Mittwoch, 12. Juli 2023

Schicksal und Scham

Die Scham an der Schicksalsgrenze

Es gibt eine Scham, die entsteht, wenn wir ein Schicksal nicht als Schicksal akzeptieren und meinen, wir hätten etwas versäumt, das das Schicksal abgewendet hätte. Eine wichtige Grenze verläuft zwischen Verantwortung und Schicksal, zwischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren. Es ist die Grenze der Selbstmächtigkeit: Bis hierher kann ich wirksam sein und Einfluss ausüben. Darüber hinaus habe ich nichts mehr zu sagen.

Wenn uns diese Grenze nicht klar ist oder wenn wir sie unwissentlich überschreiten, öffnen sich Räume für Selbstzweifel und Selbstbeschuldigungen. Denn im Reich des Schicksals können wir mit unseren Ambitionen und Absichten nur scheitern. Es ist ein geheimnisvolles Reich mit Gesetzmäßigkeiten und Regeln, die uns nicht zugänglich sind und die wir einzig mit Demut zur Kenntnis nehmen können. Es gibt ja den Spruch: „Wenn du gegen Gott kämpfst, wirst du immer verlieren.“

Ausufernde Verantwortung

Alle Formen der Selbstinfragestellung sind Ausdruck von Scham. Die Scham sagt uns zweierlei: Du hast möglicherweise etwas falsch gemacht und Schuld auf dich geladen. Und dahinter: Du hast die Grenze zwischen Schicksal und Verantwortung überschritten und deine Macht über das zulässige Maß hinaus ausgedehnt und erweitert. Denn wenn wir uns vormachen, das Schicksal läge in unserem Verantwortungsbereich, machen wir uns zu Richtern oder Herrschern über das Schicksal. Wir stellen fest, das es seine Arbeit schlecht gemacht hat. Doch hat diese angemaßte Richterposition keinerlei Auswirkungen auf die Realität, denn sie richtet sich überhaupt nicht danach. Die einzige Konsequenz ist ein Konflikt in uns selbst.

Zu solchen selbstaggressiven Selbstanklagen kommt es vor allem bei existentiellen Erfahrungen, die uns schwer treffen und unsere Kapazität im Akzeptieren überfordern. Es sind z.B. Grenzerfahrungen, die mit schweren Krankheiten oder mit dem Tod verbunden sind. Viele Menschen neigen dazu, sich selbst Vorwürfe zu machen, wenn wenn nahestehende Personen sterben. Diese Vorwürfe sind dann von Scham- und Schuldgefühlen begleitet. Weil es schwerfällt, das Schicksal zu akzeptieren und in die Haltung der Demut zu gehen, wird der innere Konflikt gewählt, durch den noch der Schein der Handlungsfähigkeit aufrecht bleibt. Wir tun so, als könnten wir die Realität nach unseren Vorstellungen fabrizieren, indem wir sie in unserer Fantasie umgestalten. Die Ohnmacht, die mit dem Annehmen des Schicksals verbunden ist, ist mit so großer Angst und so starken Schamgefühlen verbunden, dass wir alles Mögliche veranstalten, was uns scheinbar aus der Ohnmacht befreit, und sei es auch nur eine Scheinermächtigung.

Stirbt ein Mensch, der einem nahe steht, so kann schnell der Gedanke auftauchen, etwas versäumt oder übersehen zu haben, was das Leben des Menschen verlängert oder den Tod abgewendet hätte. Die Selbstvorwürfe können auch auf etwas gerichtet sein, was sich diese Person noch gewünscht hätte und was ihr nicht erfüllt wurde. Oder darauf, dass man beim Tod nicht anwesend sein und sich deshalb nicht auf die richtige Weise verabschieden konnte. Solche Gedanken sind mit unangenehmen Gefühlen und inneren Konflikten verbunden, die oft über längere Zeiten andauern und mit jeder Erinnerung an den Todesfall aktiviert werden. Die Scham über die eigene Fehlerhaftigkeit und Unachtsamkeit ist der zentrale Motor bei solchen Selbstgeißelungen. 

Identifikation mit einer Illusion

Die Sturheit, mit der wir oft am Nichtakzeptieren der Wirklichkeit und der Geschicke, mit denen sie uns konfrontiert, festhalten, hat mit Identifikation zu tun. Wir sind mit einer fantasierten besseren Version der Wirklichkeit identifiziert, mit der wir die misslungene Vergangenheit überschreiben wollen. Wir rufen sie uns wieder und wieder in die Vorstellung, nur um anzuprangern, was wir in der Vergangenheit falsch gemacht, übersehen oder versäumt haben. Damit agieren wir wie ein strenger und unerbittlicher Richter gegen uns selbst und verurteilen uns fortwährend zu einem miesen Selbstgefühl.

Wir verkennen dabei, dass dieser Teil von uns, der auf dem Richtstuhl sitzt, unsere Überheblichkeit repräsentiert. Er verhält sich wie eine Elterninstanz, die das Kind immer wieder wegen eines Fehlers beschimpft, herabsetzt und beschämt und selber nichts falsch macht. Es ist die Instanz, die nicht versteht, was im Kind abläuft und was es auf der emotionalen Ebene bräuchte. Jedes Nichtverstehen, jede Abwertung demütigt, und jede Demütigung verringert den Selbstwert, bis am Schluss eine resignative Depression steht.

Es gibt zwei Bereiche unserer Erlebenswirklichkeit: Das Kontrollierbare und das Unkontrollierbare, den Bereich, in dem wir Macht und Einfluss haben, und den anderen, in dem wir ohnmächtig, ausgeliefert sind, in dem wir dem unterworfen sind, was wir das Schicksal nennen. Im einen Bereich sind wir verantwortlich für das, was mit uns und um uns geschieht; im anderen Bereich wirken andere Kräfte und Mächte, jenseits unseres Wollens und unserer Einflussnahme, also auch jenseits unserer Verantwortung. Das Schicksal macht uns darauf aufmerksam, dass es unüberwindliche Grenzen unseres Könnens, Wissens und Beeinflussens gibt. Wir können z.B. den Zeitpunkt unseres Todes nicht steuern, nicht einmal den Ablauf und die Phasen unseres Sterbeprozesses.

Die säuberliche Unterscheidung zwischen diesen beiden Bereichen, eben zwischen Schicksal und Verantwortung ist wichtig für unsere Lebensqualität und für den Schutz vor toxischen Schamgefühlen und Selbstabwertungen. Denn sobald wir verstehen, dass es höhere Mächte sind, denen wir ausgeliefert sind, und wenn wir das Geschehen als Schicksal akzeptieren, lösen sich die Schuld- und Schamgefühle auf. Wir können das vergangene Ereignis besser verstehen und neu bewerten. Auf diese Weise schließen wir Frieden mit uns selbst und verabschieden das Geschehene in die Vergangenheit.

Wo beginnt die Verantwortung?

Das eigene Erleben ist das eigene Erleben, es ist folglich in dieser Hinsicht selbst erzeugt. Aber den Inhalt dieses Erlebens liefern Einflüssen der äußeren und der inneren Wirklichkeit. Die eigene Zutat besteht in der Interpretation, Bewertung und Kategorisierung. Die Inhalte selbst unterliegen nicht der Macht des eigenen Denkens oder Wollens, vielmehr erreichen sie das Bewusstsein vor jeder bewussten mentalen Aktivität. Sie sind also schon längst da, wenn unser Bewusstsein beginnt sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie werden immer erst nachträglich vom Denken bearbeitet und in die bewusste Innenwelt eingebaut.

Die Inhalte unseres Erlebens, Fühlens und Denkens gehören folglich zur Sphäre des Unverfügbaren. Der Bereich unserer Verantwortung beginnt erst dann, wenn das Erleben in unser Bewusstsein tritt. Erst ab diesem Moment können wir Einfluss nehmen und die Inhalte unseres Erlebens sowie das daraus abgeleitete Handeln steuern und verändern.

Der Raum, in dem unsere Verantwortung gefragt ist, ist relativ klein und wir überschätzen ihn meistens, vor allem wenn wir aus der Schule der Selbstkreatoren kommen. Wir können den Ansprüchen nicht gerecht werden, die die Theorien der universalen Selbstermächtigung vorschreiben. Und immer, wenn wir Erwartungen und Zumutungen nicht gerecht werden, folgt ein Schamgefühl.

Der Fatalismus

Es gibt auch die Haltung, die den Verantwortungsraum möglichst klein hält. Den Gegenpol zur Hybris der Selbstkreatoren („Ich schaffe alles mit der Kraft meiner Gedanken!“) bildet der Fatalismus, oft verbunden mit Bequemlichkeit und Faulheit. Wir können uns auch auf das Schicksal ausreden, statt aktiv zu werden: Alles ist Kismet, ich kann sowieso nichts ausrichten, weil alles vorherbestimmt ist (auch meine Bequemlichkeit oder Feigheit). Schon wieder habe ich eine Prüfung nicht geschafft. Da waren eben höhere Mächte gegen mich. Es ist wie es ist, damit muss man sich abfinden. Niemand kann von mir verlangen, etwas zu tun, was sowieso nichts wird. Es ist sinnlos, mich anzustrengen.

Auch hier zieht die Scham im Hintergrund die Fäden. Immer wenn die Übernahme der Verantwortung für das eigene Handeln eingeschränkt oder verweigert wird, geht es um ein mangelndes Selbstvertrauen und um einen niedrigen Selbstwert. Eigentlich traut sich die Person nicht zu, die Situation durch eigenes Handeln zu verbessern und rechtfertigt das Misstrauen in die eigenen Fähigkeiten mit der Sinnlosigkeit des Tuns. Es geht um eine erlernte Hilflosigkeit, um Ohnmacht, die aus Frustrationen stammt, die im eigenen Leben erlitten wurden. Es ist also eine Opferhaltung, die den Fatalismus kennzeichnet, und nicht die demütige Annahme des Schicksals dort, wo die eigene Handlungsmacht endet. Das Schicksal kann nicht mehr für Ausreden dienen, sobald wir erkannt haben, ab welchem Zeitpunkt wir das Steuerruder übernehmen müssen und können. Wir sind also verantwortlich für eine fatalistische Haltung, sobald sie uns bewusst wird, und nicht das Schicksal.

Die weise Unterscheidungsfähigkeit

Wie ziehen wir die Grenze in Weisheit? Woran können wir erkennen, was in unserer Einflusssphäre liegt und was sich ihr entzieht?

Die Unterscheidungskraft wächst erst auf dem Boden einer gereinigten Seele. Sie muss sich von frühen Prägungen und Fixierungen befreit haben, um klar zu erkennen, wo die eigene Gestaltungsmacht an ihre Grenze stößt. Diese Blockierungen können zum einen Verantwortungszuschreibungen sein, die in der Kindheit aufgeladen wurden und mit Scham- und Schuldgefühlen aufrecht geblieben sind. Zum anderen gibt es narzisstische Größenfantasien, mit denen wir uns in die Nähe eines allverantwortlichen Gottes versetzen. Schließlich hat auch der resignative Fatalismus mit seiner Verantwortungsverweigerung Wurzeln in unserer Lebensgeschichte.

Immer wenn wir bei der Erinnerung an schicksalhafte Ereignisse zu Schamgefühlen neigen, ist es gut, einen Blick in die eigene Biografie zu werfen. Denn solche Gefühle haben vermutlich ihren Ursprung in kindlichen Erfahrungen des Beschämt- und Beschuldigtwerdens. Es handelt sich also um Introjekte aus solchen Erfahrungen, mit deren Hilfe die innere Richterinstanz aufgebaut wurde, die seither akribisch nach allem Fehler- und Mangelhaften sucht, um es anklagen zu können.

Erst wenn der Blick auf die innere und äußere Realität geklärt und geweitet ist, zeigt sich, was wir an unserer Lebenssituation verändern können und was wir als unverfügbar annehmen und hinnehmen müssen. Es ist diese Erkenntnis, die uns die Last der Scham- und Schuldgefühle wegnimmt. Wir finden zurück zu unserer Würde und versöhnen uns mit unserer Geschichte. Wir können unsere Versäumnisse und Fehler als Teil unserer menschlichen Unvollkommenheit annehmen und daraus lernen.

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