Donnerstag, 1. Juni 2023

Klimakrise und kollektive Scham

Die Zerstörung der Erdatmosphäre ist wohl die größte Krise, die die Menschheit zu verantworten hat. Wir haben gemeinschaftlich versagt, die Erderwärmung rechtzeitig zu verhindern. Der Prozess ist im Gang, und selbst wenn sofort alle Emissionen von CO2 beendet würden, wird es weiter wärmer werden und die Meeresspiegel werden über Jahrzehnte weiter ansteigen. Alles, was uns jetzt noch bleibt, ist das verantwortungsvolle Umgehen mit der Krise und das Begrenzen der Schäden. Doch selbst da passiert fast nichts, verglichen mit den Schädigungen und Verschlechterungen, die sich laufend akkumulieren. 

Das Versagen betrifft im besonderen Maß die hoch entwickelten und reichen Länder und ihre Bewohner, die einerseits den höchsten Anteil an der Erderwärmung zu verantworten haben und andererseits über ausreichende Mittel verfügten, um wirksame Gegenmaßnahmen einzuleiten und der Richtung auf eine globale Destabilisierung des Klimas gegenzusteuern. Sie haben sich allerdings als besondere Bremser profiliert, ängstlich darauf bedacht, die eigenen machtpolitischen und ökonomischen Vorteile bzw. Bequemlichkeiten nicht aufs Spiel zu setzen. 

Jedes Versagen hat Scham zur Folge. Kollektives Versagen führt zu kollektiver Scham, und nicht zugelassene und einbekannte Scham führt zur Schamabwehr, die hohe Kosten verursacht und viele Energien verbraucht. Nicht nur innerpsychisch verursacht jede Verdrängung von Schamgefühlen nachhaltige Störungen und Irritationen, sondern auch das Kollektiv zahlt einen immensen Preis. Die Klimafrage ist stets im Hintergrund präsent, was immer im Vordergrund vorgespielt wird. Je länger die Maßnahmen hinausgezögert werden, desto höher sind die realen Kosten und desto weniger wirksam sind die Anwendungen. Wie auch hier sichtbar, erhöht jede Schamabwehr die Schambelastung.

Die Macht der Scham und die Unfähigkeit in der Krise

Die Schere klafft immer weiter auseinander. Ein paar gutgemeinte kosmetische Gesetze beruhigen das Gewissen, sie verlangsamen aber bisher nicht einmal die Entwicklung, weil auf der anderen Seite weiter Abgase produziert werden. Eine Kreislaufwirtschaft, die alles, was sie verbraucht, wiederherstellt, ist nur in winzigen Ansätzen sichtbar, während der überwiegende Großteil der Wirtschaft ressourcenintensiv, also mit negativer Klimabilanz weiterläuft. Im besten Fall gelingt es, den an sich schon umweltschädlichen Status Quo aufrechtzuerhalten.

Es scheint, als hätte die Schamabwehr die Verantwortlichen, und das sind im Grund wir alle, fest im Griff. Das Ignorieren und Verleugnen all der Forschungsergebnisse, Modellrechnungen, Messdaten (Meldung vom 1. Juni 2023: Die CO2-Konzentration auf der Messstation in Hawaii hat einen noch nie dagewesenen Maximalwert erreicht) und selbst der eigenen Erfahrungen mit veränderten Klimaabläufen ist nur möglich und erfolgreich, weil die Scham, die sich dahinter verbirgt, so mächtig ist. Sie ist so leicht zu verdrängen, weil das individuelle klimaschädliche Verhalten so minimal erscheint. Ein Poster auf facebook hat das Tempo 130 auf den Autobahnen mit dem Hinweis verteidigt, dass eine Reduktion auf 100 km/h in Österreich nur 0,01 des weltweiten CO2-Ausstoßes einsparen würde, was vernachlässigenswert gering erscheint; allerdings umgerechnet sind das immerhin 5% der in Österreich verursachten Emissionen, in einem Land, in dem der Verkehr einen der Hauptfaktoren der Abgasproduktion darstellt (knapp hinter der Industrie). Offensichtlich dienen solche verharmlosende Zahlenspiele, die immer wieder von Lobbys und Interessensvertretung angestellt werden, der Schamabwehr im Dienst der eigenen Klientele, denen keine Verhaltensänderungen zugemutet werden müssen. Als Individuen greifen wir dann solche Scheinargumente auf, um unsere Scham abzuwiegeln und unser umweltschädigendes Verhalten vor uns selbst rechtfertigen.

Spielsucht und Problemignoranz

Wir befinden uns schon lange an einer Wegscheide und schaffen es nicht und nicht, in eine Richtung abzubiegen, die den sich drastisch verschlechternden Bedingungen gerecht wird und alles tut, um Abhilfe zu schaffen. Mit jeder versäumten Gelegenheit, den Weg in die Klimakatastrophe zu verlassen, wächst die Schambelastung und die Notwendigkeit, die Scham zu unterdrücken. Diese Entwicklung ist vergleichbar einem Spielsüchtigen, der am Roulette-Tisch sitzt und sich für jeden Verlust schämt, aber weiterspielt, weil die Hoffnung besteht, dass endlich einmal ein toller Gewinn all die Verluste und damit die Schamgefühle wettmacht. Als sein Geld ausgeht, nimmt er Kredite auf, die er wieder verspielt und ruiniert schließlich seine Existenz, im vergeblichen Versuch, der Scham zu entkommen, die ihn wegen seiner Sucht umklammert.

Wir tun mit dem weiter, von dem wir wissen, dass es schlecht ist, können aber nicht anders. Wir hoffen auf irgendein Wunder, eine bahnbrechende Erfindung, die unser Schicksal abwenden wird, auf Fehler in den Berechnungen oder darauf, dass alle anderen ihr Verhalten verändern werden, und nehmen währenddessen tagtäglich neue Kredite auf, indem wir auf Kosten unserer Nachfahren die Ressourcen dieser Erde plündern. Wir haben nichts, um die geborgten Güter zurückzuerstatten, denn sie werden in klimaschädliche Gase umgewandelt und in die Atmosphäre geblasen. Jeder Tag, den wir mit unseren klimaschädlichen Gewohnheiten verbringen, steigert die Schambelastung – und diese bewirkt, dass wir einfach weitermachen, als wäre nichts.

Spielsüchtige, die sich an den Rand ihrer Existenz bringen, sehen oft keinen anderen Ausweg mehr als den Selbstmord, weil sie unter der Last ihrer Scham zusammenbrechen. Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, dass sich die Menschheit in eine ähnliche Situation manövriert hat, in der sie sich selbst um ihre Lebensgrundlagen bringt, in der sie gewissermaßen ihren kollektiven Selbstmord in die Wege leitet. Sollte es nicht rechtzeigt gelingen, die Scham zu erkennen und ihre Macht zu brechen, auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene, dann wird die schrittweise Selbsttötung ungebremst weitergehen.

Den Bann der Scham lösen

Wie lösen wir uns aus dem Bann der Scham, in den wir uns selbst verstrickt haben? Es gibt nur einen Weg. Wir müssen uns die Scham und die Schande eingestehen, die es bedeutet, das Leben zukünftiger Generationen aufs massivste zu belasten und deren Lebenschancen zu verringern, zugunsten unserer eigenen Ego-Ziele. Wir müssen jede Form des Ausweichens und der Abwehr durchschauen und überwinden. Wir müssen uns selbst eingestehen, dass es ist, wie es ist, und es ist schlimm. 

Eine paradoxe und mysteriöse Eigenart des Menschlichen liegt darin, dass das Annehmen der Erfahrung der Scham, dieses würdelosen Zustands, zu einer echteren Form der Würde führt. Im Verfehlen des Menschlichen berauben wir uns unserer Würde. Sobald wir das Menschliche im Verfehlen akzeptieren können, kommt die Würde zurück, in einer neuen und vertieften Form. Versagen ist menschlich, Scheitern ist menschlich, ihr Eingeständnis bewirkt ein Wachsen an Selbststärke. Diese Kraft fördert das Umdenken und die Umorientierung, die radikale Änderung der Einstellung mit allen praktischen Konsequenzen, die der Wirklichkeit angemessen ist. 

Das Festhalten am Rechthaben oder am Gutsein angesichts des Schlimmen dagegen zementiert die gewohnten Verhaltensweisen ein und schneidet uns von der Realität ab. Realitätsuntauglich taumeln wir in die Krise und fühlen uns ohnmächtig und ausgeliefert, wenn sie uns am falschen Fuß erwischt. Vermutlich suchen wir dann die Schuldigen irgendwo anders. Sobald wir allerdings nach innen schauen, merken wir, dass wir selber die Schuldigen und die Betroffenen sind, und dass diese Einsicht unangenehme Schamgefühle nach sich zieht.

Das zweite Element der inneren Besinnung ist das Freilegen des Schmerzes. Es tut weh, sich einzugestehen, dass unwiderruflicher Schaden geschehen ist, der Menschenleben verletzt, in der Gegenwart und in der Zukunft, durch unser selbstsüchtiges Handeln. Die Scham und der Schmerz sind äußerst unangenehme Gefühle, die uns darauf aufmerksam machen, dass wir den Weg des Menschlichen verlassen haben. Wenn wir uns diesen Gefühlen stellen, wissen wir wieder, wo es lang geht und wie wir zu unserer Würde kommen.

Wir können die Herausforderungen der Zukunft nur bewältigen, wenn wir mehr Durchlässigkeit erwerben. Jede Scham- und Schmerzabwehr ist mit Verhärtung und Abkapselung verbunden, engt uns ein und macht uns schwach. Durch das Zulassen und Annehmen der Scham- und Schmerzgefühle wird es in uns weich und durchlässig. Wir öffnen uns wie von selbst für mehr Resonanz mit dem Lebendigen und Menschlichen, und die Resonanz öffnet für das Mitgefühl und die Solidarität.

Zum Weiterlesen:
Pubertärer Wachstumswahn und die Klimakrise
Die Wissenschaftsskepsis und das Versagen der Klimapolitik
Realoptimismus angesichts der Klimakrise


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