sie sollen auch stolz sein, dass sie nicht zu den anderen gehören. Es ist ein Stolz, der auf der Verherrlichung des Eigenen und  der Abwertung und Verachtung des Anderen beruht. Nationalismus besteht nie nur in der Bekräftigung der eigenen Nation, sondern immer auch in der Abwertung anderer Nationalitäten. Es ist also ein Stolz, der sich nicht nur aus den eigenen Errungenschaften nährt, sondern zu seiner Vollständigkeit noch die Überlegenheit über andere benötigt. Die eigenen Leistungen sind so viel wert wie sie die der anderen übertreffen. Es läuft wie bei einer Konkurrenzsportart wie z.B. dem Schirennlauf. Es geht nicht darum, die Abfahrt in einer tollen Zeit hinzulegen, sondern schneller zu sein als alle anderen. Es genügt, dass die anderen schlechter sind, dann hat man schon gewonnen und kann stolz sein.

Der Nationalismus lebt von der Konkurrenz. Seine Vertreter behaupten gerne von ihm, dass es um den Erhalt der nationalen Eigentümer und Eigenheiten ginge, gewissermaßen, was die Österreicher anbetrifft, um das Schnitzel (das Wiener Schnitzel kommt bekanntlich aus Mailand) und das Schmähführen (der Wiener Humor bezieht seine wichtigsten Quellen aus dem Jüdischen und dem Böhmischen). Die Eigentümlichkeiten müssen überzeichnet werden, damit sie bei der emotionalen Nationenbildung helfen können, die der eigenen und die der fremden Gruppe. Mit dieser Kontrastierung werden die Unterschiede verstärkt und es entstehen Grenzen, wo vorher Übergangsfelder bestanden: Die dialektischen Färbungen einer Sprache verändern sich graduell von Landstrich zu Landstrich. Wird nun eine Grenze inmitten eines Sprachfeldes eingeführt, dann driften längerfristig die Dialekte auseinander. Zum Beispiel war das Innviertel bis 1779 bei Bayern und es wurde dort der bayrische Dialekt gesprochen. Dann kam das Gebiet zu Österreich und nahm nach und nach das Oberösterreichische an, mit einem bayrischen Einschlag. 

Aus Übergangsfeldern werden unter dem Einfluss des Nationalismus Spannungsfelder. Die Grenzen, die die Gebiete trennten, wurden mit der Zeit immer stärker kontrolliert und aufgerüstet. Die Hiesigen unterschieden sich damit zunehmend von den Diesigen. Solche Grenzen sind immer Stolz- und Schamgrenzen: Der Stolz soll im Hüben sein, die Scham im Drüben.

Jeder Stolz, der auf Überheblichkeit ruht, ist nicht mehr als eine kompensierte Scham. Der Drang nach der Überlegenheit kommt aus der Minderwertigkeit, die schambesetzt ist: Ich muss besser sein als die anderen, um von ihnen nicht unterdrückt zu werden. Ich muss sie abwerten, damit ich mich sicher fühle und mir besser vorkomme. Mein Sicherheits- und Wohlgefühl ist davon abhängig,  dass andere schlechter dastehen und weniger wert sind.

Aus diesem psychologischen Mechanismus können wir verstehen, dass der Nationalismus als Ausgleich für Schamgefühle entstanden ist. Er bezieht seine suggestive Macht aus dem Kompensieren von kollektiven Minderwertigkeitsgefühlen. Er schafft es immer wieder, die Menschen hinter sich zu scharen, weil er ihnen die Entlastung von der Scham der Minderwertigkeit verheißt. 

Die paradoxe Geschichte des Nationalismus, in ihrer Gänze erzählt, lautet also: Zunächst werden die Nationen eingeführt, um den Menschen eine Erleichterung der Scham und des Schmerzes der Vereinzelung als Folge der ökonomischen Modernisierung zu verschaffen. Einmal etabliert, wirkt der Nationalismus wie eine Ersatzdroge und führt eine neue Schambelastung ein. Sie ist mit dem Ringen verbunden, die nationale Schwäche auf Kosten anderer Nationen zu überwinden. Es ist das kapitalistische Konkurrenzmodell, das für das Verhältnis der Nationen Anwendungen gefunden hat und das dann für alle Kriege verantwortlich ist, die im Zeichen dieser Ideologie begonnen werden. Eine weitere Spielwiese für den Nationalismus bot der Kolonialismus, der in dem Streben besteht, Länder, die sich noch zu wenig als Nationen etablieren konnten, der eigenen nationalen Sphäre einzuverleiben, um diese zu bereichern.

Nationalismus im Zeitfenster

Der Nationalismus hat seinen Referenzpunkt in einem relativ schmalen Zeitfenster zwischen einer Vergangenheit, der der Begriff der Nation fremd war, weil er nicht benötigt wurde, und einer Zukunft, die ihn als Relikt aus einer barbarischen Zeit abtun wird. Wir stammen aus vielfältigen Ahnenlinien ab, die sich nicht an irgendwelche politisch definierte Grenzen halten, und wir gehen in eine globalisierte Zukunft, in der die Menschen über die Kontinente, Religions- und Rassengrenzen hinweg mobil sind und ihre Zugehörigkeiten und ihre Identität laufend neu definieren müssen.

Dieses Zeitfenster hat die Ideologie des Nationalismus weidlich genutzt – einerseits zum Schutz von Traditionen, Sprachgruppen und Kulturräumen, andererseits zur Aggression gegen andere Nationen. Vom 19. über das 20. Jahrhundert bis in unsere Tage können wir die Auswüchse und Verwirrungen des Nationalismus beobachten. Während sich die Wirtschaft längst über alle Grenzen hinwegsetzt, greift erst langsam das Bewusstsein, dass wir in erster Linie Weltbürger sind und irgendwann nachgeordnet Angehörige einer bestimmten Nation oder Volksgruppe.

Erkenntnis macht frei

Die Erkenntnis der historischen Relativität und Ideologiegebundenheit des Nationalismus entkoppelt uns von seiner suggestiven Macht, und diese Entkoppelung macht uns frei, auch von den Ängsten und Schambelastungen, die die Konzepte der Nationalität enthalten. Vorgeprägte und ungeprüfte Identitäten, an denen wir festhalten, schränken uns ein, weil wir deren Gefühlskonglomorat in uns tragen. Der Vorgang der Entidentifizierung erlaubt uns, eine Beziehung zu den Prägungen aufzubauen, die wir vorher als selbstverständlichen Teil von uns angesehen haben und gar nicht von uns  selbst unterscheiden konnten. Die Distanz erlaubt uns, die Beziehung zu gestalten. Wir sind nicht mehr von ihr beherrscht, sondern können ihre Bedeutung für uns selbst festlegen. Wir können also für uns festlegen, was wir unter der Zugehörigkeit zu einer Nation verstehen und wir tun uns dann leichter, das Gemeinsame im Fremden zu erkennen und über das Trennende zu stellen. Wo wir Gemeinsamkeiten erkennen, finden wir den Weg vom Misstrauen zum Vertrauen, von der Angst zur Entspannung, vom Hass zur Liebe.

Hereinnahme statt Ausgrenzung

Demokratische Reife besteht dagegen darin, die Andersheit der anderen anerkennen und gelten lassen zu können. Die Diversität der Ansichten, Meinungen, Lebensorientierungen, kulturellen Prägungen usw. hat in einer Demokratie einen Platz und eine wichtige Bedeutung, die dazu führt, dass schwache Positionen gefördert werden. Pluralität und gegenseitige Akzeptanz sind der Nährboden für die Kreativität und Resilienz von Gesellschaften; Ausgrenzungen und Aggressionen gegen Minderheiten oder Schwächere destabilisieren den gesellschaftlichen Zusammenhalt und steigern die allgemeine Unsicherheit und Angst. 

Zur Demokratie gehört die Inklusion, zum Nationalismus die Exklusion, das Ausschließen alles dessen, was bestimmten vordefinierten Kriterien nicht entspricht. Jede Ausschließung enthält eine Beschämung der Betroffenen. Der Nationalismus ist rückwärtsgewandt, weil die Identifikation mit einer Nation kein Lösungspotenzial für irgendeine der aktuellen Krisen liefern kann. Die Zukunft der Menschheit liegt in der Zusammenarbeit über die Grenzen von Nationalstaaten hinaus. Sie kann nur dann in eine gute Richtung führen, wenn diese Kooperation auf demokratischen Grundsätzen beruht, also inklusiv und nicht exklusiv ist. Es sollte uns langsam deutlich werden, dass wir die Zukunft mit ihren Herausforderungen nur meistern, wenn wir alle mit anpacken und uns gemeinsam anstrengen, über alle urtümlichen Grenzen hinweg und jenseits aller Hoffnungen auf irgendwelche starken Männer als Erlöser. Jede der Krisen, unter denen wir leiden, ist eine Menschheitskrise; lösen kann sie nur die Menschheit in Gemeinsamkeit, auf das Basis einer fundamentalen Gleichheit.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir alle Möglichkeiten des Zusammenwirkens stärken und all den Bestrebungen, die die Lösungen in veralteten Modellen und rückwärtsgewandten Ideologien suchen, entgegenzutreten und sie an der Machtübernahme zu hindern. Die Demokratie muss streitbar sein, wenn sie weiterbestehen will, und dazu gehört, dass sie ihre Gegner benennt und in die Schranken weist. Die Demokratie ist niemand anderer als wir selber, die Summe unserer politischen Einstellungen und Handlungen, soweit wir uns zu ihr bekennen und ihre Wichtigkeit für eine breite Basis der Menschlichkeit erkannt haben. Im Prinzip der Inklusion ist die Garantie enthalten, Menschen vor jeder strukturbedingten Beschämung zu bewahren.

Zum Weiterlesen:
Sportlicher Nationalismus und Globalisierung
Das kleine Fenster des Nationalismus
Nationalismus und Opferstolz


Donnerstag, 10. August 2023

Über die Heilkraft der universellen Liebe

Die Liebe ist ein zentrales Wort im menschlichen Sprachschatz, weil es etwas ganz Wesentliches bezeichnet. Wir sind eine zutiefst sozial ausgerichtete Spezies, für die das Zusammensein und der Austausch mit unseren Artgenossen (neben der Sicherung des individuellen Wohlseins) überlebensnotwendig ist. Wenn die Liebe zwischen den Menschen herrscht, ist das soziale Leben gesichert, fehlt sie, steht es in Gefahr. Ist der Zusammenhalt mit den Mitmenschen bedroht, so ist auch das individuelle Überleben bedroht. Das Ausmaß an sozialer Sicherheit kann daran abgelesen werden, wie viel Liebe herrscht.

Gemeinhin wenden wir das Wort Liebe auf Beziehungen an, vorrangig auf solche, die mit Romantik und Sexualität zu tun haben. Darüber hinaus gibt es die Mutter- und Vaterliebe, also die Liebe zwischen Eltern und Kindern, die zwischen Geschwistern usw., die Liebe in den familialen Zusammenhängen. Dünner wird die Liebe, die über den engen Familienkreis hinausgeht und sich z.B. auf Freunde, Bekannte und  Nachbarn erstreckt. Erst recht abstrakt wird die Liebe, wenn sie auf Großgebilde bezogen ist wie z.B. die Vaterlandsliebe. Schließlich vertreten einige Religionen einen noch weiteren Begriff, indem sie von der Feindes- und Nächstenliebe oder vom liebevollen Mitgefühl mit allen Lebewesen sprechen.

All diese Felder der Liebe sind durch Zerbrechlichkeit und Störungsanfälligkeit gekennzeichnet. Die Liebe kommt, die Liebe geht, so heißt es im Schlager. Kleine Verschiebungen in den Stimmungen, missverständliche Worte, missglückte Gespräche – und schon ist die Liebe weg, und die Betroffenen ziehen sich zurück auf ihre individuelle Überlebenssicherung, um zu retten, was noch zu retten ist. Schnell verdrängt die Angst die Liebe, und nur langsam baut sich die Liebe wieder auf, sobald die Angst bereit ist, sich zurückzuziehen. Es ist eine zerbrechliche Liebe, die sofort in andere Gefühle umschlägt, wenn etwas geschieht, das in ihrem Rahmen nicht Platz findet.

Diese Liebe ist eng mit Erwartungen verknüpft und mit Bildern und Fantasien aufgeladen. Sie hat gewissermaßen verzerrende Brillen auf, die manches überscharf zeichnen und anderes ausblenden. Diese Filter in der Liebeswahrnehmung bewirken, dass wir die Liebe oft nur in einer bestimmten Gestalt erkennen und sie vermissen, wenn sie auf eine Weise daherkommt, die unseren Erwartungsmustern nicht entspricht. Wir fühlen uns nur geliebt, wenn uns die Liebe so entgegengebracht wird, wie wir es aufgrund von früheren Erfahrungen, medial genormten Symbolen und romantischen Schwärmereien erwarten. 

Die Liebe im Dunstkreis des Egos

Das Hauptkriterium für ein gelungenes Leben wird durch ein zureichendes Maß an Geliebtwerden festgelegt, also an der Menge an Liebe, die wir bekommen. Ist dieses Maß erfüllt, so werden alle anderen Bedürfnisse nebensächlich. Die Liebe zeigt sich als die universelle Form der Bedürfnisbefriedigung: Wenn wir sie ausreichend bekommen, ist alles gut; wenn sie uns fehlt, macht das Leben plötzlich keinen Sinn mehr und wir können ins Bodenlose abstürzen. Wir merken dann, dass wir das eigene Schicksal mit dem Geliebtwerden verknüpft haben.

Wir alle kennen diese Form der Liebe, die nach den Vorstellungen unseres Egos geschneidert ist. Emotional ist sie hoch aufgeladen, weil sie aus unseren Überlebensmustern geformt ist. Denn unerfüllte Bedürfnisse aus der Kindheit spielen In ihr die Hauptrolle. Sie ist in ihren Wirkmöglichkeiten durch Konzepte und Überlieferungen über das eingeschränkt, was Liebe sein könnte oder sollte. Aufgrund der Enge und Instabilität der Vorstellungen von der „wahren“ Liebe kommt es auf dieser Ebene immer wieder zu Unterbrechungen und Abstürzen, zu Verletzungen, Traumatisierungen und Dramen. All diese schmerzhaften Phänomene sind Beispiele für den Verlust der Verbindung mit der unbedingten oder großen Form der Liebe.

Die Liebe beginnt mit dem Geben.

Den engen Rahmen dieser bedingten Liebe überschreiten wir, wenn wir erkennen, dass Liebe zuerst nicht etwas ist, das wir entweder bekommen oder das uns vorenthalten wird, sondern etwas, das wir in uns haben, um es weiterzugeben. Die Liebe entsteht nicht im Empfangen, sondern im Geben. Der Glaube, dass wir zuerst einmal Liebe bekommen müssen, bevor wir sie geben können, ist die Folge von Kindheitserfahrungen mit einer Liebe, die nur unter Bedingungen gegeben wurde: Wenn du dich brav verhältst, wirst du geliebt, sonst nicht. Du bekommst also die Liebe, wenn du unsere Erwartungen erfüllst, so lautet die explizite oder implizite Botschaft mancher Eltern. Dass Kinder von sich aus, sobald sie am Leben sind, Liebe geben, wissen sie nicht, wenn sie dafür keine Rückmeldungen bekommen. Indem die Eltern ihre Liebe an Erwartungen und Bedingungen binden, lernt das Kind, dass es keine unbedingte Liebe gibt und dass das, was es selbst gibt und geben kann, unbedeutend und wertlos ist. Es hat also nichts zu geben, und bekommen kann es nur dann, wenn es sich durch ein bestimmtes Verhalten, durch eine Form der Gefühlsregulation und Frustrationstoleranz dieser Liebe als würdig erweisen. Die Eltern signalisieren auf diese Weise, dass die Liebe ein knappes Gut ist, das nur unter Umständen gegeben wird, nämlich dann, wenn es sich das Kind durch Anstrengung und Anpassung verdient. Unschwer ist zu erkennen, dass sich auf diese Weise die Grundlagen des Kapitalismus in die Liebesdinge eingemischt haben. Bis zur käuflichen Liebe ist es dann nicht mehr weit.

Die universelle Liebe

Die herkömmlichen Begriffe von Liebe sind also geprägt von der persönlichen Lebensgeschichte sowie von den ökonomischen und kulturellen Lebensbedingungen. Sie tragen unsere Hoffnungen und Ängste in sich, sind durchzogen von Illusionen und Traumelementen und ziehen einen Rattenschwanz an Enttäuschungen und Verletzungen nach sich. Das kann doch nicht alles sein, was die Liebe zu bieten hat!

Wir haben die Fähigkeit, aus diesen vorgeprägten, von Ängsten und Verletzungen eingeschränkten Konzepten der Liebe herauszutreten und den Schritt in einen größeren Rahmen zu wagen. Dabei stellen wir all die Vorstellungen von Liebe, die wir schon kennen, bewusst beiseite und öffnen uns für die Weite des Lebens und des Universums, die über das Menschliche und Allzu-Menschliche hinausgeht. Mit diesem Schritt in die Transzendenz gelangen wir zu einem Verständnis von Liebe als Kraft, die alles zusammenhält und verbindet. Davon ist das, was wir als menschliche Liebe kennen und verstehen, nur ein winziger Ausschnitt, und die Probleme, die uns da begegnen, schrumpfen aus dieser Sicht wie von selbst. Denn diese Perspektive erkennt alles, was geschieht, als eine Ausdrucksform der Liebe. In irgendeiner, oft geheimnisvollen Weise wirkt eine Macht, die allem Existierenden Zusammenhang, Sinn und Bedeutung gibt. Wir verstehen dieses Wirken mit unserem kleinen Geist oft nicht, denn dieser kennt nur seine engen Bahnen, auf denen er sich gern im Kreis dreht. Auch wenn wir den großen Geist nur ansatzweise fassen können, ist es uns möglich, den verheißungsvollen Geschmack, die freie Schwingung der von ihm getragenen Liebe zu erahnen und uns ihr anzuvertrauen.

Die heilende Kraft der großen Liebe

Die universelle Liebe, die wir in diesem geheimnisvollen Rahmen kennenlernen, wirkt nicht nur verbindend und Zusammengehörigkeit geben. Sie enthält auch eine Kraft der Verwandlung und der Heilung. Entwicklung heißt die Veränderung des Bestehenden, und die Kraft der Liebe steht hinter jeder Entwicklung, mit der das Leben weiterwächst, und befördert und bereichert sie.  Diese Liebe bejaht alles, was das Leben hervorbringt. In dieser bedingungslosen Affirmation steckt ihr immenses Heilpotenzial.

Wir erkennen das unmittelbar Hilfreiche dieser Form der Liebe, wenn es darum geht, mit Verletzungen und Verstörungen, die durch Liebesmangel, Liebesentzug oder Liebesverlust entstanden sind, ins Reine zu kommen. Viele Menschen hatten ganz widrige Umstände zu bewältigen, in denen das Vertrauen in die Liebe geschwächt wurde. Wer als Kind von den Eltern nicht gewollt war, spürt das fehlende Willkommen und die Ablehnung der eigenen Existenz als schwere Last und tiefes Leid. Wird aber verstanden, dass es auf einer anderen Ebene das Leben war, das das eigene Dasein gewollt und willkommen geheißen hat, dann wird spürbar, dass eine überpersönliche Liebe am Wirken ist, die stärker ist als das, was die Menschen wollen oder ablehnen. Es fällt leichter, das eigene Leben besser annehmen zu können, wenn bewusst wird, dass es ein unbedingtes Ja gibt, das aus der Urquelle des Lebens stammt und viel viel mächtiger ist als ein Nein der überforderten, ängstlichen und unreifen Eltern. Dieses Ja soll in allen Ecken und Winkeln der Seele vernommen und in jeder Zelle verspürt werden, bis es sich tief verankert hat. Dann fällt es leichter, den Eltern ihre Schwächen und ihr Versagen zu verzeihen und mit ihnen in Frieden zu kommen.

Die unbedingte und weite Liebe nährt alle Formen der kleinen und bedingten Liebe. Sie möchte sich immer zu Gehör bringen, wenn sich die kleine Liebe in den Ränken des Egos und den Schattenseiten der Persönlichkeit verloren hat. Denn allzu schnell versiegt und versickert sie, wenn sie nur auf sich selber gestellt ist. Aber die Rückverbindung an die Urquelle der Liebe in der universellen Lebenskraft lässt sie immer wieder aufblühen und Frucht bringen. Es ist die Erinnerung daran, wer wir in Wirklichkeit sind: Geschöpfe der universellen Liebe, begabt mit einer Liebeskraft, die aus den tiefsten Wurzeln des Seins fließt.

Zum Weiterlesen:
Die große und die kleine Liebe


 

Samstag, 5. August 2023

Perspektivenreichtum statt Güterreichtum

Geiz und Gier

Das Anhäufen und Einverleiben von Dingen ist das Ziel der Gier. Es gibt Dinge, die wir für die Erfüllung unserer Grundbedürfnisse brauchen, wie Nahrungsmittel, Kleidung, ein Dach über dem Kopf usw. Dann brauchen wir Dinge, die uns bei der Sicherung der Dinge helfen, die wir unbedingt brauchen, wie z.B. Geld. Und hier beginnt die Gier: Die Grundbedürfnisse sind bei vielen Menschen längst gesichert, aber die Unsicherheit besteht, ob das in Zukunft auch so sein wird. Also kommt der Drang, die sekundären Dinge anzuhäufen, die uns versprechen, dass es nie einen Mangel an primären Dingen gibt.

Ist die Unsicherheit einmal da und wird von der Gier gesteuert, so gibt es kein Limit nach oben, dessen Erreichung Sicherheit geben würde: Jede sekundäre Absicherung verlangt nach einer Absicherung der Absicherung usw. Die Gier will uns signalisieren, dass die einzige Garantie für Sicherheit darin liegt, bis ins Unendliche mehr und mehr materielle Güter anzuhäufen. Wir sollten uns nur mehr dafür anstrengen, sekundäre, tertiäre etc. Absicherungen für unsere Grundbedürfnisse unter Kontrolle zu bringen. Jedes Nachlassen in den Anstrengungen und im Zufluss an neuen Gütern verheißt Unsicherheit und damit die Gefährdung der Erfüllung unserer Grundbedürfnisse, eine Einsicht, deren Wurzel nur mehr im Unterbewusstsein gefunden werden kann. Denn Schicht um Schicht der Unsicherheitsbewältigung hat sich über den Kernbedürfnissen abgelagert, die längst schon in Sicherheit sind, ohne dass diese Botschaft zu Bewusstsein käme.

Die Gier wird vom Geiz unterstützt. Er sorgt dafür, dass wir von den angehäuften Dingen nichts hergeben. Er steht auch im Bann der Angst vor dem Verlust. Die Gier schaufelt neue Güter herbei und der Geiz hortet sie an sicherem Ort, muss aber immer darauf achten, dass niemand anderer an sie herankommt. Argwöhnisch und eifersüchtig wacht er darüber, dass nichts von den Schätzen wegkommt. Am besten bleiben sie geheim: Wenn niemand von ihnen weiß, ist die Gefahr gering, dass sie entwendet werden.
Die Gier saugt auf, der Geiz hält fest. Die Gier rafft, der Geiz hortet. Die Gier will anderen etwas wegnehmen, der Geiz will anderen nichts geben und sich vor deren Gier schützen. Auf die Verdauung übertragen: Die Gier führt zu Durchfall, wenn zu viel hineingeschlungen wird, der Geiz zur Verstopfung, weil jedes Hergeben mit Verunsicherung und Angst einhergeht.

Von den materiellein zu den immateriellen Gütern

Wenn es uns gelungen ist, die Dämonen der Gier und des Geizes zu bändigen, lösen wir uns von dem Zwang, Güter anzuhäufen, die uns eine scheinbare Sicherheit versprechen. Wir begeben uns zum Übergang von Quantität zu Qualität, von materiellen zu immateriellen Gütern. Hanzi Freinacht schreibt dazu: „Unsere frühere Besessenheit mit dem Ansammeln von Besitztümer und materiellem Wohlstand wird zunehmend durch eine Ansammlung von ‚erlebten Erfahrungen‘ ersetzt: Orte, an denen wir waren, Leute, die wir getroffen haben, Fähigkeiten, die wir erlernt haben, Speisen, die wir gekostet haben, Formen von Ereignissen, an denen wir teilgenommen haben, Lebensphasen, die wir überwunden haben.“ (Übers. W.E.)

Das, was im Text als das Frühere im Unterschied zum Jetzigen benannt wird, bezieht sich auf die materialistische Ebene des Bewusstseinsevolution nach meinem Modell; das Jetzige kann mit der personalistischen Stufe gleichgesetzt werden. Der nächste Schritt geht auf die systemische Stufe, die Hanzi Freinacht als metamodern bezeichnet. „Der metamoderne Geist sammelt Perspektiven; er preist sie, poliert sie, schätzt sie, bewundert sie. Das ist auch – in gewissem Sinn – eine blöde Form des Hortens. Es ist ein Horten, das von einer sanften Hand gehalten wird, mit einem ironischen Lächeln über das eigene Verhalten.“

Auf der Ebene, die ich systemisch nenne, gilt der Reichtum an Sichtweisen vor dem Hintergrund der Relativität und Diversität. Viele Perspektiven verstehen und nebeneinander bestehen lassen zu können, erfordert die Loslösung vom Rechthaben- und Belehrenwollen. Allerdings ist es nach wie vor wichtig, die Gültigkeit und Relevanz der jeweiligen Perspektiven zu berücksichtigen. Die Aussage von Frau Müller zum aktuellen Wetter nach dem Blick aus ihrem Fenster hat einen anderen Wert als die Messung einer wissenschaftlichen Wetterforschungsinstitution. Wir sammeln also Perspektiven mitsamt ihren Entstehungskontexten, sonst ist die Sammlung so wertlos wie eine Briefmarkenkollektion, in der die Marken nach Farben oder Größe sammelt sind.

Die Ästhetik des Schrumpfens, von der in einem früheren Beitrag die Rede war, bezieht sich nur auf materielle Güter, die aus den Ressourcen des Planeten hergestellt sind und diese sukzessive aufbrauchen. Immaterielle Güter öffnen einen Bereich des Reichtums, der ins Unendliche geht. Denn sie verlieren nicht an Wert, wenn sie geteilt und weitervermittelt werden, sondern erhöhen im Gesamten das, was als wertvoll erachtet wird. Es kommt also immer zu einem Wachstum bei der Verbreitung von Faktenwissen und Metawissen, das sogar exponentiell sein kann.

Vom Nutzen der vielen Perspektiven

Die Multi-Perspektivität ist deshalb so wichtig, weil sie unser Leben in verschiedener Hinsicht verbessert und erleichtert. Wenn wir in einer Situation über nur eine Möglichkeit verfügen, verlaufen wir uns schnell, weil diese Möglichkeit unter Umständen die ungünstigste oder unpassendste ist. Wir befinden uns in einer Tunnelperspektive. Mehr Möglichkeiten bedeuten, dass wir über einen weiteren Horizont verfügen und ein größeres Bild wahrnehmen können.

Die Vielzahl von Möglichkeiten erschreckt uns manchmal, wenn wir gerade nicht auf unsere Flexibilität vertrauen, sondern wenn wir unter Stress stehen und meinen, es gäbe nur einen und einzigen richtigen Weg. Wir befürchten, wir übersehen das Wahre und Wichtige, wenn wir eine Richtung wählen und uns notgedrungen eine andere damit verbauen. Entscheidungen sind immer riskant, ebenso wie jeder Verzicht auf das Festlegen. Unter Stress wollen wir jedes Risiko vermeiden und auf Nummer Sicherheit gehen, erzeugen aber gerade das Gegenteil, weil wir uns nicht die Zeit zum Abwägen verschiedener Blickpunkte geben, sondern aus alten Gewohnheiten heraus reagieren, die in den seltensten Fällen zur aktuellen Situation passen.

Freiheit in der Vielfalt

Unsere Freiheit ergreifen wir, wenn wir die Vielfalt der Perspektiven wertschätzen können, für die wir uns geöffnet haben. Sie erweitern unsere Innenwelt und geben uns mehr Zugänge zur äußeren Welt. Wir können mehr Farben in unsere Erlebenswelt bringen. Sie wird lebendiger, und wir werden lebendiger, wenn wir uns auf diese Vielfalt einlassen.

Sie eröffnet uns den Zugang zu Alternativen in der Lebensführung, z.B. was unsere Gesundheit betrifft, und sie erleichtert das soziale Leben, weil wir auf weniger Widerstände stoßen, wenn wir die Sichtweisen unserer Mitmenschen verstehen. In der Kommunikation gibt es immer verschiedene Sichtweisen, und wenn wir diese einfache Tatsache verstanden haben, fällt es uns leichter, durch die Tiefen und Untiefen der Zwischenmenschlichkeit zu surfen. Konflikte entstehen üblicherweise aus unterschiedlichen und widersprechenden Perspektiven, ohne dass die jeweils anderen verstanden werden, und sie lösen sich, wenn die Vielfalt der Perspektiven von allen Seiten wertgeschätzt werden kann.

Wir können besser mit den Herausforderungen umgehen, die uns die sich ständig verändernden Vorgänge in der Außenwelt auftischen. Jede neue Situation erfordert neue Sichtweisen, aus denen dann Formen des Herangehens gebildet werden. Mit jeder Perspektive, die wir verstanden und angenommen haben, verfügen wir über eine Handlungsmöglichkeit mehr, die wir bei Bedarf einsetzen können.

Komplexitätskompetenz

Unweigerlich wird die Welt, in der wir leben, immer komplexer. Wir können mit dieser Komplexität nur umgehen, wenn wir über möglichst viele Perspektiven verfügen. Viele Menschen schrecken vor Komplexität zurück und greifen in ihren Reaktionen auf alte Sichtweisen zurück, die oft bewirken, dass sich die erwarteten Effekte ins Gegenteil verkehren. Wenn z.B. in Hinblick auf den Klimawandel nur die Perspektive besteht, dass alles, was Wissenschaftler sagen, erlogen ist, oder dass andere ihr Leben ändern sollen und man selber schon alles Notwendige gemacht hat, wird der Klimazerstörung weitergehen und noch mehr Schäden hervorrufen.

Komplexitätsverweigerung oder Komplexitätsinkompetenz sind Haltungen, die oft bewusst gegen die Zunahme an Komplexität in Stellung gebracht werden, so als könnte man sie dadurch verhindern oder zumindest bremsen. Tatsächlich geht es dabei um Versuche, Primitivität und Naivität aufrechtzuerhalten, damit die Verhältnisse einfach und überschaubar bleiben. Doch richten sich die Verhältnisse nicht nach den Ängsten und kindlichen Bedürfnissen der Menschen, sondern bauen alles, was geschieht, einschließlich aller Formen von Widerstand, in das Weiterschreiten der Komplexität ein.

Das Wachstum an Komplexität kann also nicht durch irgendeine Form von Protest, Verweigerung oder Widerstand verhindert werden. Solange sich Menschen fortpflanzen, werden mit jedem neuen Menschenkind neue Perspektiven geboren, die die Welt komplexer machen. Der Hund kläfft und die Karawane zieht weiter. Wenn wir mit der Karawane in die Zukunft wandern wollen, brauchen wir die Offenheit für Neues und die Bereitschaft für das Risiko der Entscheidung. Statt uns in überholte Perspektiven einzumauern und maulend hinter der Entwicklung der Welt zurückzubleiben, erweitern wir unsere Freiheitsräume, indem wir neue Perspektiven erwerben und nutzen.

Sonntag, 16. Juli 2023

Die eigene Geschichte und das Schicksal

Es gibt kein Schicksal in der äußeren Wirklichkeit, sondern nur Abläufe und Geschehnisse. Der Begriff Schicksal entsteht in unserem Denken, er ist ein Konzept des Bewusstseins. Es handelt sich um die Benennung und Bewertung unseres Erlebens in bestimmten Momenten, als Bezeichnung für eine Erfahrung, die etwas Unbegreifliches enthält. Das Schicksal stößt uns zu, gewissermaßen ruckartig und gewaltsam tritt es in unser Leben und nimmt uns voll in Beschlag. In der Rückschau ragen die schicksalhaften Erlebnisse wie mächtige und dunkle Marksteine aus der Umgebung heraus: Nach solchen Vorkommnissen war nichts mehr wie früher, das Leben wurde ein anderes.

Wenn wir an das Schicksal denken, fallen uns sofort äußere Ereignisse ein, die uns stark betroffen haben: Unerwartete Todesfälle, Unfälle, Krankheiten und andere emotional belastende Erfahrungen. Wir erleben sie als von außen kommend, die dann unser Inneres ergreifen und erschüttern. Was hat es nun mit unserem Innenleben auf sich, ist da auch die Macht des Schicksals aktiv?

Unverfügbare Abläufe in unserem Inneren

Wir haben den Eindruck, dass wir unsere innere Situation immer beeinflussen und regulieren können, zum Unterschied von der Außenwelt, auf die wir in nur sehr geringem Maß Einfluss haben. Allerdings ist auch dort vieles vorgegeben, also „Schicksal“. Denn unsere Impulse, Stimmungen und Gedanken werden von Vorgängen erzeugt, die im Organismus und seelisch im Unterbewussten, also ohne unsere bewusste Mitwirkung ablaufen. Wir haben keine Macht darüber, was als Gefühl oder als Gedanke auftaucht. Wir sind ihm ausgeliefert wie einem Schicksalsschlag, obwohl Gefühle und Gedanken in der Regel viel harmloser sind als das, was wir als schicksalhaft beschreiben.

Sobald allerdings etwas in unser Bewusstsein getreten ist, können wir darauf einwirken, indem wir die Kraft unserer Aufmerksamkeit einsetzen. Den Inhalten unseres Bewusstseins, denen wir Aufmerksamkeit geben, verleihen wir mehr Macht als jenen, die wir übergehen oder beiseite stellen. Wir verfügen also über die Fähigkeit, Bewusstseinsinhalten, die uns angenehm und förderlich erscheinen, mehr Bedeutung zu verleihen, als jenen, die uns runterziehen oder in ungewollte Gewohnheiten verstricken. Wir sind nicht Herr (Frau) unseres unmittelbaren Erlebens, sondern der Verarbeitung dieses Erlebens. Unsere Einflussnahme kommt also immer hinten nach, gleichwohl wirkt sie längerfristig darauf ein, was als erstes auftaucht. Denn Bewusstseinsinhalte, die wir durch unsere Aufmerksamkeit pflegen und stärken, melden sich öfter als solche, die wir vernachlässigen oder ignorieren. So können wir mit unseren Gedanken umgehen, und Ähnliches gilt für Gefühle. Wir sind in der Lage, belastenden Gefühlen weniger Bedeutung zuzumessen und befreienden Gefühlen mehr Raum zu geben. Auf diese Weise schwächen wir die einen und fördern die anderen.

Das ist der Weg, auf dem wir die Verantwortung für unser Erleben übernehmen, sprich für die Übersetzung dessen, was uns im Außen begegnet, in unser Inneres. Wir haben keine Zuständigkeit für das, was wir erleben, sind aber dann zuständig für das, was nach der Bewusstwerdung geschieht. Wir können nicht verhindern, dass die Erde zu beben beginnt und dass wir in Panik geraten. Aber wir können beeinflussen, wie wir mit dieser Erfahrung umgehen: Ob wir in der Panik bleiben oder ob wir schnell wieder zur Ruhe finden und das Vernünftige tun.

Verantwortung beruht auf Bewusstheitsschulung

Es gibt noch eine weitere Ebene dieser Zugangsweise. Sie liegt darin begründet: Das Bewusstmachen des Inneren wird erst möglich, wenn jemand beginnt, am eigenen Schicksal und an den Verstrickungen, die die Seele damit macht, zu arbeiten. Menschen mit wenig Bewusstheit ihrer selbst bringen die Aufmerksamkeit nicht auf, die es braucht, das Innenleben zu beeinflussen. Solche Menschen werden oft von Gefühlen überschwemmt und finden schwer wieder heraus. Andere sind von Gedanken dominiert, die auch aufs Gemüt drücken können. Die Annahme dabei ist, dass alles im Inneren geschieht und dass es keine Einflussmöglichkeiten darauf gibt.

Es ist wiederum das Schicksal, das manche auf den Weg der Selbsterforschung bringt und andere nicht. Es ist nicht eigentlich ein Verdienst, eine bewusste Verantwortungsübernahme, die zu diesem Schritt führt, sondern etwas, das sich ergeben hat, vielleicht aus drängender Not oder aus Neugier, vielleicht auf Anraten oder unter Druck, vielleicht durch traumatische Erfahrungen oder durch eine sensible Persönlichkeitsstruktur. Natürlich braucht es eine freiwillige Zustimmung, sich auf den Erforschungsweg zu begeben, aber die Bedingungen dafür, dass es dazu kommt, liegen nicht in der eigenen Entscheidungsbefugnis. Das Schicksal entscheidet darüber, ob sich jemand einer Therapie unterzieht, auf ein Meditationsretreat geht, einen anderen Selbsterfahrungsweg wählt oder in den unbewusst geprägten Gewohnheitsmustern verharrt.

Das geheimnisvolle Reich des Unverfügbaren

Wenn allerdings das Tor zur Innenerforschung einmal aufgetan wurde, wird klar, dass es in der eigenen Verantwortung liegt, immer wieder hindurchzugehen und mehr Bewusstheit ins eigene Leben und Erleben zu bringen. Es wird einsichtig, dass es einen Bereich der Verantwortung dem eigenen Erleben gegenüber gibt, der genutzt werden kann, um die Selbstregulation im Innenbereich zu verbessern. Ein einfaches Werkzeug bietet unsere Atmung, die wir bewusst steuern können. Mit der Regelung unserer Atmung können wir Einfluss nehmen auf unser Nervensystem und auf unsere Stimmung. Vor allem zur Stressreduktion ist sie prädestiniert.

Dennoch kann es geschehen und geschieht es immer wieder, dass der Pfad ins Neuland der Seele wieder verlassen wird und die alten Geleise die Regie übernehmen. Die Fähigkeit zur Verantwortungsausübung in diesem Bereich geht verloren. Wir vergessen, was wir schon gelernt haben und denken beispielsweise nicht daran, das Ausatmen zu entspannen, wenn wir uns gestresst fühlen.

Damit kommen wir zu einer weiteren Ebene, auf der wir auch zugeben müssen, dass das Übernehmen von Verantwortung selber wieder ins Reich des Unverfügbaren gehört. Es gelingt manchen leichter und anderen schwerer. Diese Fähigkeit hängt letztlich wiederum von Faktoren ab, die nicht in der eigenen Verantwortung liegen.

Also sind unsere Verantwortungsbereiche beständig von Bereichen des Vorgegebenen und des Geschehenden eingegrenzt und umgeben. Unsere Verantwortung nehmen wir wahr, weil es uns in bestimmten Momenten gegeben ist und wir vernachlässigen sie, weil uns in anderen Momenten kein Zugang dazu gewährt ist. Je näher wir hinschauen, desto deutlich wird, welch großen Raum all das einnimmt, was wir nicht kontrollieren können, was ohne unser Zutun in uns wirkt, was unserer Bewusstmachung immer voraus ist.

Die eigene Geschichte und das Schicksal

Mit dem Einsehen, dass der eigene Verantwortungsbereich schmal ist im Vergleich zu dem, was ohne unsere bewusste Mitwirkung geschieht, ändert sich der Blick auf die eigene Lebensgeschichte. Wir können sie auf neue Weise erzählen. Viele Ereignisse in unserer Vergangenheit, über die wir hadern und mit denen wir uns nicht abfinden können, erscheinen in einem anderen Licht, wenn wir die Grenze zwischen Verantwortung und Schicksal genauer erkennen. Die Möglichkeit, für unser Handeln Verantwortung zu übernehmen, war zu den kritischen Zeitpunkten, mit denen wir im Unfrieden sind, viel kleiner, als wir jetzt annehmen. Nachträglich ist uns manches bewusst geworden; damals verfügten wir nicht über diese Bewusstheit. Deshalb konnten wir nicht anders handeln als wir gehandelt haben. Deshalb ist etwas geschehen, was wir heute als Fehler erkennen und so nicht mehr machen würden. Wir sind in dieser Hinsicht bewusster geworden und haben aus der Erfahrung gelernt. Jetzt können wir damit aufhören, von uns selber eine Bewusstheit für die Vergangenheit zu verlangen, die uns erst nachträglich zuteil wurde. Jetzt können wir damit aufhören, uns selber mit dem heutigen Besserwissen zu quälen.

Die Lücken der Verantwortung

Wir müssen immer wieder anerkennen, dass wir die Verantwortung nur in Lücken, die sich im dichten Gewebe des Seins öffnen, ausüben können. Wenn wir aber diese Lücken ausnutzen, um unsere Bewusstheit zu vertiefen, dann werden diese Lücken umso häufiger auftreten, sodass uns ein Wachsen in der geistigen Reife geschenkt wird.

Wir gelangen zu unserer vollen Wirkmacht nur dann, wenn wir ein klares Gefühl für die Grenzen unserer Einflussnahme haben. Wo diese Grenzen unklar und verschwommen sind, vergeuden wir unsere Kräfte, weil sie in Scham- und Schuldgefühle fließen. Mit der Einsicht in die Grenzen verstehen wir, wie wir unsere Autorität und Verantwortung in den kleinen Bereichen leben können, die unserer Kontrolle unterliegen, und wie wir sie durch Übungen in der Bewusstheit vermehren. Dem Unverfügbaren gilt es in Respekt und Demut sowie mit Gelassenheit zu begegnen. Wir sind nicht die Meister:innen unseres Schicksals, aber die Gestalter:innen unseres bewussten Lebens.

Zum Weiterlesen:
Schicksal und Verantwortung
Schicksal und Scham

Mittwoch, 12. Juli 2023

Schicksal und Scham

Die Scham an der Schicksalsgrenze

Es gibt eine Scham, die entsteht, wenn wir ein Schicksal nicht als Schicksal akzeptieren und meinen, wir hätten etwas versäumt, das das Schicksal abgewendet hätte. Eine wichtige Grenze verläuft zwischen Verantwortung und Schicksal, zwischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren. Es ist die Grenze der Selbstmächtigkeit: Bis hierher kann ich wirksam sein und Einfluss ausüben. Darüber hinaus habe ich nichts mehr zu sagen.

Wenn uns diese Grenze nicht klar ist oder wenn wir sie unwissentlich überschreiten, öffnen sich Räume für Selbstzweifel und Selbstbeschuldigungen. Denn im Reich des Schicksals können wir mit unseren Ambitionen und Absichten nur scheitern. Es ist ein geheimnisvolles Reich mit Gesetzmäßigkeiten und Regeln, die uns nicht zugänglich sind und die wir einzig mit Demut zur Kenntnis nehmen können. Es gibt ja den Spruch: „Wenn du gegen Gott kämpfst, wirst du immer verlieren.“

Ausufernde Verantwortung

Alle Formen der Selbstinfragestellung sind Ausdruck von Scham. Die Scham sagt uns zweierlei: Du hast möglicherweise etwas falsch gemacht und Schuld auf dich geladen. Und dahinter: Du hast die Grenze zwischen Schicksal und Verantwortung überschritten und deine Macht über das zulässige Maß hinaus ausgedehnt und erweitert. Denn wenn wir uns vormachen, das Schicksal läge in unserem Verantwortungsbereich, machen wir uns zu Richtern oder Herrschern über das Schicksal. Wir stellen fest, das es seine Arbeit schlecht gemacht hat. Doch hat diese angemaßte Richterposition keinerlei Auswirkungen auf die Realität, denn sie richtet sich überhaupt nicht danach. Die einzige Konsequenz ist ein Konflikt in uns selbst.

Zu solchen selbstaggressiven Selbstanklagen kommt es vor allem bei existentiellen Erfahrungen, die uns schwer treffen und unsere Kapazität im Akzeptieren überfordern. Es sind z.B. Grenzerfahrungen, die mit schweren Krankheiten oder mit dem Tod verbunden sind. Viele Menschen neigen dazu, sich selbst Vorwürfe zu machen, wenn wenn nahestehende Personen sterben. Diese Vorwürfe sind dann von Scham- und Schuldgefühlen begleitet. Weil es schwerfällt, das Schicksal zu akzeptieren und in die Haltung der Demut zu gehen, wird der innere Konflikt gewählt, durch den noch der Schein der Handlungsfähigkeit aufrecht bleibt. Wir tun so, als könnten wir die Realität nach unseren Vorstellungen fabrizieren, indem wir sie in unserer Fantasie umgestalten. Die Ohnmacht, die mit dem Annehmen des Schicksals verbunden ist, ist mit so großer Angst und so starken Schamgefühlen verbunden, dass wir alles Mögliche veranstalten, was uns scheinbar aus der Ohnmacht befreit, und sei es auch nur eine Scheinermächtigung.

Stirbt ein Mensch, der einem nahe steht, so kann schnell der Gedanke auftauchen, etwas versäumt oder übersehen zu haben, was das Leben des Menschen verlängert oder den Tod abgewendet hätte. Die Selbstvorwürfe können auch auf etwas gerichtet sein, was sich diese Person noch gewünscht hätte und was ihr nicht erfüllt wurde. Oder darauf, dass man beim Tod nicht anwesend sein und sich deshalb nicht auf die richtige Weise verabschieden konnte. Solche Gedanken sind mit unangenehmen Gefühlen und inneren Konflikten verbunden, die oft über längere Zeiten andauern und mit jeder Erinnerung an den Todesfall aktiviert werden. Die Scham über die eigene Fehlerhaftigkeit und Unachtsamkeit ist der zentrale Motor bei solchen Selbstgeißelungen. 

Identifikation mit einer Illusion

Die Sturheit, mit der wir oft am Nichtakzeptieren der Wirklichkeit und der Geschicke, mit denen sie uns konfrontiert, festhalten, hat mit Identifikation zu tun. Wir sind mit einer fantasierten besseren Version der Wirklichkeit identifiziert, mit der wir die misslungene Vergangenheit überschreiben wollen. Wir rufen sie uns wieder und wieder in die Vorstellung, nur um anzuprangern, was wir in der Vergangenheit falsch gemacht, übersehen oder versäumt haben. Damit agieren wir wie ein strenger und unerbittlicher Richter gegen uns selbst und verurteilen uns fortwährend zu einem miesen Selbstgefühl.

Wir verkennen dabei, dass dieser Teil von uns, der auf dem Richtstuhl sitzt, unsere Überheblichkeit repräsentiert. Er verhält sich wie eine Elterninstanz, die das Kind immer wieder wegen eines Fehlers beschimpft, herabsetzt und beschämt und selber nichts falsch macht. Es ist die Instanz, die nicht versteht, was im Kind abläuft und was es auf der emotionalen Ebene bräuchte. Jedes Nichtverstehen, jede Abwertung demütigt, und jede Demütigung verringert den Selbstwert, bis am Schluss eine resignative Depression steht.

Es gibt zwei Bereiche unserer Erlebenswirklichkeit: Das Kontrollierbare und das Unkontrollierbare, den Bereich, in dem wir Macht und Einfluss haben, und den anderen, in dem wir ohnmächtig, ausgeliefert sind, in dem wir dem unterworfen sind, was wir das Schicksal nennen. Im einen Bereich sind wir verantwortlich für das, was mit uns und um uns geschieht; im anderen Bereich wirken andere Kräfte und Mächte, jenseits unseres Wollens und unserer Einflussnahme, also auch jenseits unserer Verantwortung. Das Schicksal macht uns darauf aufmerksam, dass es unüberwindliche Grenzen unseres Könnens, Wissens und Beeinflussens gibt. Wir können z.B. den Zeitpunkt unseres Todes nicht steuern, nicht einmal den Ablauf und die Phasen unseres Sterbeprozesses.

Die säuberliche Unterscheidung zwischen diesen beiden Bereichen, eben zwischen Schicksal und Verantwortung ist wichtig für unsere Lebensqualität und für den Schutz vor toxischen Schamgefühlen und Selbstabwertungen. Denn sobald wir verstehen, dass es höhere Mächte sind, denen wir ausgeliefert sind, und wenn wir das Geschehen als Schicksal akzeptieren, lösen sich die Schuld- und Schamgefühle auf. Wir können das vergangene Ereignis besser verstehen und neu bewerten. Auf diese Weise schließen wir Frieden mit uns selbst und verabschieden das Geschehene in die Vergangenheit.

Wo beginnt die Verantwortung?

Das eigene Erleben ist das eigene Erleben, es ist folglich in dieser Hinsicht selbst erzeugt. Aber den Inhalt dieses Erlebens liefern Einflüssen der äußeren und der inneren Wirklichkeit. Die eigene Zutat besteht in der Interpretation, Bewertung und Kategorisierung. Die Inhalte selbst unterliegen nicht der Macht des eigenen Denkens oder Wollens, vielmehr erreichen sie das Bewusstsein vor jeder bewussten mentalen Aktivität. Sie sind also schon längst da, wenn unser Bewusstsein beginnt sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie werden immer erst nachträglich vom Denken bearbeitet und in die bewusste Innenwelt eingebaut.

Die Inhalte unseres Erlebens, Fühlens und Denkens gehören folglich zur Sphäre des Unverfügbaren. Der Bereich unserer Verantwortung beginnt erst dann, wenn das Erleben in unser Bewusstsein tritt. Erst ab diesem Moment können wir Einfluss nehmen und die Inhalte unseres Erlebens sowie das daraus abgeleitete Handeln steuern und verändern.

Der Raum, in dem unsere Verantwortung gefragt ist, ist relativ klein und wir überschätzen ihn meistens, vor allem wenn wir aus der Schule der Selbstkreatoren kommen. Wir können den Ansprüchen nicht gerecht werden, die die Theorien der universalen Selbstermächtigung vorschreiben. Und immer, wenn wir Erwartungen und Zumutungen nicht gerecht werden, folgt ein Schamgefühl.

Der Fatalismus

Es gibt auch die Haltung, die den Verantwortungsraum möglichst klein hält. Den Gegenpol zur Hybris der Selbstkreatoren („Ich schaffe alles mit der Kraft meiner Gedanken!“) bildet der Fatalismus, oft verbunden mit Bequemlichkeit und Faulheit. Wir können uns auch auf das Schicksal ausreden, statt aktiv zu werden: Alles ist Kismet, ich kann sowieso nichts ausrichten, weil alles vorherbestimmt ist (auch meine Bequemlichkeit oder Feigheit). Schon wieder habe ich eine Prüfung nicht geschafft. Da waren eben höhere Mächte gegen mich. Es ist wie es ist, damit muss man sich abfinden. Niemand kann von mir verlangen, etwas zu tun, was sowieso nichts wird. Es ist sinnlos, mich anzustrengen.

Auch hier zieht die Scham im Hintergrund die Fäden. Immer wenn die Übernahme der Verantwortung für das eigene Handeln eingeschränkt oder verweigert wird, geht es um ein mangelndes Selbstvertrauen und um einen niedrigen Selbstwert. Eigentlich traut sich die Person nicht zu, die Situation durch eigenes Handeln zu verbessern und rechtfertigt das Misstrauen in die eigenen Fähigkeiten mit der Sinnlosigkeit des Tuns. Es geht um eine erlernte Hilflosigkeit, um Ohnmacht, die aus Frustrationen stammt, die im eigenen Leben erlitten wurden. Es ist also eine Opferhaltung, die den Fatalismus kennzeichnet, und nicht die demütige Annahme des Schicksals dort, wo die eigene Handlungsmacht endet. Das Schicksal kann nicht mehr für Ausreden dienen, sobald wir erkannt haben, ab welchem Zeitpunkt wir das Steuerruder übernehmen müssen und können. Wir sind also verantwortlich für eine fatalistische Haltung, sobald sie uns bewusst wird, und nicht das Schicksal.

Die weise Unterscheidungsfähigkeit

Wie ziehen wir die Grenze in Weisheit? Woran können wir erkennen, was in unserer Einflusssphäre liegt und was sich ihr entzieht?

Die Unterscheidungskraft wächst erst auf dem Boden einer gereinigten Seele. Sie muss sich von frühen Prägungen und Fixierungen befreit haben, um klar zu erkennen, wo die eigene Gestaltungsmacht an ihre Grenze stößt. Diese Blockierungen können zum einen Verantwortungszuschreibungen sein, die in der Kindheit aufgeladen wurden und mit Scham- und Schuldgefühlen aufrecht geblieben sind. Zum anderen gibt es narzisstische Größenfantasien, mit denen wir uns in die Nähe eines allverantwortlichen Gottes versetzen. Schließlich hat auch der resignative Fatalismus mit seiner Verantwortungsverweigerung Wurzeln in unserer Lebensgeschichte.

Immer wenn wir bei der Erinnerung an schicksalhafte Ereignisse zu Schamgefühlen neigen, ist es gut, einen Blick in die eigene Biografie zu werfen. Denn solche Gefühle haben vermutlich ihren Ursprung in kindlichen Erfahrungen des Beschämt- und Beschuldigtwerdens. Es handelt sich also um Introjekte aus solchen Erfahrungen, mit deren Hilfe die innere Richterinstanz aufgebaut wurde, die seither akribisch nach allem Fehler- und Mangelhaften sucht, um es anklagen zu können.

Erst wenn der Blick auf die innere und äußere Realität geklärt und geweitet ist, zeigt sich, was wir an unserer Lebenssituation verändern können und was wir als unverfügbar annehmen und hinnehmen müssen. Es ist diese Erkenntnis, die uns die Last der Scham- und Schuldgefühle wegnimmt. Wir finden zurück zu unserer Würde und versöhnen uns mit unserer Geschichte. Wir können unsere Versäumnisse und Fehler als Teil unserer menschlichen Unvollkommenheit annehmen und daraus lernen.

Freitag, 7. Juli 2023

Schicksal und Verantwortung

„Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die sich ändern lassen, und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.“ Dieses bekannte Zitat des Theologen Reinhold Niebuhr beschreibt das Verhältnis von Schicksal und Verantwortung. Es gibt eine wichtige Grenze zwischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren, zwischen dem, was wir mit unseren Kräften beeinflussen und gestalten können, und dem, das unserer Macht entzogen ist. Wir sind für vieles in unserem Leben verantwortlich, während anderes ohne unser Wollen oder Zutun in unser Leben eingreift.

Nehmen wir das Beispiel Krankheit. Es liegt in unserer Verantwortung, unser Leben so zu gestalten, dass es unserer Gesundheit am zuträglichsten ist. Das gelingt uns mehr oder weniger, erfordert oft Disziplin und steht manchmal in einer Spannung mit dem Bestreben nach Lebensgenuss. Wenn wir erkranken, können wir uns fragen, ob wir die Verantwortung für unsere Gesundheit nicht genügend wahrgenommen haben. Um künftigen Krankheiten vorzubeugen, können wir beschließen, unser Verhalten zu verändern, z.B. indem wir uns gesünder ernähren, mit dem Rauchen aufhören oder weniger Alkohol trinken usw. Es ist aber selten so, dass wir eine klare Ursache-Wirkungsbeziehung feststellen können. Denn selbst wenn wir uns unvernünftig verhalten, müssen wir nicht unbedingt krank werden, und wir können erkranken, auch wenn wir uns vernünftig verhalten. Es gibt Menschen, die zu einem hohen Grad so leben, wie wir es gemeinhin als gesund verstehen, aber dennoch plötzlich schwer erkranken, während andere nach vielerlei Maßstäben äußerst ungesund leben und dennoch nie krank werden. Die Frage kann dann auftauchen: Warum gerade ich? Wieso nicht die anderen? An diesem Punkt beginnen wir mit dem Schicksal zu hadern, also mit dem, was wir uns nicht erklären können.

Häufig erleben wir Schicksalsschläge als Ungerechtigkeiten. Warum werde ich mit dieser Krankheit belastet, wo ich doch so ein guter Mensch bin? Oder aber gerade im Gegenteil empfinden wir das Schicksal als Ausdruck der Gerechtigkeit: Eben weil ich kein guter Mensch bin, geschieht es mir recht, dass ich das Opfer eines Verbrechens wurde.

Oder, wenn uns eine Serie von Unglücksfällen betrifft, kommt die resignative Reaktion: „Mir bleibt auch nichts erspart in dieser Welt.“ – angeblich der Kommentar von Kaiser Franz Joseph auf die Nachricht von der Ermordung seiner Frau.  Gegen die Übermacht des Schicksals ist kein Kraut gewachsen und selbst ein Kaiser machtlos.

Allmachtsdenken

Es gibt im Bereich der Esoterik Glaubensansätze zur Überwindung der Macht des Schicksals. Dabei wird der Bereich der Verantwortung ins Unendliche ausgeweitet. Das Unerbittliche des Schicksals schüchtert ein, macht Angst und lässt uns ohnmächtig und klein erscheinen. Deshalb wird es als hilfreich und stärkend erfahren, wenn auch solche Erfahrungen in die Sphäre der eigenen Verantwortung eingebaut werden. Scheinbar wirkt es wie eine erwachsene Haltung, die keine Ausreden auf höhere Einflüsse braucht und alles in Kontrolle hat. Dann heißt es: Du bist der Schöpfer/die Schöpferin deines eigene Schicksals. Alles, was dir in deinem Leben zustößt, ist das Resultat deiner Entscheidungen, der bewussten oder der unbewussten. Du trägst also für alles, was du erlebst, die Verantwortung.

Was auf den ersten Blick wie eine Selbstermächtigung ausschaut (für alles wird die Verantwortung übernommen, es gelten keine Ausreden mehr und die Gestaltungsmacht auf das eigene Leben mittels Gedankenkraft ist nahezu unbegrenzt), führt in der Praxis zur maßlosen Selbstüberforderung und entlarvt sich als Ausfluss einer anmaßenden Haltung. Es ist nicht möglich, die Ansprüche, die mit der Übernahme dieser Verantwortung verbunden sind, einzulösen. Denn so viele Bereiche der Wirklichkeit sind unserem Einfluss entzogen, und das beginnt schon beim eigenen Unbewussten, von all dem, das dem Schicksal vorbehalten ist, gar nicht zu reden. Wird das Konzept beibehalten, obwohl immer wieder zum Versagen führt, sind massive Schamgefühle die Folge. All die negativen oder ungewollten Lebensereignisse sind dann allesamt Eigenkreationen, und erst recht wird die Gewissensbelastung ungeheuerlich, wenn sich der Horizont auf die ganze Menschheit ausweitet. Denn wenn alles, was im Leben geschieht, selbst erschaffen und verantwortet ist, gilt das für alles Gute und für alles Schlimme.

Solche Modelle verfangen nur dann, wenn die Scham vor dem Schicksal herrscht. Es kann doch nicht sein, dass uns im Leben Ereignisse zustoßen, denen wir ohnmächtig und hilflos ausgeliefert sind. Es muss eine Möglichkeit geben, auch über solche Erfahrungen die Kontrolle zu erlangen. Sonst wäre unsere Existenz beschämend klein und beschränkt. Das widerspräche der Selbstachtung.

Verantwortungsübernahme: Lernen und Wachsen mit dem Schicksal

All diese Reaktionsweisen sind menschlich, aber helfen uns nicht dabei, mit dem Schicksal konstruktiv umzugehen. Vielmehr wollen wir in Abläufe eingreifen und sie nach unserem Gutdünken gestalten, über die wir keine Macht haben. Wir wollen uns zu den Beherrschern unseres Schicksals machen, vor allem dort, wo es uns unangenehme Erfahrungen beschert. Statt die Verantwortung dafür zu übernehmen, wie wir auf Schicksalsschläge reagieren, klagen wir das Schicksal an und wollen uns zu Richtern aufspielen, die nach dem eigenen Gutdünken entscheiden. Oder wir ordnen uns dem Wirken der Schicksalsmächte willenlos unter und verkriechen uns in fatalistischer Resignation. Mit dieser Einstellung verleihen wir dem Schicksal über seine geheimnisvolle Macht hinaus noch mehr an dämonischer Gewalt und rechtfertigen damit, dass wir uns mit Jammern und Wehklagen in der Ohnmacht versenken.

Unsere Einflussnahme beginnt aber genau dort, wo das Schicksal in unsere Erlebensrealität eintritt. In diesem Moment entscheiden wir, ob wir uns dem Fatalen stellen, um es mit seinem Konsequenzen zu bewältigen, oder ob wir klein beigeben und hadern und jammern. Das Annehmen und Nutzen unserer Handlungsmöglichkeiten bringt uns zurück in unsere Verantwortung. Wir werden wieder zu den Gestaltern unseres Lebens, die den Kurs im tosenden Meer mit seinem Auf und Ab steuern. Wir müssen den Wellengang so hinnehmen wie er ist und unsere Aktionen an ihn anpassen. Wir können dabei den Naturgewalten unsere Kräfte entgegensetzen und in ein Spiel eintreten, in dem wir unsere Fähigkeiten unter Beweis stellen können.

Mit jeder Übernahme der Verantwortung nach einem Schicksalsschlag gewinnen wir mehr Schicksalskompetenz dazu und wachsen in Weisheit und Gelassenheit. Wir erkennen deutlicher die Grenzen zwischen dem Kontrollierbaren und dem Nicht-Kontrollierbaren und können so das in unserem Leben zum Besseren wenden, das unter unserem Einfluss steht, und das in Demut akzeptieren, was einer höheren Regie unterliegt.

Zum Weiterlesen:

Die Macht des Schicksals und ihre Grenzen
Unser Schicksal annehmen

Freitag, 30. Juni 2023

Der "Mainstream" als Kampfbegriff

Mit dem Begriff „mainstream“ bezeichnen wir einen Trend, eine Mehrheitsmeinung, eine Strömung in der Gesellschaft. In der Kultur wird er oft für den Populargeschmack verwendet, also für das, was den meisten gefällt. Es kommt dann immer wieder dazu, dass sich Gegenströmungen entwickeln, die dem populären Massengeschmack entgegen gerichtet sind, wie z.B. die Punk-Bewegung, die sich als Kontrast zur Pop-Kultur verstanden hat. Alles, was dem Mainstream zugeordnet wird, ist aus der Sicht der neuen Richtung per se schon schlecht. 

Es ist die Dynamik von Durchschnitt und Avantgarde, die sich in vielen kulturellen Phänomenen widerspiegelt und die die kulturelle Entwicklung vorantreibt. Die Minderheiten werden zunächst kritisiert und angegriffen, was sie zu einer weiteren Radikalisierung treibt, bis das Neue irgendwann in den Mainstream übernommen wird. Zerschlissene Jeans waren zunächst Notwendigkeiten für arme Menschen, die sich keine neue Kleidung leisten konnten, dann der provokante Ausdruck des Außenseitertums in einer Protestbewegung und schließlich ein Modeaccessoire, mit dem sich die Wohlhabendsten schmücken. 

Jeder neue Trend beginnt in einer Minderheit, dann bildet sich eine frühe Mehrheit, und sobald die Wirtschaft ein Geschäft wittert und die Werbung aufspringt, wird das, was vorher noch verächtlich abgewertet wurde, zum absoluten Muss für alle, und wer sich jetzt noch verweigert, gilt als fader Muffel. Inzwischen hat sich ganz wo anders schon wieder eine neue Minderheit gebildet und erschreckt die Leute im Zentrum der Gesellschaft mit einer neuen Provokation, bis auch dieses Phänomen wieder vermarktet wird und alle für hübsch befinden, was sie vorher als hässlich verabscheuten. 

Mainstream in der politischen Debatte

Vor einiger Zeit wurde der Mainstream-Begriff in die politische Debatte eingeführt, und zwar vor allem als Kampfbegriff. Die Medienlandschaft wird dabei in zwei Kategorien geteilt: Öffentlich-rechtliche Medien sowie Zeitungen und Magazine, die von Wirtschaftsgruppen finanziert werden, auf der einen Seite, und alternativen Informationsquellen. Diese Einteilung nehmen vor allem Personen und Gruppen vor, die glauben, sich in einer Außenseiterposition zu befinden. Sie verstehen sich als Avantgarde und denken, sie wissen und verstehen vieles besser als die einfältige Mehrheit.

Der Vorwurf der Manipulation

Deutlich hervorgetreten ist dieses Phänomen vor fast zehn Jahren, als Russland 2014 die Krim annektierte. Die Verurteilung dieser Aktion war im Westen einhellig und wurde auch von den meisten Medien übernommen. Andere wieder vermuteten eine mediale Gleichschaltung hinter dieser Einhelligkeit und suchten alternative Sichtweisen, wie sie z.B. von den russischen Medien angeboten wurden. Auf diese Weise konnte die russische Aggression entschuldigt werden, die einen Bruch des Völkerrechts bedeutete und die erste militärisch erzwungene Gebietserweiterung in Europa nach dem zweiten Weltkrieg war. Die Entgegensetzung von Mainstream und alternativen „Wahrheiten“ wurde zu einem politischen Kampfmittel.

Die Notwendigkeit der Medienkritik

Die Suche nach alternativen Sichtweisen ist an und für sich eine Form der Bewusstseinserweiterung und ist ein wichtiger Bestandteil jeder wissenschaftlichen Forschung. Sie würdigt die Unterschiedlichkeit der Menschen und das kreative Potenzial, das im Eröffnen von neuen Perspektiven steckt. Eine konstruktive Medienkritik ist ein zentrales Element in der Demokratie, in der die verschiedenen Medien eine tragende und korrigierende Rolle spielen sollen, aber oft durch wirtschaftliche Verflechtungen bestimmte Interessen vertreten. Dann bleibt die objektive Berichterstattung auf der Strecke und die Informationen werden gefiltert. Die Medien können ihre aufklärende Rolle in der Demokratie nur spielen, wenn sie unabhängig sind, und die Medienkritik muss auf interessengeleitete Meinungsbildung aufmerksam machen und einseitige oder ideologisch gefärbte Berichterstattungen analysieren und ergänzen. Sonst gelten die Aussagen von Marx und Engels: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken.“

Deshalb ist es autoritären Führungspersonen, die demokratisch an die Macht kommen, ein wichtiges Anliegen, die Medien zu kontrollieren und unter ihren Einfluss zu kriegen, damit sie ihnen nicht mit lästiger Kritik in die Suppe spucken, sondern beim Machterhalt dienlich sein sollen. Beispiele aus Ungarn und der Türkei zeigen, wie erfolgreich diese Strategie ist, wenn sie konsequent durchgezogen wird. Die Mächtigen sind kaum zu entthronen, weil ihre Gegner in den Medien kaum am Rande vorkommen und die meisten Leute nur mehr an einen Informationskanal angeschlossen sind.

Medienkritik als Gesellschaftskritik

In der politischen Debatte wird die Kritik an  bestimmten Medien allerdings oft mit grundlegenden Kritikpunkten vermischt. Alternative Narrative werden gerne mit einem höheren Wahrheitsanspruch verbunden als die „offizielle“ Erzählweise, also jene, die von den „Mainstream-Medien“ angeboten wird. Der Kritikansatz dahinter zielt auf die Macht in der Gesellschaft, die einem homogenen Block zugeordnet wird, der alles umfasst, was aus der Sicht der eigenen Ideologie als menschenfeindlich und demokratiebedrohlich angesehen wird. Deshalb ist auch die Rede von den „Systemmedien“ oder von der „Lügenpresse“ (Begriffe aus der NS-Propaganda), also gewissermaßen die Sprachrohre der Eliten, von denen behauptet wird, dass sie das System steuern. 

Das antielitäre Misstrauen ist ein wichtiges Korrektiv gegen die Machtanhäufungen bei denjenigen, die schon am meisten Macht haben. Aber oft fehlt die differenzierte Analyse und die Überprüfung der Fakten, und es werden Informationen schon allein deshalb in Bausch und Bogen als unwahr etikettiert, weil sie aus einem bestimmten Kanal kommen.

Die Wahrnehmung der Medienlandschaft als Block oder Koloss, als homogene, gleichgeschaltete Meinungsmache, die nichts anderes neben sich zulässt und jede Kritik diffamiert, ist einseitig und ideologiegesteuert. Wenn dahinter noch anonyme Drahtzieher angenommen werden, die alle Fäden in der Hand haben und die Welt dirigieren, dann sind wir in der verworrenen Welt der Verschwörungstheorien gelandet. Der Übergang von einer grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber den Medien zu solchen Theoriegebäuden ist oft fließend. Unbemerkt wird der Boden der Realität verlassen und durch Fantasien und Projektionen ersetzt.

Der Stolz des Besserwissens

Es ist ein Zeichen eines übertriebenen Stolzes, über „besseres“ Wissen zu verfügen als die „dumme Masse“, die nur nachbetet, was ihnen die Meinungsmacher vorkauen. Man bezieht sein Wissen nicht aus einem Einheitskanal, sondern aus ausgewählten und besonderen, also auch elitären Quellen, die angeblich nicht der Machtkontrolle unterliegen, die aber im Dunklen bleiben. 

Dieser Stolz wirkt dabei mit, dass dieses Wissen mit allen Mitteln verteidigt und allen anderen mit missionarischem Eifer gepredigt wird. Allzu schnell wird es zur Überzeugung und schließlich noch zu einem Bestandteil der eigenen Identität. Dann darf es keine Zweifel mehr geben, dann ist jede Gegenstimme ein Beweis für die Manipulation durch die bösen Elitemedien.

Aufklärung und Wissenschaft

Das Pathos der Aufklärung hat allerdings nur seine Berechtigung, wenn die Quellen für die verbreiteten Ansichten offengelegt sind und die Faktenlage einer Überprüfung standhält. Wirkliche Aufklärung unterliegt den Standards der Wissenschaftlichkeit: Jede Theorie muss grundsätzlich falsifizierbar sein und ihr Zustandekommen muss nachvollziehbar sein. Alle Aussagen gelten vorläufig, bis sie durch bessere ersetzt werden. Eine Theorie der Aufklärung kann nur besser sein als eine andere, indem sie der Realität näherkommt, aber verfügt immer nur über einen relativen Wahrheitsgehalt. 

Das sind die Ansprüche, denen eine aufgeklärte Medienkritik folgen sollte. Pauschale Abwertungen mit Kampfbegriffen wie Mainstream-Lügen und ähnliches gehören auf ideologische Streitbühnen, in denen eingeschworene Meinungsblasen aufeinandertreffen, die sich ihre Auseinandersetzungen liefern, ohne in der Erkenntnis weiterzukommen.


Samstag, 17. Juni 2023

Über das Leben mit Widersprüchen angesichts der Klimakrise

Die Klimakrise hält allen einen Spiegel vor. Unsere moderne Lebensweise kommt mit all ihren Aspekten auf den Prüfstand. Nachdem klar ist, dass es diese Lebensweise ist, die die Erderwärmung mit all ihren bekannten und unbekannten Konsequenzen nach sich zieht, ist jede/r gefordert, seinen/ihren Beitrag zur Treibhausgasemission zu überdenken. Es gibt den ökologischen Fußabdruck als Abschätzungs- und Berechnungsmöglichkeit, wie hoch der eigene Anteil an der Klimafehlentwicklung ist. Er wird in gha gemessen: Ein „gha“ entspricht einem Hektar weltweit durchschnittlicher biologischer Produktivität, etwa für Ackerbau, Holzwirtschaft, Energiegewinnung. Bei fossilen Energieträgern wird die Fläche errechnet, die nötig ist, um die bei der Verbrennung entstehenden Emissionen von Kohlendioxid durch Wälder und Ozeane zu binden, ohne das Klima zu gefährden (Quelle).  Er liegt in Österreich bei 6 gha (Europäischer Durchschnitt 4,8 gha). Dieser Wert bedeutet, dass wir mit dem Vierfachen dessen leben, was uns dieser Planet zur Verfügung stellt, Tendenz steigend. Wir leben also so, als hätten wir noch drei weitere Planeten zur Verfügung, nachdem wir unseren abgewirtschaftet haben. Ohne mit der Wimper zu zucken, leben die meisten von uns in einer unbekümmerten Selbstverständlichkeit, als ob es kein Morgen und keine Verantwortung für die Zukunft gäbe.  

Diese Sorglosigkeit gelingt uns nur dann, solange wir uns nicht mit dem beschäftigen, was uns die Wissenschaften schon lange auf den Tisch gelegt haben, was wir uns die Nachrichten präsentieren und was wir selber an Klimaveränderungen wahrnehmen. Wir brauchen in diesem Fall eine dicke Haut zur Immunisierung gegen das Offenkundliche und zum Verdrängen unserer Zuständigkeit. Wenn wir hingegen zur Kenntnis nehmen, wie es um die Welt steht, erkennen wir sofort, in welchen Widersprüchen wir durch unsere Lebensweise stecken – in die wir uns immer tiefer verstricken wie die Fliege, die mit jeder Flügelbewegung von immer mehr Spinnenfäden umfangen wird, die ihr schließlich das Leben kosten. 

Es gibt verschiedene Abwehrformen gegen diese unangenehme Selbstprüfung, die mit Schamgefühlen konfrontiert. Auf diese verhängnisvollen Zusammenhänge bin ich schon in den vorigen Blogartikeln eingegangen. Sie haben alle mit Selbsttäuschungen und Illusionen zu tun. 

Die Unvermeidbarkeit von Widersprüchen 

Selbst wenn wir wissen, was es zu wissen gibt, und das Wissen ernstnehmen, können wir nicht immer so leben, wie es für das Überleben der Menschheit wichtig wäre. Wir sind Wesen mit den verschiedensten Bedürfnissen, Interessen und Werten auf den verschiedensten Ebenen. Die Klimafrage ist nur eine von ihnen, obgleich in einem bestimmten Sinn die wichtigste. Aber sie steht in Konkurrenz mit anderen Ebenen und bekommt deshalb im inneren Abstimmungsprozess nicht immer die oberste Priorität. Es scheint immer wieder akutere Probleme zu geben, die zuerst angegangen werden sollten. Die Klimakrise mit ihren langsamen Verläufen und ihren punktuell wahrnehmbaren Auswirkungen zieht da häufig den Kürzeren. Also fahren wir mit dem Auto, weil es schneller geht, obwohl sich der Weg auch klimafreundlicher bewältigen ließe, wir uns aber die Zeit nicht nehmen oder glauben, sie nicht zu haben.  

Aus der Theorie der kognitiven Dissonanz wissen wir, dass wir sehr ungern mit uns selbst im Widerspruch sind. Die Theorie besagt, dass wir Entlastungsgründe erfinden, wenn wir merken, dass unser Handeln nicht mit unseren Werten übereinstimmt. Wir wollen in Übereinstimmung mit unseren Werten leben, sonst meldet sich die Scham. Gelingt uns das nicht, neigen wir zu Selbsttäuschungen, um die innere Spannung und das Schamgefühl in uns abzuschwächen. Beispielsweise wissen wir, dass das Fliegen umweltschädlich ist. Dennoch wollen wir aus irgendwelchen Gründen an einen fernen Ort gelangen und entscheiden uns für den Flug und gegen unsere umweltbezogene Werthaltung. Um die Dissonanz mit uns selber aushalten zu können, schwächen wir sie ab, indem wir uns z.B. vergegenwärtigen, was wir alles für die Umwelt tun, oder indem wir uns einreden, dass wenn nicht wir fliegen würden, jemand anderer unseren Platz einnähme, was dann wieder aufs Gleiche hinausliefe. Oder wir weisen darauf hin, dass andere viel mehr als wir selber das Flugzeug nutzen usw. Natürlich sind all diese Argumente Ausreden, mit denen wir uns vor unserer eigenen Verantwortung drücken. Aber es sind Selbsttäuschungen, die die kognitive Dissonanz in uns selber verringern. Es ändert sich nichts an der Realität und an dem Schaden, den wir anrichten, nur das schlechte Gewissen wird schwächer. 

Widerspruchsbewusstsein 

Die Dissonanzreduktion, also die Verringerung der inneren Spannung zwischen unserem Tun und unseren Werten, erfolgt durch Selbstmanipulation. Wir lügen uns in unsere eigene Tasche, und das ist fatal, weil wir auf diese Weise unser umweltschädliches Verhalten weiter betreiben. Wir entkommen dieser Selbsttäuschung, die meist unbewusst und automatisch abläuft, indem wir uns der Widersprüche stellen und Verantwortung übernehmen, statt uns Ausreden zurechtzulegen. Sobald uns die Widersprüche bewusst werden, in die wir uns verstricken, ist nicht alles verloren. Denn wir spüren die Schamlast, die darin besteht, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden und mit den eigenen Idealen im Konflikt zu sein. Wir nehmen diese Last auf unsere Schultern.  Sie wirkt wie ein Stachel im Fleisch und motiviert uns, ein andermal mit mehr Achtsamkeit auf die Bedürfnisse der Natur zu handeln. Wir stellen uns der Scham, statt sie wegzudrängen, und nehmen das Leid auf uns: das Leid, das wir der Natur und zukünftigen Generationen zufügen und das das Leben anderer und zukünftiger Menschen belastet, ohne dass wir billige Ausflüchte suchen uns mit Scheinargumenten aus unserer Verantwortung herausreden. 

Wenn wir erkannt haben, dass ein widerspruchsfreies Leben gar nicht möglich ist, fällt es uns leichter, uns selbst in unserer Widersprüchlichkeit anzunehmen. Wir sind nie zu hundert Prozent mit uns selber in Übereinstimmung, und es wäre ein perfektionistischer Anspruch, eine solche absolute Authentizität jemals zu erreichen. Unsere innere Widersprüchlichkeit ist eine Facette unserer Fehleranfälligkeit, unserer Unvollkommenheit.  

Das heißt nicht, dass wir uns auf unseren Widersprüchen ausruhen und unsere Diskrepanzen kultivieren sollten, um uns vor der Verantwortung zu drücken, die mit jedem handeln verbunden ist. Es geht vielmehr darum, die Spannungsfelder, die wir durch unser Handeln aufbauen, bewusst anzuerkennen und daraufhin die Kraft zu mobilisieren, die wir brauchen, um diese Spannungen zu verringern und unser Handeln mehr unseren Werten und Idealen anzunähern.  

Wir leben in Umgebungen, die auf hohen Ressourcenverbrauch ausgelegt sind. Damit ist es uns unmöglich, völlig klimaneutral zu leben. Wir können nur das Maß bestimmen, nach dem wir die Umwelt belasten und für uns selber entscheiden, wieweit wir aus diesen Zusammenhängen aussteigen wollen, im Bewusstsein, damit den Widersprüchen nicht zur Gänze zu entkommen, aber die implizite Schambelastung ein Stück zu verkleinern.  

Wir können vielleicht als Einzelne eine klimaneutrale Lebensweise verwirklichen, indem wir auf Auto- und Flugreisen verzichten und unsere Lebensmittel weitgehend selber produzieren, unsere Kleidung selber herstellen usw. Allerdings befinden wir uns dann in einer privilegierten Position, denn nur wenige könnten sich eine derartige Form der autarken Subsistenzwirtschaft leisten. Nicht einmal in unseren Breiten stünde genug fruchtbares Land zur Verfügung, dass alle auf derartigem Niveau ihren Lebensunterhalt sichern könnten. 

Sobald wir irgendwo einkaufen, wirken wir schon mit am exzessiven Ressourcenverbrauch der globalisierten Wirtschaft. Beinahe jede Form von Konsum, außer vielleicht der Einkauf beim benachbarten Bauern, ist belastet von energieintensiver Herstellung, Verbrauch von knappen Rohstoffen und Transportaufwand. Wenn dazu noch unsoziale Arbeitsbedingungen in weniger entwickelten Ländern kommen oder Materialen verwendet werden, die mit umweltverschmutzenden Methoden gewonnen werden, sind wir mitbeteiligt an der Klimakrise. 

Das Leben mit Ambivalenzen

Mit Ambivalenzen leben, Widersprüche aushalten, ohne sie wegzukürzen oder schönzureden, gibt eine besondere Kraft, die gerade angesichts einer sich mehr und mehr verbreiteten Hilflosigkeit und Ignoranz notwendig ist. Das andere ist, dass wir diese Kraft dafür brauchen, uns so weit als möglich zu informieren, unseren Konsum so weit wie möglich zu reduzieren und die Nachhaltigkeit in jede Konsumhandlung mit höchster Priorität versehen. Nur die Übernahme unserer persönlichen Verantwortung verhilft zur uns zu unserer Würde, zugleich folgt daraus genau das, was wir, und nur wir beitragen können, um die Überlebensfähigkeit der Menschheit zu sichern. 

Zum Weiterlesen:
Privileg Flugreisen
Pubertärer Wachstumswahn und die Klimakrise
Die Wissenschaftsskepsis und das Versagen der Klimapolitik
Realoptimismus angesichts der Klimakrise

 


Samstag, 3. Juni 2023

Die Schwäche der Demokratie angesichts der ökologischen Herausforderungen

Die Form der Demokratie, wie sie in den meisten westlichen Ländern praktiziert wird, ist nur sehr eingeschränkt dafür geeignet, die komplexen Herausforderungen der Klimakrise zu meistern. Diese Regierungsform „belohnt“ kurzfristig wirksame Maßnahmen, die bestimmte Wählergruppen begünstigen, enthält aber nur wenige Anreize für das Verfolgen langfristiger Strategien, die aktuell viel Geld kosten und deren Nutzen erst in fernerer Zukunft eintreten wird. Bei den nächsten Wahlen, die nach vier und fünf (in manchen Staaten in viel kürzeren Intervallen) stattfinden, honorieren die Wähler den für sie unmittelbar spürbaren Gewinn und nicht das Gefühl, dass für die nächste oder übernächste Generation etwas Gutes geschehen ist oder zumindest Schaden abgewendet wurde. Deshalb ist die politische Rhetorik voll von Ausreden und Selbsttäuschungen, vom Wecken illusionärer Hoffnungen und vom Verharmlosen der erwartbaren und der schon sichtbaren Folgen der Schädigungen der Erdatmosphäre. Kein Politiker wagt es, vom Ernst der Lage zu reden, obwohl allgemein bekannt ist, dass der Schaden nicht mehr abgewendet, sondern nur abgemildert werden kann; niemand will von künftigen Katastrophen hören oder jemanden wählen, der davon redet. Kein Politiker kann Wähler gewinnen, der die Menschen darauf vorbereitet, sich künftig mit verringerten Lebensmöglichkeiten zu begnügen. Vielmehr wird versprochen und versprochen, was nicht eingehalten werden kann, mit der Hoffnung, dass die Leute, sobald sie gewählt haben, vergessen werden, was ihnen verheißen wurde. 

Also wird nur allgemein mittels leerer Lippenbekenntnisse der Eindruck erweckt, dass ein paar Anpassungen des Systems (ein bisschen weniger Plastikverbrauch, ein bisschen mehr E-Mobilität usw.) und die zukünftige Technologieentwicklung dafür ausreichen würden, dass unser Leben ohne jede Einschränkung weitergehen wird und der Wohlstand beständig weiter steigen wird. Die Politiker täuschen sich selbst und ihre Wähler, die ihnen ihrerseits wieder zugutehalten, dass sie getäuscht werden. Auf diese Weise sprechen sich die Politiker selbst frei von der Verantwortung, die sie als Gesetzgeber hätten, langfristig für das zukünftige Wohl der Staatsbürger zu sorgen. Die Leute freuen sich über Ausreden, weil sie ihr Leben nicht ändern müssen, und die Politiker sind froh, weil sie keinen Mut für unpopuläre Maßnahmen aufbringen müssen. Beide Seiten sind insgeheim erleichtert, weil sie sich der Scham nicht stellen müssen, die mit dem Versäumen der Verantwortungsübernahme verbunden ist, sondern sich gegenseitig versichern, dass alles ja nicht so schlimm ist und auch nicht so bald schlimmer werden wird, dass es also keinen Grund für Schamgefühle gibt.

Das Ausspielen von Problembereichen

Viel Energie wird in den politischen Debatten damit vergeudet, Problemzonen gegeneinander auszuspielen. Es sind Kurzsichtigkeiten, die Formen der Schamabwehr darstellen: Armut gegen Klimaschutz (wir müssen zuerst die Armut bekämpfen, dann können wir uns um das Klima kümmern), Wirtschaftswachstum gegen Klimaschutz, Flüchtlingspolitik gegen Klimaschutz, Friedensstiftung gegen Klimaschutz etc. Je nach parteipolitischer Präferenz wird das eine oder das andere Thema benutzt, um die dringend notwendigen Klimaschutzmaßnahmen zurück zu reihen. Wir verstehen schon längst, dass die Klimaveränderung vor allem die sozial Schwächeren treffen wird, dass die Verknappung von Ressourcen zu Kriegen führen wird, dass das Wirtschaftswachstum die Klimafrage verschärft und dass Klimanotstände Flüchtlingsströme auslösen werden. Alles ist miteinander verflochten, und die Schädigungen, die wir den Systemen der Natur zufügen, stehen im Zentrum. Denn alle anderen Bereiche sind betroffen, wenn wir ihnen die Lebensgrundlagen entziehen.

Erst das Annehmen der Scham ermöglicht die Einsicht, dass alle Themen untereinander zusammenhängen. Jeder der politischen Krisenbereiche ist mit Schaminhalten verknüpft, und ohne diese emotionalen Gewichte anzusprechen und öffentlich zu machen, wird es in keinem der Themen zu nachhaltigen Lösungen kommen. Andererseits hat die Klimathematik den Rang einer Metakrise, die alle anderen Politikbereiche verschärft – oder, wenn es dort zu zielführenden Maßnahmen käme – erleichtert. Die Konzentration aller Kräfte auf die Schadensbegrenzung durch die Erderwärmung würde alle anderen Konfliktfelder entlasten. 

Die unentbehrliche Demokratie

Doch bei aller Mangelhaftigkeit der Demokratie in Hinblick auf die Problematik der Klimaveränderung und vieler anderer ökologischer Problemzonen verfügen wir über keine bessere Regierungsform. Manche, die eine Ökodiktatur fordern, übersehen, dass Diktaturen zu Korruption und zum Machtmissbrauch neigen und dass es im Belieben der jeweiligen Diktatoren liegt, ob sie sich für die Natur einsetzen oder nicht. Es gibt immer wieder Beispiele von Politikern, die mit liberalen Ideen angetreten sind und dann, sobald sie an der Macht waren, nur mehr illiberale Gesetze erlassen haben. Ähnlich könnten Leute, die mit ökologischen Sprüchen die Macht erringen, diese dann mit gegenteiligen Maßnahmen absichern. Statt nach „starken Männern“ zu rufen, sollten wir danach trachten, die Demokratie mit Instanzen, die für die Nachhaltigkeit zuständig sind, zukunftsfit zu machen.

Dazu gehören demokratisch besetzte Einrichtungen, die alle gesetzlichen Initiativen in Bezug auf die Auswirkungen zur Erderwärmung bewerten und z.B. Ausgleichsmaßnahmen einfordern, wenn bestimmte Gesetzesvorhaben zu einer negativen Klimabilanz führen. Das  Ziel müsste sein, dass der Überverbrauch von Ressourcen eingedämmt wird und nur mehr Maßnahmen eingeführt werden dürfen, die klimaneutral sind. Die Kreislaufwirtschaft, die unser Überleben als Menschheit auf diesem Planeten sichern könnte, kann nur demokratisch eingeführt und kontrolliert werden. 

Demokratie der Nachhaltigkeit

Es ist für eine Änderung der demokratischen Strukturen im Sinn einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Politik notwendig, dass mehr und mehr Menschen erkennen, wie zentral und fundamental die Bedrohung der Lebensbasis durch die Schädigungen der Umwelt und der Erdatmosphäre ist. Es muss das Problembewusstsein in der Bevölkerung steigen, bis eine genügend große Mehrheit das Bewältigen der ökologischen Probleme als Priorität erkannt hat, bis sehr vielen klar geworden ist, dass hier die Schlüsselstelle liegt, um die sich alles dreht und an der angesetzt werden muss. Dafür brauchen wir eine solide und breit aufgestellte Bildung, vernunftgeleitete Diskurse und viel kritische Aufklärungsarbeit, ein Durchbrechen verschiedener Ideologien und Verschwörungsmythen, ein Überwinden der Wissenschaftsskepsis und –feindlichkeit und ein Ernstnehmen der sichtbaren Folgen der Erderwärmung, die wir überall auf der Welt beobachten können. Wir brauchen auch den Mut, uns den Herausforderungen zu stellen und mit Gewohnheiten zu brechen und unsere Lebensweise den Umständen anzupassen. Diesen Mut gewinnen wir, wenn wir uns den unangenehmen Scham- und Schmerzgefühlen stellen, individuell und kollektiv. 

Zum Weiterlesen:

Klimakrise und kollektive Scham
Pubertärer Wachstumswahn und die Klimakrise
Die Wissenschaftsskepsis und das Versagen der Klimapolitik
Realoptimismus angesichts der Klimakrise