Im psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich gibt es umfangreiche Kataloge von Störungen und Erkrankungen (ICD-10, DSM-5). Ist es wirklich der Fall, dass solche Krankheiten so eindeutig diagnostiziert werden können wie Heuschnupfen oder Beinbrüche? Schon im "rein" physiologischen Bereich gibt es alle möglichen Schwierigkeiten in der Diagnostik, die sich ins Unermessliche potenzieren, wenn der psychische Bereich dazukommt. Denn wir sind in diesem Bereich in hohem Ausmaß dynamisch und plastisch, verändern uns beständig und reagieren in den verschiedenen Umständen unterschiedlich. Hier durchgängige Verhaltens- und Erlebensmuster ausfindig zu machen ist sehr komplex und geht nur, wenn die betroffene Person mitmacht, indem sie ihr Befinden und ihren inneren Leidenszustand beschreibt.
Trotz dieser theoretischen und praktischen Schwierigkeiten nutzen wir Diagnosen wie verschärfte Formen der Bewertung. Wenn uns jemand aggressiv begegnet, bezeichnen wir ihn als Psychopathen, wenn jemand nicht angemessen auf uns reagiert, nennen wir sie hysterisch oder depressiv.
Sylvester Walch nennt das Schattenverschreibungen - Schatten, also unbewusste Anteile, die wir anderen Menschen unterstellen, weil wir aus irgendeinem Grund mit ihnen Schwierigkeiten haben. Die Benennung gibt uns die Sicherheit, dass es nicht an uns liegt und dass wir die andere Person einordnen können, sodass sie uns nicht gefährlich werden kann.
"Es ist wichtig, sich vor Schattenverschreibungen zu hüten. In der therapeutischen Arbeit ist das natürlich ein Thema ... Aber im normalen zwischenmenschlichen Kontakt soll das nicht geschehen, vor allem nicht in einer kämpferischen Art und Weise, wo ich dem anderen beweisen möchte, wie schlecht er ist. Denn sobald Schatten mit Bewertung zu tun hat - das gilt übrigens auch für Diagnosen -, wird es nicht mehr hilfreich sein, ihn zu erwähnen." (Sylvester Walch, Die ganze Fülle deines Lebens, Fischer & Gann 2016, S. 79)
Diagnosen umschreiben Störungsbilder. Sie machen aus einem vielfältigen und multidimensionalen Wesen ein eindeutig definiertes, aus etwas Fließendem etwas fest Umgrenztes. Der Mensch wird auf das reduziert, was bei ihm nicht optimal funktioniert: Du reagierst nicht so, wie es von einem Durchschnittsfall aus deiner Populationsgruppe erwartet werden könnte, folglich bist du ein Fall von ...., also ein minderes Exemplar, das noch unfertig ist und erst nach entsprechender Verbesserung in den Kreis vollwertiger Menschen aufgenommen werden kann.
Ingeborg Bachmann hat in dem beklemmenden Romanfragment "Der Fall Franza" das Schicksal einer Frau dargestellt, die von ihrem Mann, der Psychiater ist, diagnostiziert und analysiert wird. Sie scheint in seinen Notizen als krankheitswertiger Fall auf, der in einem "großartigen Versuch" psychologisch durchleuchtet wird, bis die Frau schließlich in eine Klinik eingewiesen wird.
Diagnosen sondern Menschen aus. Ihr Sinn wird damit begründet, dass sie Menschen behandelbar machen und damit dem Bestreben der Gesundheitsapparate entgegenkommen: Die Krankheit wird definiert, die entsprechende Behandlung angewandt, die Besserung oder Heilung dokumentiert. Je exakter die Diagnose, desto besser die Heilungschancen.
So einleuchtend diese Prozedur bei vielen körperlichen Erkrankungen sein kann, so irreführend ist es, sobald psychische Komponenten an der Krankheit beteiligt sind - und die Frage ist, ob solche Einflüsse nicht jedesmal mitspielen, wenn es zu irgendeiner Erkrankung kommt. Das mechanische Modell, das bei einer Blinddarmentzündung hilfreich ist, wird immer unbrauchbarer, je komplexer die Störung ist, je mehr also der psychische Bereich mit ins Spiel kommt.
Eine Diagnose zieht eine scharfe Grenze zwischen gesund und krank. Bis hierher ist jemand normal, jenseits davon ist jemand gestört. In der Wirklichkeit gibt es solche Grenzen nicht, vielmehr bestehen Kontinuitäten und graduelle Unterschiede. Es gibt gerade im Bereich psychischer Störungen viele Formen, die situationsabhängig zu Pathologie oder zu Unauffälligkeit neigen.
Bei unachtsam angewendeten Diagnosen handelt es sich um massive kategoriale Abwertungen, die die Person aus dem Zentrum der gesellschaftlichen Interaktion herausrücken als jemand, der eine gesonderte Behandlung notwendig hat. Diagnosen schaffen nicht nur Unterschiede von oben nach unten, wie sie schon in einfacheren Bewertungen vorgenommen werden: Du bist der Trottel, ich bin besser und dir damit überlegen und übergeordnet. Dazu noch grenzen sie horizontal aus: Sie machen einen Unterschied zwischen dem Zentrum, in dem sich das Gesunde und Normale aufhält, und dem Rand, an dem das Gestörte und Abnormale angesiedelt wird.
Aus vielen Gründen ist deshalb große Vorsicht geboten, solche Diagnosen anzuwenden. Sie sollten auf zwingende Notwendigkeiten beschränkt bleiben. Gesundheitssysteme müssen ihre Gelder verwalten und brauchen definierte Verwendungszwecke. Für diese Zwecke gibt es die Diagnoseschlüssel und -tabellen. Und wegen der heiklen Lage sind solche Befunde datenrechtlich vor Weiterverbreitung und Missbrauch geschützt.
Außerdem sind Diagnosen für die praktische Arbeit mit Patienten oder Klienten nicht brauchbar. Denn sie verhindern den Blick auf die Vielschichtigkeit, die jeder Mensch in sich trägt. Sie bewirken mentale Verhärtungen, starre Kategorisierungen, die der dynamischen Natur des Lebens nicht gerecht werden und damit auch einer inneren Weiterentwicklung hinderlich im Weg stehen können. Denn solche Etikettierungen werden leicht verinnerlicht, womit die Störung als Teil der Identität aufgebaut wird, bis die Identität die Störung stabilisiert.
Manchen Leidenden kann eine Diagnose entlasten. Das eigene Problem bekommt einen Namen, und es gibt andere, die an ähnlichen Symptomen leiden. Doch gilt dieser Nutzen nur, wenn die Diagnose in einem achtungsvollen Rahmen vermittelt wird und nicht wie ein Urteil von einer übergeordneten richtenden Instanz übergestülpt wird. Diagnosen sollten also nur in Absprache mit den betroffenen Personen zugeordnet werden. Keinesfalls ist es ethisch vertretbar, über andere ohne deren Einverständnis Diagnosen auszusprechen.
Diagnosen sind immer fehleranfällig. Diese bekannte Geschichte zeigt, was wir von der Stichhaltigkeit von Diagnosen halten können:
Zwei Psychiater, die sich nicht kennen, bekommen den Auftrag, jeweils den anderen, der schizophren sei, der aber behaupte, er sei Psychiater, zu behandeln. In den Gesprächen bestätigen beide die anfangs angenommene Schizophrenie. Beide Psychiater sind allerdings völlig normal, und die Situation zeigt die Absurdität von Voreinstellungen und Bewertungen.
Körperliche und seelische Erkrankungen: Zweierlei Maß
Warum tun wir uns leichter, körperliche Krankheiten zuzugeben als seelische? Warum haben wir mehr Mitgefühl und Verständnis, wenn über jemanden gesagt wird, er wäre schwer verkühlt als wenn gesagt wird, er leide an einer Zwangsstörung? Beides sind gestörte Funktionsabläufe in einem Organismus, beides bereitet den betroffenen Personen Leiden, und doch haben wir unterschiedliche innere Kategorien, in die wir die beiden Nachrichten einordnen: Wir gehen davon aus, dass Körperkrankheiten aus irgendwelchen Quellen entstehen, die nicht in unserer Macht liegen. Die Krankheit befällt uns und wir müssen schauen, wie wir damit fertig werden.
Bei Seelenkrankheiten nehmen wir an, dass die betroffene Person mangels Eigenverantwortung gestört ist (viel seltener sagen wir … erkrankt ist). Sie hat sich zu wenig „zusammengerissen", zu wenig angestrengt, sie hat zu wenig Eigeninitiative gezeigt usw. Sie ist also selber schuld. Deshalb gönnen wir ihr weniger Mitgefühl, sondern neigen eher zu Herablassung und Verachtung. Diese Gefühle geben uns die Sicherheit, auf der richtigen und gesunden Seite zu sein. Es scheint so, als würden uns solche Störungen mehr Angst machen als "einfache" körperliche Erkrankungen.
Auch aus der Geschichte gibt es viele Beispiele, die die Diskriminierung von Geisteskrankheiten belegen. Schizophrene wurden bis ins 19. Jahrhundert in Verliese eingesperrt. Alle möglichen grausamen Prozeduren wurden an ihnen erprobt, und im Nationalsozialismus wurden sie als lebensunwertes Leben ermordet.
Der Grund für diese merkwürdige Abwertung der seelischen Krankheiten liegt vermutlich darin, dass seelische Störungen das Sozialleben stärker gefährden als körperliche Erkrankungen. Wir können mit jemandem, der eine Grippe hat, weiterhin normal kommunizieren; seine Persönlichkeit bleibt von der Krankheit unverändert (so nehmen wir zumindest an) und der Heilungsprozess betrifft nur den Körper. Wir fühlen uns auch im Wesentlichen gleich mit uns selbst, wenn wir Kopfweh haben, während sich bei einer seelischen Störung häufig unser Selbstverständnis, also das, was wir von uns selber halten und wie wir zu uns selbst stehen, drastisch verändern kann. Und wir wirken anders auf andere, denn auch das Kommunikationsverhalten ändert sich. Die Irritation ist zweifach und verstärkt sich gegenseitig.
Wir können erst von dem an sich unsinnigen Wertungsunterschied zwischen körperlichen und seelischen Erkrankungen wegkommen, wenn wir selber bereit sind, seelische Störungen als das einzuschätzen, was sie sind: aus der Bahn gelaufene innere Regulationsmechanismen, genau wie bei den körperlichen Störungen. Und wenn wir erkennen, dass wir alle da und dort, in dieser oder jener Situation, unsere optimale Verfassung und Handlungsfähigkeit verfehlen. Dann wollen wir nicht gleich psychiatrisch diagnostiziert werden, sondern Verständnis und Respekt. So wird es uns leichter fallen, auf Zuschreibungen, die aus unserer eigenen Wertungsorientierung stammen, zu verzichten und den Menschen vor jede Diagnose zu stellen und in seinem besonderen Wert anzuerkennen.
Sonst wird Karl Kraus immer Recht behalten: „Eine der verbreitetsten Krankheiten ist die Diagnose.“ Besser hingegen sollte es uns mit Georg Kreislers Lied gehen: „Keine Diagnose. Kein Präparat. Keinerlei Prognose. Kein Resultat. Abgefühlt, betastet, erblich nicht belastet - unheilbar gesund.“
(In diesem Artikel werden die Begriffe Wut, Zorn und Aggression synonym verwendet.)
Wut ist eine schwierige Emotion, weil sie zerstörerisch wirken kann, wenn sie keine Grenzen kennt, und die Lebenskraft einschränkt, wenn sie beschnitten ist. Jedes heranwachsende Kind stellt um das zweite Lebensjahr herum seine Eltern vor die Aufgabe, mit seiner Wut zurechtzukommen. Es erlebt seinen Willen und die Einschränkungen, die ihm auferlegt werden. Daran entzündet sich der Zorn.
Zorn in der Kindererziehung
Die Eltern können mit diesem Zorn in dem Maß umgehen, wie sie mit ihrem eigenen Zorn zurechtkommen. Und diese Kompetenz hat sich maßgeblich in der eigenen Kindheit ausgeprägt. Haben sie in ihrer Kindheit gelernt, dass das eigene Wütendsein zu Liebesverlust und Abwertung führt, so besteht die Kompetenz nur darin, Angst vor der eigenen Wut zu erleben. Die Kraft der Wut ist dann in einer Angst eingekapselt. Oder sie haben gelernt, dass es für die Wut keine klaren Grenzen gibt, sodass sie, für sich selber uneinsichtig, in manchen Situationen übermäßig wütend werden und in anderen sich zuviel gefallen lassen. Die Wut schießt einmal massiv nach außen und zerstört unnötig viel und steht ein andermal nicht zur Verfügung, wo sie gebraucht würde.
Der wirklich kompetente Umgang mit der eigenen Aggressivität wird dann erworben, wenn die Eltern keine Angst vor der Wut ihrer Kinder haben. Dazu müssen sie die eigene Wut kennen und handhaben können. Sie können spüren, wenn sie zornig sind, müssen das aber nicht in jeder Situation ausleben. Sie haben ein wertschätzendes Verhältnis zu diesem Gefühl, ohne es zu verherrlichen. Sie wissen um die Wichtigkeit, einen guten Zugang zur eigenen Lebenskraft und Selbstbestimmtheit zu haben, und um die Notwendigkeit, die Äußerung von Zorn dosieren und situationsadäquat anpassen zu können.
Mit dieser inneren Sicherheit und Stärke können sie die Kinder gut durch die Zeit der Entdeckung des Zorns führen. Sie werden ihre Kinder nicht für ihren Zorn abwerten, missachten oder sogar bestrafen, sondern verstehen, dass das Gefühl eine Bedeutung und einen Sinn hat, auch wenn dieser nicht immer verstanden werden kann. Zugleich werden sie dem Kind mit ihrer eigenen aggressiven Kraft Grenzen setzen. Diese Kraft kommt im besten Fall aus der Macht des Herzens, also aus einer Liebe, die Grenzen setzen kann, ohne zu verletzen und herabzusetzen.
Mit solchen Erfahrungen lernt das Kind mit der Zeit, ein Verhältnis zur eigenen Emotionalität zu entwickeln, das beiden Seiten gerecht wird. Einerseits wird die Wut als Quelle der Kraft, der Durchsetzung eigener Interessen, des Ausdrucks von Bedürfnissen und der Wahrung von wichtigen Grenzen wertgeschätzt. Andererseits wird ihr zerstörerisches Überborden verhindert, indem die Wut nie die Alleinherrschaft im Bewusstsein erlangen kann, sondern ihr immer noch eine Instanz vorgelagert ist, die den emotionalen Ausbruch eindämmt und umfängt. Das ist der Riegel, der verhindert, dass sich die Wut in Gewalttätigkeit verwandelt, die keinen Respekt für die Würde anderer Menschen und für den Wert von Dingen kennt und sich in sinnloser Zerstörung selbst vernichtet.
Die Unterdrückung der Wut und die Folgen
Die unterdrückte Wut sucht sich andere Kanäle. Eine Vermutung besteht darin, dass die Menschheit immer wieder Kriege untereinander beginnt, weil damit dem Zorn ein legaler Weg eröffnet wird. Die aggressiven Strebungen werden für ein Ziel eingesetzt, das einem höheren Zweck dienen soll. Jeder Krieg stellt eine enorme Entfesselung der Wut und zugleich deren weitere Unterdrückung dar. Die ganze Aggression muss nach außen gerichtet werden, auf die Vernichtung des äußeren Bösen, das im Feind kristallisiert ist, während das Innere der Gesellschaft frei von Zorn bleiben muss. Jede falsche Orientierung der Wut wird strengstens bestraft.
Deshalb wirken Kriege nie als Therapeutikum, nicht einmal in Hinblick auf die Ökologie der Wut. Die Gewinner wie die Verlierer eines Krieges schleppen ein verunsichertes Missverhältnis zu diesem Gefühlskomplex weiter und übergeben es der nachfolgenden Generation, die wiederum kein ausgeglichenes Verhältnis dazu entwickeln kann.
Bedenkenswert ist auch der Raum für die Wut in der digitalen postmodernen Welt. Wir benötigen immer mehr Feinsteuerung im Umgang mit den komplexen digitalen Geräten, und das verträgt sich nicht mit der Grobheit dieses Gefühls. Wenn wir wütend sind, vertippen wir uns und finden nichts im Dschungel der Apparate. Ein Wutschwall kann die Arbeit eines halben Tages vernichten.
Deshalb braucht diese Welt ein hohes Maß an Wutkontrolle und -unterdrückung. Sie fordert Personen, die wie Maschinen fehlerfrei und daueraktiv funktionieren. Die Wut, die eine solche Forderung naturgemäß in den Menschen hervorruft, muss auf besondere Weise unten gehalten werden, weil sie die Existenzberechtigung in der digitalen Gesellschaft untergräbt. Die Naturferne im digitalen Raum ist auch eine Gefühls- und insbesondere eine Wutferne.
Deshalb muss sich die Wut heutzutage kreative Nischen suchen, z.B. im Sport, der vielen dazu dient, die Spannungen, die sich im Körper unter den Anforderungen der funktionalen Berufswelt aufbauen, wieder loszuwerden. Wo kein kreativer Weg gegangen wird, gerät die Wut in ungesunde Kanäle, sei es als Aggression und Hass gegen Andersdenkende oder Randgruppen, sei es als Selbstaggression in Süchten und Abhängigkeiten bis zu Autoimmunerkrankungen.
„Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser,
und doch, in der Art, wie es dem Harten zusetzt, kommt nichts ihm gleich.
Es kann durch nichts verändert werden.
Dass Schwaches das Harte besiegt und Weiches das Harte besiegt,
weiß jedermann auf Erden, aber niemand vermag danach zu handeln.“„Schmiegsam und geschmeidig ist der Mensch, wenn er geboren wird, starr, störrisch und steif, wenn er stirbt.
Biegsam, weich und zart sind die Kräuter und die Bäume im Wachstum, dürr, hart und stark im Entwerden.
Darum gehören Starre und Stärke dem Tode, Weichheit und Zartheit dem Leben.“ (LaoTzu)
Gerne stehen wir bei fließendem Wasser und betrachten es. Wir genießen die Leichtigkeit, mit der sich das Wasser an seine äußeren Gegebenheiten anpasst und beständig seine Bewegungen verändert und dennoch bei seiner Flussrichtung bleibt. Nichts kann es aufhalten, weil es so wandelbar ist, obwohl es dabei immer das bleibt, was es ist, Wasser.
Beim Betrachten nehmen wir uns ein Beispiel: So könnten wir auch leben. Doch was bedeutet das? Wir sind mit dem Leben im Einklang, wenn wir mit ihm fließen. Wir passen uns dem an, was uns das Leben gerade anbietet und stellen ihm keinen unnötigen Widerstand entgegen. Diese Anpassung ist aber keine Selbstverleugnung, sondern eine Fähigkeit, die wir mehr und mehr entwickeln können. Denn das Leben verlangt keine Unterordnung von uns, keinen blinden Gehorsam und keine schmerzhaften Verrenkungen. Es fordert uns zum Spiel heraus, in das wir genau das einbringen können, was wir in unserer Einzigartigkeit sind. Wenn wir also mit dem Leben fließen, bringen wir das Eigene mit dem Äußeren in Kontakt und Austausch, unser Wesen mit der Wirklichkeit um uns herum.
Damit tragen wir zum Wachstum bei, von uns selbst und von der Welt um uns herum. Die Wirklichkeit regt uns an, dass wir uns verändern, und in dieser Veränderung entfaltet sich die Kreativität, die der Welt Neues hinzufügt. Auf diese Weise hat sich die Vielfalt der Natur und der Kultur entwickelt, und in dieser Vielfalt können wir die unendlichen Gestalten der Schönheit entdecken.
Gesundheit und Flexibilität
Wir sind gesund in unserem Körper, wenn auch in uns selber dieses Fließgleichgewicht besteht. Alle Systeme kommunizieren miteinander und regen sich gegenseitig an, stimmen sich aufeinander ab und geben dem Raum, was gerade mehr Raum braucht.
Ist im Körper jedoch etwas ohne Notwendigkeit angespannt, so kann es nicht mehr frei kommunizieren, sondern meldet sich mit einem Schmerz, der die sofortige Aufmerksamkeit auf sich zieht. Alles andere soll zurücktreten, damit wir unsere gesamte Energie dafür einsetzen können, die Quelle des Ungleichgewichts zu beheben.
Alles Starre und Harte ist also Anzeichen einer Störung und schränkt das Leben ein, das ja in der permanenten Veränderbarkeit besteht. Es gibt keinen Stillstand, sondern nur Ruhephasen, in denen die Veränderungen in reduziertem Ausmaß stattfinden. Körperliche Verfestigungen sind nicht im Sinn des Lebens und deshalb ungesund. Alles Starre erinnert an den Tod, nicht an das Leben.
Wir können den Tendenzen zur Verfestigung, die vermutlich aus unbewussten angstgesteuerten Verhaltensgewohnheiten stammen, entgegenwirken, indem wir bewusst unsere Beweglichkeit steigern, in jeder Form, die uns liegt: Tanzen, Sport, Yoga, Tai Chi, etc. oder einfach dadurch, dass wir ein wenig anders gehen, sitzen, aufstehen, liegen, als wir es gewohnt sind.
Beweglicher Geist
Auch im Denken brauchen wir die Beweglichkeit. Häufig glauben wir, dass wir uns nach den Erwartungen richten müssen, die andere an uns haben. Oder wir meinen, dass uns andere im Weg stehen, uns in unserer Weise entfalten zu können. Als Kinder haben wir gelernt, dass wir uns nur so verändern dürfen, wie es von außen gewünscht ist, und das überträgt sich auch auf unsere Weise des Denkens. Wir wollen berechenbar bleiben, um keine Erwartungen enttäuschen zu müssen. Und wir wollen, dass die anderen Menschen und die Welt insgesamt berechenbar bleibt, denn alles, was sich zu schnell oder zu abrupt verändert, macht uns Angst.
Die Starrheit im Geist ist so schädlich wie die Starrheit im Körper. Wenn wir nicht mehr bereit sind, unsere Meinungen, Annahmen, Theorien und Einstellungen zu überdenken, zu reflektieren und, wenn es sinnvoll ist, zu verändern, bezahlen wir unsere Unbeweglichkeit darin, dass wir zunehmend an der Welt anecken. Erich Kästner meinte: „Man kann auf seinem Standpunkt stehen, aber man sollte nicht darauf sitzen.“
Aus geistiger Starrheit kommen viele unangenehme und sozial schädliche Einstellungen von der Rechthaberei bis zum Hass auf „Andersdenkende“ (allein die Existenz dieses Wortes weist darauf hin, dass es nicht als selbstverständlich gilt, dass Menschen unterschiedlich denken). Viel Unheil und Leid ist durch solche Haltungen bewirkt worden. Es sind dies immer wieder Versuche, die anderen Menschen den eigenen beschränkten Vorstellungen anzugleichen, so als sollte die ganze Wirklichkeit so krank werden wie man selber ist und als würde das alle inneren Probleme lösen.
Die Welt lässt sich jedoch nicht vereinnahmen, schon gar nicht von Eroberern, die von ihrem Wesen am weitesten entfernt sind. Sie ist geschmeidig und weich in ihren Konturen, und Klobiges und Klotziges wird so lange herumgebeutelt, bis es sich abrundet wie die Kieselsteine im Bach. Das Starre hat nur diese Chance: Sich vom Weichen belehren zu lassen; die Alternative ist das Zerbrechen, das Zersplittern. Solange so viel Sturheit in der Welt ist, muss auch so viel auf gewaltsame Weise zugrunde gehen. Solange sich das Verfestigte gegen die Verflüssigung sträubt, wiederholt sich das immer wieder gleiche Drama.
Erst wenn wir erkennen, dass jede Anspannung, auch wenn sie geistig ist, eine Selbsteinschränkung, also ein selbstauferlegter Freiheitsentzug ist, dass wir uns also mit unserem Festhalten selbst schaden, beginnen wir nach neuen Wegen zu suchen, wie das Wasser, das auf ein Hindernis stößt. Damit kommen wir ins Fließen, und damit bleiben wir lebendig. Wir wissen aber auch aus der Natur, dass es Zeit braucht. Allzu schnelle Lösungen vergehen auch allzu schnell wieder. Die menschliche Natur braucht lange, um sich abzuschleifen und die Weisheit des Lao Tzu zu verstehen:
„Biegsamkeit und Nachgiebigkeit sind die Verwalter des Lebens,
Härte und Stärke sind die Soldaten des Todes.“
Vgl. Über den Nutzen von Flexibilität
Die Verdinglichungstendenz
Widerstand und Verwandlung
Ängste sind ein Grundbestandteil unseres Gefühlslebens. Wir biegen um die Ecke und stoßen auf eine Person, wir erschrecken kurz und entspannen uns, sobald wir sehen, dass keine Gefahr droht. Wir denken an einen wichtigen Termin am nächsten Tag, und schon beginnt der Magen zu flattern. Es fällt uns ein, dass wir den Geburtstag eines uns wichtigen Menschen vergessen haben, es steigt heiß in uns hoch.
Vielfältige Anlässe haben wir, um in Angst zu geraten, und wir haben in unserem Arsenal die unterschiedlichsten Auslöser gespeichert. Manche Ängste teilen die meisten Menschen, manche sind ganz individuell, manche bilden Familien, z.B. die spezifischen Angststörungen wie Klaustrophobie oder Agoraphobie. Allein in dem Feld der Phobien gibt es nahezu unendlich viele Möglichkeiten, und es können immer wieder neue dazukommen.
So ist es nicht verwunderlich, dass wir annehmen, dass die Angst allgegenwärtig ist. Der deutsche Philosoph Heidegger hat die Angst zu einem Existenzial des Menschen erklärt, einer Grundbefindlichkeit, und viele andere Denker haben alle Ängste auf die Angst vor dem Tod zurückgeführt: Letztlich steckt in jeder noch so winzigen Angst die vor dem eigenen Ende. Die Angstreaktion mobilisiert den Überlebensmodus.
Die Wartezimmer von Psychiatern und Psychotherapeuten sind gefüllt von Menschen, die in der einen oder anderen Form unter Ängsten leiden. Jedes Thema, das innerlich belastet oder stört, und klarerweise jedes Trauma hat eine zentrale Angstkomponente, sodass die Hauptaufgabe im Bereich der seelischen Heilung im Lindern von Angstzuständen besteht.
Die Angstreaktion ist keine sinnlose Bürde, die mit dem Menschsein verbunden ist. Ängste machen uns auf Gefahren aufmerksam, die unser Leben bedrohen. Ohne Ängste würden wir blind durch die Welt stolpern und auf jeden Bösewicht hereinfallen. Wir würden bei Gewittern nicht Schutz suchen und sorglos am Abgrund spazieren gehen.
Allerdings sind die meisten unserer Ängste grundlos und situationsunangemessen. Das hat seinen Grund darin, dass unser Gehirn so strukturiert ist, dass es Angstreizen den Vorzug gibt und dass diese mit keinem Zeitmarker versehen sind. Sobald ein Reiz auftritt, der einer früheren Bedrohungsszene gleicht, wird die innere Alarmreaktion ausgelöst, mit der gleichen Intensität wie in der früheren Situation, die schon lange vorbei ist und viel gefährlicher war. Außerdem ist die Speicherung tief in den unbewussten Arealen unseres Gehirns gelagert, damit wir sie nicht willentlich außer Kraft setzen können. Die Reaktion auf Angstreize soll automatisiert ablaufen, nach dem Kampf-Flucht-Mechanismus, den alle höheren Lebewesen einprogrammiert haben. Automatisch heißt: ohne Einmischung des Denkens.
Dieses Phänomen ist besonders auffällig bei der posttraumatischen Belastungsstörungen, bei der z.B. eine Farbe, ähnlich der des Autos, das jemanden fast überfahren hätte, die Panikreaktion auslösen kann. Wir laufen also mit einem riesigen Museum voll von Ängsten herum, die wir aus all den Gefahrenerlebnissen unseres Lebens abgespeichert haben, begonnen von ganz früh an, lange vor der Entwicklung unseres bewussten Erinnerungsvermögens.
In Summe erzeugen diese Ängste einen Grundstress, eine chronische innere Anspannung, unter der viele Menschen leiden und die einen maßgeblichen Beitrag zur Entstehung und Aufrechterhaltung vieler, wenn nicht aller nicht genetisch determinierten Erkrankungen darstellt. Denn chronischer Stress bringt das Nervensystem aus der Balance, und dieses Ungleichgewicht hat Auswirkungen auf alle Regelkreise und Systeme im Körper, die dadurch ins Ungleichgewicht geraten und Fehlreaktionen erzeugen, bis der Körper in seinen Buffer- und Kompensationsmöglichkeiten erschöpft ist und eine Krankheit ausbricht.
Chronischer Stress schadet nicht nur unserem Körper, sondern belastet auch das Zusammenleben. Unter Stress kommunizieren wir schlecht, bei Angstzuständen vergessen wir auf jede Rücksicht für andere. Angst macht egoistisch; wie schon in anderen Zusammenhängen erörtert, sind Ängste die Grundlage für die Entstehung dessen, was in vielen spirituellen Traditionen als Ego oder neurotischer Verstand (mind) bezeichnet wird.
Angst und Liebe - eine Polarität?
Wir neigen dazu, zwei Begriffe wie Angst und Liebe in eine Polarität einzuspannen. Zwar ist es so, dass dort, wo Angst ist, keine Liebe sein kann: Angst engt ein, Liebe weitet, Angst verspannt, Liebe fließt. Auch wo Liebe ist, kann keine Angst sein. Doch verhalten sich Liebe und Angst nicht wie Tag und Nacht. Die Gegebenheiten des Kosmos erzeugen diese Unterschiede, ohne die es kein Leben auf dem Planeten geben würde. Leben entsteht unter Sonnenlicht und dessen periodischer Abwesenheit.
Ängste kennzeichnen Ausnahmezustände unseres Organismus. Wir sind einer Gefahr ausgesetzt, die unser Körper mit der Mobilisierung aller verfügbarer Ressourcen beantwortet. Besteht die Situation weiter, wird es immer schwieriger, den Spannungszustand aufrecht zu erhalten, und irgendwann bricht der Körper zusammen. Der Angstzustand hat seine Grenze, weil in ihm keine Reserven gebildet werden können, und wenn die zur Verfügung stehenden Ressourcen aufgebraucht sind, folgt der Kollaps.
Vom Zustand der Liebe dagegen können wir nicht genug kriegen. Da gibt es keine Erschöpfung, sondern eine zunehmende Vermehrung und Verstärkung im Inneren wie im Äußeren. Liebe lässt uns anderen Menschen gegenüber offen begegnen, diese reagieren mit Aufmerksamkeit und Zuwendung, die uns wieder nährt. Wir wollen uns mehr von diesem Zustand und weniger von Ängsten und können auch mehr davon in unserem Leben erschaffen. Dann sind wir im Zustand der Liebe, und erst, wenn sich etwas Bedrohliches zeigt, verlieren wir ihn.
Wie schon gesagt, sind viele dieser Bedrohungen, die wir erleben, irreal oder übertrieben: Wir sehen Gefahren, wo gar keine sind, oder halten an Angstreaktionen fest, die aus minimalen Anlässen entstehen. Sicher kann es uns ängstigen, wenn uns ein Teller am Boden zerschellt, und wir erschrecken. Aber wir brauchen diesen Schreck nicht über den Moment hinaus ausdehnen, sondern können zur inneren Ruhe zurückkehren und die Scherben zusammenkehren und uns selbst, statt uns zu kritisieren, liebevoll in unserer Fehlerhaftigkeit annehmen.
Denn wenn wir das Missgeschick, das uns passiert ist, dazu nutzen, uns selbst abzuwerten und zu kritisieren, schließen wir an die erste Angsterfahrung im Schreck, dass der Teller zerschellt ist, die zweite an, dass wir ungeschickt, unzuverlässig oder vertrauensunwürdig sind, Gefühle also, in denen die Angst vor sozialer Ächtung enthalten ist. So bewegen wir uns in eine Kette von Ängsten, die aus organismischer Sicht völlig unnötig sind: Der Schreck entsteht, weil ein plötzlicher Lärm auftritt, der eine mögliche Bedrohung signalisiert. Sobald wir erkennen, dass keine Gefahr vorliegt, können wir den Stress abschütteln und uns entspannen. Wenn wir aber weitere Ängste zulassen, die sich an die Schreckreaktion anschließen, bewegen wir uns in den Bereich von irrealen Ängsten, aus denen wir viel schwerer wieder herausfinden. Aus solchen Erfahrungen bilden sich chronifizierte Ängste, Angstgewohnheiten bis hin zur Angstsucht. Wenn sich nämlich die Synapsen unserer Nervenzellen auf das Übermaß an Kortisol einstellen und ihre Rezeptoren so umgestalten, dass sie diesen Botenstoff besonders leicht aufnehmen, werden Mangelerfahrungen spürbar, wenn einmal keine Gefahr im Raum steht. Und die Suche nach etwas, das den Angstpegel wieder erhöhen könnte, wird eingesetzt.
Deshalb ist es von großer Wichtigkeit, dass wir an unseren Ängsten arbeiten, den bewussten und den unbewussten. Wir brauchen die Angst kaum in unserem Leben, wir brauchen aber mehr Liebe und Offenheit. Mit jeder bearbeiteten und erlösten Angst öffnet sich von selber der Raum der Liebe.
Es geht dabei nicht nur um die Liebe zu denen, die uns lieb sind, sondern auch um das, was ich hier als die große Liebe beschrieben habe. Wenn wir tief in uns nachspüren, ist das etwas vom Wichtigsten, was wir uns für uns selber und für die Welt wünschen: ein liebevoller, von Achtung, Wertschätzung und Mitgefühl getragener Umgang mit uns selbst, mit unseren Mitmenschen und mit der Natur. Ohne diese weite Form der Liebe wird es kaum möglich sein, die Probleme dieser Welt und der Menschen miteinander zu lösen.
Solche Sätze klingen für manche esoterisch. Wir können auch andere Worte wählen, doch bezieht sich die Grundaussage auf die Grundlage unseres Lebens, und diese können wir nicht ignorieren oder in ein kauziges Eck rücken. Aus Liebe des Lebens zum Leben sind wir geboren, und den Raum für diese Liebe zu weiten, können wir als unsere Grundaufgabe und Grundleidenschaft sehen.
Vgl.: Liebe und Hass
Die große und kleine Liebe
Die Liebe und ihre Bedingungen
Die Kanadierin Amy Bombay, Psychiatrieprofessorin an der Dalhousie-Universität hatte erst als Erwachsene herausgefunden, dass ihre Großeltern ein Missbrauchssystem überlebt hatten - ein von der Regierung bezahltes Programm an religiösen Schulen, das dazu diente, tausende indigene Kinder der euro-kanadischen Kultur anzupassen. Bombay sagte, sie war entstellt vom Schmerz der Vergangenheit aus dem dunklen Vermächtnis kanadischer Internate. „Viele Eltern redeten nur über diese Schulen, wenn wie betrunken waren, und dann haben sie geweint. Das war die einzige Gelegenheit, darüber etwas zu hören.“
Zwischen den späten 50er und den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde ungefähr ein Drittel (über 150 000) der indigenen Kinder ihren Eltern weggenommen und unter unterdrückenden Bedingungen, Zwangsarbeit und Isolation eingesperrt. Viele Überlebende berichten von sexuellem und körperlichem Missbrauch. Mindestens 4 000 Kinder starben. Das Programm sollte die Identität der indigenen Bevölkerung auslöschen und wird heute weitgehend als Völkermord eingestuft. Die Überlebenden dieser Schulen tragen noch immer die Wunden in sich, die zu posttraumatischen Störungen, Drogenmissbrauch und Gewalt führen, und es kann Generationen dauern, bis sie geheilt werden.
Aus jüngeren Studien wissen wir, dass Traumen zwischen den Generationen weitergegeben werden können. Ein Beispiel sind Holocaust-Überlebende und ihre Kinder und Enkelkinder. Die Theorie des epigenetischen Erbes besagt, dass Außenbedingungen die Gene künftiger Generationen verändern können. Chemische Anhängsel heften sich wie Post-its an die DNA und bewirken, dass Gene ein- oder ausgeschaltet werden. Ein Forschungsteam des Mount Sinai Hospital in New York unter Leitung von Rachel Yehuda, einer führenden Expertin für posttraumatischen Stress und Epigenetik, konnte nachweisen, dass solche Anhängsel über die Generationen weitergegeben werden können. Bei Forschungen mit schwangeren Müttern im World Trade Center während des 9/11 konnte sie entdecken, dass die traumatischen Erfahrungen die ungeborenen Kinder genetisch beeinflussten.
Es gibt aber auch eine positive Seite. Die epigenetischen Veränderungen, die die Plastizität unserer Gene unter Beweis stellen, können auch im Sinn des Aufbaus von Resilienz genutzt werden. Allerdings sind diese Zusammenhänge noch wenig erforscht.
Unsere genetische Ausstattung ist nicht statisch, sondern dynamisch. Deshalb ist die Art und Weise, wie wir leben, nicht nur für uns selber bedeutsam, sondern beeinflusst auf recht direkte Weise unsere Nachkommen. Und wenn wir die ererbten Belastungen aufarbeiten, kommt das auch allen nachfolgenden Generationen zugute.
Hier zur Quelle für diesen Artikel.
Vgl. Epigenetische Weitergabe von Stress
Kindliche Traumatisierung verändert die Gene
Materialien zur Epigenetik
Viele Ereignisse auf dieser Welt spotten scheinbar der Auffassung Hohn, dass sich die Welt zum Besseren weiterentwickelt, wie es die Theorie der Bewusstseinsevolution vorgibt. Schon Voltaire sah das große Erdbeben von Lissabon als Beweis dafür, dass die Welt in keine gute Richtung steuere. Kriege und Konflikte, Flüchtlingsbewegungen, Naturkatastrophen, Wirtschaftskrisen, Erfolge rechtspopulistischer Bewegungen usw. – all das weist darauf hin, dass sich die Entwicklung nach rückwärts orientiert, zurück zu Ängsten und Werthaltungen, die schon überwunden schienen.
Ich möchte hier das letztere Phänomen aus der Sicht der Stufen des Bewusstseins beleuchten. Viele Zeichen deuten darauf hin, dass sich die Gesellschaften „nach rechts“ orientieren, zumindest diejenigen, die in unserem Fokus stehen: In Deutschland treibt die AfD die konservative Partei vor sich her, in Österreich erreicht der FPÖ-Kandidat fast 50% der Stimmen der Präsidentenwahl, in Ungarn und anderen osteuropäischen Ländern wird ganz offen die nationalistische Karte als unangefochtener Trumpf ausgespielt, Frankreich könnte bald eine nationalistische Präsidentin haben, die Engländer ziehen sich auf ihre Insel zurück und wollen sich gegen die europäische Personenfreizügigkeit abschotten, in den USA hat ein unberechenbarer aggressiver und nationalistischer Egomane reelle Chancen auf das Präsidentenamt etc.
Der Rechts-Ruck
Was hat es also mit dem Rechts-Trend auf sich? Ist das eine Rückentwicklung in eine mittelalterliche Bunkermentalität, sind Zeiten für die Zusammenschlüsse zu großen Netzwerken und politischen Kooperationen vorbei und will jedes Land nur mehr das eigene Süppchen kochen, weil es ja doch am besten wie von Mama schmeckt? Weit und breit ist nichts von Fortschritt zu mehr Menschlichkeit und Toleranz, zum Teilen von Lasten und Chancen, zum Ausgleich zwischen oben und unten, reich und arm zu sehen. Stattdessen haben die Prediger von Ängsten und Irrationalismen mehr Zulauf denn je, und der berüchtigte „Ruf nach dem starken Mann“ wird immer populärer.
Ängste machen uns kleiner, körperlich ziehen wir uns zusammen, wenn wir uns schrecken, und in unserer Denk- und Urteilsfähigkeit schrumpfen wir. Unsere Handlungsfähigkeit reduziert sich auf einfache Alternativen: Kämpfen oder Flüchten in verschiedenen Varianten. Verängstigte Menschen hören auf Menschen, die ihre Ängste teilen und verstärken. Soweit ist die Epidemie der Ängstlichkeit nachvollziehbar.
Aber schwerwiegender sind die verborgenen Ängste. Denn sie stehen dem Ausbau des Vertrauens und der konstruktiven Weiterentwicklung im Weg. Sie äußern sich in den vielfältigen Formen der Skepsis vor dem Neuen und im Mangel an Selbstwert. Ängste, die offen artikuliert werden, treten in den Diskurs ein und mobilisieren Gegenkräfte, in den Individuen wie in der Gesellschaft. Es ist klar, dass solche tiefe Schichten auch viel Hass an die Oberfläche bringen, wenn sie einmal angezapft sind.
Es ist wichtig, dass alle Ängste, die irgendwo gespeichert sind, zum Ausdruck kommen. Im öffentlichen Diskurs muss dann klargestellt werden, wie sie in einer liberalen Demokratie Berücksichtigung finden können und wie sie von Hassäußerungen unterschieden werden können. Die Gesellschaft muss also einerseits jede Form von Hass in der öffentlichen Auseinandersetzung unterbinden, denn Hass steht an der Schwelle zur Gewalttätigkeit und rüttelt damit direkt an den Grundstrukturen jeder Gesellschaftsordnung. Andererseits geht es um ein Eingehen und Verstehen der Ängste, damit der Unterschied zwischen rationalen und irrationalen Anteilen herausgearbeitet werden kann.
Die Ängste der Menschen wollen gesehen werden und Widerhall und Beachtung finden. Auch deshalb kann es in der Sicht der Bewusstseinsevolution einen weiterreichenden Sinn haben, dass rechte Parteien öffentliche Erfolge feiern. Das beruhigt manche der Ängstlichen und entzaubert zugleich die Fähigkeiten der Populisten. Denn diese Ängste verschwinden nicht dadurch, dass sie für „archaisch“ oder „primitiv“ erklärt werden. Sie sind Teil unseres Kollektivs. Deshalb brauchen sie auch Sprachrohre, mit deren Hilfe sie sich artikulieren. Es braucht aber auch selbstbewusste Gegenstimmen, damit deutlich wird, dass die Ängste nicht das letzte Wort haben können, sondern überwunden werden sollten, damit die Zukunft als Zukunft gestaltet und nicht als Imitat der Vergangenheit museal inszeniert wird.
Der lange Atem der Evolution
Der Atem der Bewusstseinsevolution ist lang, sehr lang. Sie rechnet in größeren Zeiträumen als unsere individuellen kurzfristigen Perspektiven, die uns von unseren Problemhorizonten vorgegeben werden: Wie bewältigen wir die Integration von zehntausenden Menschen, die als Flüchtlinge gekommen sind? Wer zahlt das alles, und wie betrifft das unseren Lebensstandard und unsere Lebensqualität? Auf diese Fragen wollen viele Menschen schnelle Antworten und finden diese vor allem bei den rechten Populisten.
Die langfristigen Trends berechnen Ökonomen und Bevölkerungsstatistiker, die davon ausgehen, dass es sich „rechnet“, Flüchtlinge auch in größerer Zahl aufzunehmen. Das wird die Zukunft weisen und kümmert die noch längerfristig wirksamen Trends der Bewusstseinsevolution nur am Rande. Damit die Entwicklung weitergehen kann, ist es wichtig, die Untergründe der Angstszenarien zu verstehen. Erst auf dieser Grundlage können dann die Kräfte erwachen, die die Bewältigung der Aufgaben erfordern.
Ängste und Schuldgefühle
Die westlichen Gesellschaften, um die es hier geht (viele außereuropäische Kulturen gehen durch Phasen eines rapiden Fortschritts mit sinkenden Armutszahlen und der Ausbreitung materialistischer Lebensformen, sie kämpfen mit anderen Problemen), sind in ihrer Inhomogenität von einer Gemengelage aus Bewusstseinsschichten geprägt. Es gibt viele Menschen in unseren Ländern, die für Ängste aus frühen Evolutionsstufen empfänglich sind, und viele andere, bei denen diese Ängste erst durch die neuen Entwicklungen, mit denen wir seit kurzem konfrontiert sind, wachgerufen und aktualisiert werden, vor allem solche, die sich in ihrem wachsenden Wohlstand wie selbstverständlich zuhause fühlen und jetzt spüren, dass dieser bedroht sein könnte.
Es sind die Ängste vor dem Fremden, vor dem Neuen, vor dem Verlust von Sicherheiten und Zukunftschancen usw. Und es sind unbewusste Schuldgefühle, die mit diesen Ängsten verbunden sind: Der Wohlstand, der in Gefahr gerät, gründet zum Teil auf der Armut der Menschen, die jetzt vor der Tür stehen und anklopfen. Oder es sind Waffen, die in unseren Fabriken Arbeitsplätze schaffen und Steuereinnahmen lukrieren, die die Wohnungen dieser Menschen zerstört und ihre Angehörigen umgebracht haben. Sie wollen wieder ein Dach über dem Kopf und eine Gesellschaft, an der sie mitwirken können.
Wir haben an der Armut und an den Kriegen Geld verdient. Wir tragen unseren Teil an der Schuld des Elends auf dieser Welt, und fürchten uns davor, daran erinnert zu werden. Deshalb sollte alles möglichst weit von uns geschoben sein, was uns darauf aufmerksam machen könnte. Das Bedrohliche sind also letztlich nicht die fremden Menschen, sondern die eigene Schuld.
Als Menschenfamilie sind wir involviert in das Elend und Leid, das in vielen Gebieten dieser Erde grassiert. Das heißt nicht, dass wir dafür allein verantwortlich sind und alle diese Probleme lösen müssten, es heißt aber auch nicht, dass wir uns davon abschotten können, in der Meinung, wir hätten damit überhaupt nichts zu tun. Vielmehr führen uns die Flucht- und Wanderbewegungen dieser Tage direkt vor Augen, dass es massive globale Probleme gibt, die wir als Menschheit gemeinsam lösen müssen, und, wenn diese Gemeinsamkeit erschaffen werden kann, auch lösen können.
Das ist ein Fortschritt im Bewusstsein, ob wir ihn angenehm und förderlich finden oder nicht, spielt für die evolutionäre Bewegung keine Rolle. Die Globalität der Krisen und die räumliche und emotionale Nähe der Betroffenen macht das Ausweichen und Ausreden schwerer.
Das macht vielen Menschen Angst, die bisher für die Angstparolen der Rechtsparteien immun waren. Niemand weiß, wie diese globalen Spannungen und Ungleichheiten gelöst werden können, und deshalb erscheint es vielen einfacher, gleich gar nicht damit anzufangen, sondern statt dessen die Zäune und die eigenen Scheuklappen hochzufahren und den Politikern nachzulaufen, die versprechen, dass sich nichts ändern wird an den Ungleichheits- und Ausbeutungsstrukturen, die unsere ohnehin recht prallen Säckel mit schmutzigem Geld füllen.
Rechte Politik löst keine Probleme
Doch diese Verstrickung kann erst sichtbar werden, wenn sie spürbar wird und zumindest in Verzerrungen und ideologischen Ummantelungen zum Ausdruck kommt. Das Versteckte und Verdrängte hat mehr Macht als das offen zur Schau Getragene und zu Gehör Gebrachte. Die Menschen müssen reagieren, und wenn sie dazu rechten Propagandisten nachlaufen, bringt ihnen das eine kurzfristige Erleichterung, aber die Enttäuschung ist nur eine Frage der Zeit. Denn aus logischen Gründen sind die rechten Parteien nicht in der Lage, Probleme zu lösen, sondern können sie durch Scheinlösungen nur verschlimmern.
Evolutionstheoretisch betrachtet, heißt das, dass umfassendere und tiefer verborgene Schichten der Angst an die Oberfläche kommen, und das dient dem Bewusstseinsfortschritt. Kurzfristig kann es sein, dass da und dort die Rechtspopulisten an politische Machtpositionen kommen, doch zeigen die bisherigen Erfahrungen, dass sie diese nicht lange halten können, weil sie in ihrer Verhaftung an der Erhaltung des status quo oder an der Herstellung früherer Zustände über keine Kompetenzen zur Problemlösung verfügen. Probleme von heute können nicht mit Werthaltungen von vorgestern gelöst werden.
Das Verschieben oder Aufschieben von Problemen beschäftigt dann die nachfolgenden Jahre und Jahrzehnte, wie z.B. die von der Bush-Regierung angezettelten Kriege sowohl das weltweite Finanzsystem in Turbulenzen gebracht haben also auch bis heute ganze Regionen destabilisiert haben, was massive monetäre und menschliche Verluste bedeutet. Im kleineren österreichischen Rahmen braucht man nur an die Regierungsbeteiligung von FPÖ/BZÖ denken, die zwischen 2000 und 2006 vor allem durch Skandale und Korruption auffiel und nicht durch inhaltliche Neuorientierungen und zukunftsweisende Reformen. Die Gerichte sind bis heute (10 Jahre danach) mit der juridischen Aufarbeitung dieser Verbrechen und Verfehlungen befasst.
Freilich kann die Geschichte die Aufgaben, die wir als Menschheit zu bewältigen haben, nicht durch ein imaginäres Zurückschrauben der Zeit oder durch Verleugnung vergessen. Die Geschichte präsentiert sie so lange, bis sie mit Einsatz und Verantwortung angegangen werden. Die scheinbar durch inkompetente und eigensüchtige Politiker für den Fortschritt verlorenen Jahre schärfen schließlich das Bewusstsein für das, was getan werden muss.
Vertrauenstest
Der Rechtstrend ist ein Symptom der Verunsicherung, die er aber selber gar nicht beheben kann, weil sein Potenzial nur darin liegt, das, was er beseitigen will, zu verstärken. In der Verunsicherung fehlt das Vertrauen. Jede Krise können wir nutzen, um dieses Vertrauen zu stärken, in uns und um uns herum. Damit bauen wir aktiv an der Zukunft mit, ohne von den Ängsten, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben, gelähmt zu sein, aber auch ohne sie verleugnen oder ignorieren zu müssen.
Lehrer in der Erleuchtungsszene werden immer beliebter. Sie sitzen meist vor ihrem Publikum und verkünden ihre Einsichten. Wenn Fragen kommen, werden sie beantwortet, aber diskutiert wird nicht. Das Gefälle ist deutlich, eben ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, wo der eine weiter ist und mehr zu sagen hat als der, der lernen will, ob dorthin zu kommen, wo der Lehrer schon ist.
In diesem Blog wurde mehrfach der Unterschied von relativer und absoluter Wahrheit thematisiert. Die hier angesprochenen Lehrer besuchen wir, weil wir mehr von der absoluten Wahrheit erfahren wollen, nicht, weil wir mehr über die Hintergründe des Syrien-Konflikts oder über die Funktionsweise von Abgastests wissen wollen. Doch wie genau nehmen es die Lehrer des Absoluten mit der Unterscheidung des Absoluten und des Relativen?
Es gibt keine Lehre des Absoluten, weil sich das Absolute nicht in Worte fassen lässt und deshalb in keine lehrbare Form gebracht werden kann. Jede Beschreibung des Absoluten ist relativ. Weil sie Worte benutzt, die mehrdeutig sind. Dazu kommt, dass die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler immer relativ ist, weil dabei zwei Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Geschichten und Wahrnehmungsweisen zusammenkommen. Alles, was ausgesprochen wird, bekommt erst durch das Hören seine volle Bedeutung und seinen endgültigen Sinn.
Das ist unsere Grundverfasstheit als Menschen. Wir sind soziale Wesen und deshalb immer in sozialen Netzwerken mit wechselseitigen Abhängigkeiten. Diese Verfasstheit trägt auch jeder Lehrer in sich. Es macht gar keinen Sinn, sich davon befreien zu wollen, denn damit würde man einen Angelpunkt außerhalb der menschlichen Gesellschaft suchen, den es nicht geben kann, analog dem Grundsatz von Paul Watzlawick, dass wir nicht nicht kommunizieren können. Wir können nicht nicht relativ sein.
Dennoch haben wir einen Zugang zum Absoluten. Dieser führt uns aber nicht aus der Relativität heraus, sondern fügt ihr eine neue Dimension hinzu. Der Lehrer dient als Wegweiser in diese neue Dimension, kann das aber nur sein, wenn er die Möglichkeiten und Fallen des Relativen gut kennt.
In jeder Begegnung im Relativen, also auch in der zwischen Lehrer und Schüler, kommen deshalb alle Phänomene des Relativen vor: Gefühle, Machtthemen, Erwartungen, Beurteilungen usw. Die Kunst des Lehrers besteht darin, diese Phänomene transparent zu machen, sodass hinter der relativen Kolorierung durch das Persönliche das Absolute sichtbar oder spürbar wird. Diese Wachsamkeit braucht es auch sich selbst gegenüber, denn kein Lehrer ist davor gefeit, Relatives als Absolutes anzubieten.
Dazu gehört, dass die Schülerin bewusst oder unbewusst versuchen wird, den Lehrer in die eigene Welt des Relativen einzuladen. Er will testen, ob und wieweit der Lehrer innerlich frei ist, ob und inwieweit seine Persönlichkeit im Relativen verhaftet ist. Dort, wo die Verhaftung aufgelöst ist, geht die Verführung ins Leere und begegnet einer bedingungslosen Annahme, die aus einem Zustand des inneren Friedens gespeist ist.
Die Lehrerin braucht die Unterscheidungskraft zwischen dem Relativen und Absoluten, sonst stiftet sie Verwirrung. Der Schüler muss für sich erst lernen, wie der Unterschied gemacht werden kann. Doch viele Lehrer fühlen sich in ihrem Lehren so im Fluss, dass sie leicht den Unterschied übersehen. Sie reden sich vom einen Bereich in den anderen und wieder zurück und überdecken oft mit Eloquenz die Zick-Zack-Wege ihrer Rede. Subjektive Meinung mischt sich mit Einsichten aus der Tiefe des Absoluten, ohne dass der Übergang deutlich gemacht und erklärt würde.
Der Lehrer sollte also immer klarmachen, von welcher Position aus er spricht, damit die Zuhörer wissen, wo sie die Aussagen einordnen können: Ist etwas gewissermaßen die Privatmeinung über ein Thema, die aus der eigenen Lebenserfahrung kommt und die ein relatives Angebot darstellt: Überprüfe als Empfänger, ob du diese Aussage annehmen kannst oder nicht, ob sie hilfreich und weiterführend ist oder nicht, ob du eine gegenteilige Ansicht hast oder nicht. Ein Widerstand gegen eine relative Aussage, den die empfangende Person wahrnimmt, ist wertvoll, weil sie auf der Wahrheitssuche weiterhilft. Um wachsen und sich weiter entwickeln zu können, braucht die relative Wahrheit die kritische Auseinandersetzung. Das beste Beispiel dafür bieten die Wissenschaften, deren Erkenntnisfortschritt in der laufenden Kritik an schon bestehenden Theorien und Forschungsergebnissen besteht.
Relatives ist immer kritikfähig und kritikwürdig. Es darf nicht als Absolutes missverstanden oder ausgegeben werden, sonst wird es schnurstracks zur Ideologie. Kritik ist das Medium im Relativen, das es in Bewegung hält und damit für das Absolute öffnet. Denn die Kritik orientiert sich am Ideal, das im Absoluten beheimatet ist. Alles, was am Absoluten verfestigt wird, ist schon relativ. Dies zeigt uns die Geschichte der Dogmatisierungen.
Die Suche nach der absoluten Wahrheit hat ein anderes Verhältnis zur Kritik. Hier kann ein Widerstand, den ein Schüler gegen eine Aussage wahrnimmt, bedeuten, dass er sich nicht auf die Radikalität des Absoluten einlassen will, sondern bei seiner bequemeren relativen Weltsicht stehenbleiben will. Es ist also ein Widerstand, der weder dem Erkenntnisgewinn noch dem inneren Wachsen dient, sondern von der eigenen Angstkonditionierung gesteuert ist. Hier braucht er einen klaren Hinweis des Lehrers, den dieser nur einbringen kann, wenn ihm selber der Unterschied zwischen dem Relativen und Absoluten vertraut und geläufig ist.
Die absolute Wahrheit kennt ja keinen internen Erkenntnisfortschritt. Denn sie ist ja schon immer fertig. Es gibt nur den äußeren Erkenntnisfortschritt: Mehr und mehr Personen können mehr und mehr Facetten und Zugangsformen zum Absoluten erschließen. Dazu dient die Lehre: dem Schüler zu seinem Zugang zum Absoluten zu verhelfen.
Ob die Übermittelung erfolgreich ist, bemisst sich daran, wieweit der Empfänger einen Grad an innerer Befreiung erleben kann, der sich signifikant von der Alltagserfahrung unterscheidet. Es gibt also kein objektives Faktum, das den Erfolg einer Kommunikation über das Absolute verifizieren könnte. Und es geht auch gar nicht darum, vielmehr geht es um inneres Wachsen, das seine eigene Verlaufsform hat, die in den seltensten Fällen eine lineare Richtung hat.
Je klarer und eindeutiger die Unterscheidung zwischen dem Absoluten und dem Relativen vom Lehrer vermittelt werden kann, desto einfacher gelingt dieses innere Wachsen beim Schüler hin zum Absoluten der Wahrheit, die nur von Moment zu Moment existiert. Was sich nicht mehr sagen lässt, sondern was im Inneren gespürt und was sich von selbst mitteilt, jenseits oder innerhalb der Worte, die gesagt werden, ist außer Streit gestellt.
Vgl. Die zwei Wahrheiten
Die zwei Wahrheiten und die Konfliktkultur
Die zwei Wahrheiten und die Religionen
Die zwei Wahrheiten und der Alltag
Die zwei Wahrheiten und das Ego
Die zwei Wahrheiten und die Sprache
PS. das ist der 300. Blogartikel auf dieser Seite!
Alan Watts, Mystiker und Religionsphilosoph (gest. 1973), beschreibt das Universum als grundlegend spielerisch. „Es gibt für das Universum keinerlei Notwendigkeit. Das heißt, dass es kein Ziel hat, an dem es ankommen sollte. Aber ist kann am besten durch die Analogie mit Musik verstanden werden, weil Musik, als Kunstform, im Wesentlichen spielerisch ist: Wir sagen: ‚Du spielst Klavier‘ und nicht: ‚Du bearbeitest das Klavier.‘
Wenn du reist, versuchst du irgendwo hinzukommen. In der Musik aber macht man das Ende einer Komposition nicht zum Sinn der Komposition. Wenn es so wäre, wären die besten Dirigenten jene, die am schnellsten spielen, und dann gäbe es Komponisten, die nur Finali schreiben. Die Leute gingen ins Konzert, nur um einen krachenden Akkord zu hören, weil das das Ende ist. Ebenso ist es mit dem Tanzen. Du zielst nicht auf einen bestimmten Punkt im Raum, an dem du ankommen solltest. Der ganze Sinn des Tanzens ist der Tanz.“
Wie geht es uns mit einem singenden und tanzenden Universum?
Wir haben unsere lineare Zeitvorstellung und konstruieren nach ihr unser Leben und darüber hinaus auch alle Prozesse im Universum. Wir haben unsere Vergangenheit, die mit der Empfängnis und der Geburt beginnt, und unsere Zukunft, die wir uns so oder so ausmalen. Ebenso wissen wir um den Urknall und der nach ihm entstehenden Entwicklung, die über Milliarden von Jahren bis zu uns, in diesen Moment geführt hat. Wir haben auch Ideen, wie es weitergehen wird und gehen davon aus, dass es das Universum irgendwann einmal auch nicht mehr geben könnte.
Die Macht der linearen Zeit ist so groß, weil wir sie in unseren täglichen Aktivitäten brauchen. Ohne Zeitpläne könnten wir viele Dinge unseres Lebens nicht erledigen und viele Aufgaben nicht bewältigen. Sie ist tief in unsere inneren Abläufe hineinverwoben und prägt unser Entspannungs- wie unser Stressverhalten.
Es geht auch nicht darum, die lineare Zeitvorstellung abzuschaffen. Da könnten wir keine Termine mehr ausmachen und wüssten nicht, wann wir morgens aufstehen sollten. Wir würden keinen Zug erreichen, noch würde uns ein Zug erreichen.
Hinter der linearen Zeit steckt das Zweckdenken, und darauf hat es Alan Watts abgesehen. Alles, was wir tun, soll einen Zweck haben. Alles, was keinen Zweck hat, ist unnotwendig, weil es nichts zur Linderung einer Not beiträgt. Deshalb werden die Künstler oft etwas mitleidig und herablassend von denen betrachtet, die etwas „Gescheites“ gelernt haben und als Tätigkeit ausüben, eben etwas, das in irgendeiner Weise direkt zur Überlebenssicherung beiträgt.
Die Kunst hingegen übt sich in der Zweckfreiheit, sie ist um ihrer selbst willen da, nicht, weil sie für irgend einen Zweck verwertbar ist. Sie zeigt dem Menschen, dass es anders auch geht – anders als im Hamsterrad steckend immer wieder dieselben Aktionen ausführen, ohne Freiheit und Kreativität. So zumindest sehen viele Künstler ihre nicht kunstschaffenden Zeitgenossen.
Wie ist also das Universum?
Ist es nach dem Lebensmodell der Künstler beschaffen oder nach dem der Zweckrationalisten? Alan Watts geht von einer reinen Behauptung aus: Das Universum ist so und nicht anders. Wenn wir jeden Drang nach dem Innehaben der letzten Wahrheit zurücknehmen, bleibt uns nur zu sagen: Wir wissen überhaupt nicht, wie das Universum im Ganzen funktioniert, ob es einen Zweck enthält, ob es wie ein Kinderspiel oder wie eine Oper gestaltet ist. Wir wissen, wie einzelne Zusammenhänge im Universum ablaufen, kennen Gesetzmäßigkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Immer mehr davon wird erforscht.
Allerdings übersteigt die Frage nach dem Gesamtprinzip den Horizont des Wissbaren. In Wirklichkeit befinden wir uns im Raum reiner Spekulation. Und wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir uns aussuchen, was uns besser gefällt: Ein nach Zwecken entworfenes Universum, z.B. eines, das sich zum immer Besseren weiterentwickelt oder eines, das sich an sich selber zugrunde richtet, oder eines, das von einem Moment in den nächsten geht, ohne Zusammenhang und Sinnverbindung.
Die Inder haben für diese Sichtweise einen eigenen Namen gewählt: Lila, die als die spontane Seite von Brahman gilt, seine Verspieltheit und Absichtslosigkeit zum Ausdruck bringt. Die Vielzahl ihrer Götter bietet den Vorteil, sich für jeden Geschmack oder für jede Lebensstimmung eine jenseitige Vertretung aussuchen zu können.
So ähnlich können wir es handhaben. Es gibt kein Menschenwesen, das einen authentischen Einblick in das große Ganze hat oder haben kann. Und das ist auch gut so. Denn mancher, dem es gerade oder länger schon nicht gut geht, würde sich zusätzlich gefrozzelt fühlen, wenn ihm jemand erzählen würde, sein Unglück sei nur eine Spiellaune des Universums, dem gerade nichts Besseres eingefallen wäre. Und wer daran interessiert ist, dass die Zustände, in denen wir leben, zu mehr Menschlichkeit und Freiheit verbessert werden, hätte auch wenig von einem Weltbild, wo alles, was geschieht, nur ein zweckfreies Tanzen ist, das sich selbst genügt.
Andererseits mag das Bild der tanzenden Götter jemandem helfen, der scheinbar in seinen Handlungszwängen feststeckt. Wie wäre es für den Finanzmanager, der mit dem Aktenkoffer von einem Termin zum nächsten hetzt, wenn er dabei ein paar Tanzschritte einschaltet? Vielleicht könnte eine solche kleine Veränderung ein neues Lebensgefühl erzeugen? Oder wenn jemand, dem irgendeine Routinetätigkeit beim Hals heraushängt, diesen ein paar Mal in alle Richtungen verrenkte?
Kreativität heißt, immer das andere zu nutzen als das, was sich gerade aufdrängt. Wenn wir von der mühseligen Energie der Schöpfergottheit in Anspruch genommen sind, kann es uns befreien, ein Quäntchen von der musischen Göttin lebendig werden zu lassen. Wenn wir im Zweckfreien nicht mehr weiter wissen, können wir uns nach einer Ausrichtung umschauen, die uns mit einer Aufgabe betraut, sodass wir mehr von dem zum Universum beitragen, was wir in uns haben.
Ähnlich geht es uns auf Reisen: wir wollen irgendwo hin, aber dort dann tun, was gerade kommt. Wir setzen uns den Zweck, mehr von der Freiheit zu genießen. Und so können wir vieles in unserem Leben erleben: die Morgenroutine oder das Unterwegssein von A nach B, das Lesen eines Buches oder das Ausfüllen der Steuerabrechnung.
Und auch wenn es um unseren inneren Weg geht, so ist das ein Weg auf ein Ziel hin und zugleich ist er zweckfrei. Wäre er nur ein Tanz, so würden wir nur weitergehen, wenn wir Lust darauf verspüren; wäre es nur zielgerichtete Anstrengung, kämen wir auf diesem Weg nicht weiter, der zur Absichtslosigkeit führt. Wir brauchen Motivation, wenn wir irgendwo steckenbleiben, und wir brauchen Vertrauen, dass im Grund alles gut ist, wie es ist.
So schwindet der Unterschied zwischen dem Zweckhaften und dem Spielerischen: Das Zweckhafte erkennen wir in sich als etwas Verspieltes und das Verspielte hat dann auch seinen tieferen Zweck.
Ein Kunstwerk zu erschaffen bedeutet, etwas Individuelles gestalten, etwas Neues, das es zuvor noch nicht gegeben hat, etwas, das die Welt in besonderer, in dieser Weise noch nicht dagewesener Art bereichert. Kunst bricht mit Gewohnheiten, überrascht und konfrontiert. Ein Kunstwerk besticht nicht dadurch, den Hör- oder Sehgewohnheiten, die wir schon mitbringen, zu entsprechen und vorgefertigte Erwartungen zu bestätigen, sondern uns aus unseren Wahr-nehmungs- und Denkschablonen heraus zu reißen. Es wirkt nicht dadurch, dass ein bestehendes Bild bestätigt wird, sondern darin, dass neue Horizonte geöffnet werden.
Kunst ist diskontinuierlich, sie ist nicht ableitbar aus dem, was vorher da war und setzt einen augenscheinlichen und auffälligen Unterschied zu dem, was vorher da war. Sie sticht aus dem trägen Strom des Gewöhnlichen und Gewohnten heraus. Damit entstehen Risse im Gefüge der etablierten Ordnung, in denen Kreativität sprießen und wachsen kann. Wird die Kunst dieser Rolle nicht gerecht, so wird sie kitschig oder oberflächlich. Kunst muss, um Kunst zu sein, immer etwas Provokantes an sich haben, etwas Rebellisches, sei es durch die Form oder durch den Inhalt. Sie dient in ihren Wesen also nicht primär der Verschönerung oder Behübschung der Welt, nicht dem Bedürfnis nach Bequemlichkeit und Sicherheit, sondern der Verwandlung, der Wendung zum Besseren. Sie ist visionär, sie kümmert sich nicht um die scheinbaren Grenzen der Machbarkeit.
Jede Atemsitzung ist neu
Ähnlich können wir das Geschehen in einer Atemsitzung verstehen. Jede Atemsitzung ist neu, in dieser Weise noch nicht dagewesen, nicht ableitbar aus dem, was früher war. Sie bricht mit den Konventionen, die bisher Bestand hatten und die vorherrschende Komfortzone definierten. In der Atemsitzung ist jeder Atemzug als neuer erfahrbar. Mit jedem Atemzug wird erlebbar, dass sich das Leben auf neue Art fortsetzt und dass das Alte hinter sich gelassen werden kann, dass wir es nicht festhalten, bedauern und betrauern müssen, weil es ja schon vorbei ist. Jeder Atemzug setzt einen neuen Anfang, lässt Neues beginnen.
Wir erfinden als Atembegleiter zusammen mit der Atemreisenden in jeder Sitzung eine neue Methode. Wir wenden zwar einige Grundprinzipien an, die wir gelernt haben, müssen sie aber immer auf die aktuelle Situation und auf den konkreten Menschen beziehen. Dadurch gewinnt die Methode eine individuelle Gestalt, eine noch nie dagewesene Form, ähnlich der Einzigartigkeit eines Kunstwerks. Mit jedem Klienten und mit jeder Sitzung erfinden wir eine neue Therapie.
Es ist der innere Prozess oder der Atem, und nicht das Wollen, die Erwartungen oder irgend-welche Regeln, die über den Verlauf der Sitzung bestimmen. Weder der Atmende noch die Begleiterin verfügen über diesen Prozess. Er ist es, der das Geschehen vorgibt, indem er seinen Gang mit allen Wendungen geht, die er gehen will, mal ruhig und mal heftig, stärker und schwächer, leichter und schwerer, oberflächlicher oder tiefer. Er führt durch Phasen der Verwirrung und der Klarheit. Doch ist es nur das Ganze des Prozesses, in dem sich die verändernde Wirkung Gestalt gibt, gewissermaßen das vollendete Kunstwerk.
Atemsitzungen dienen primär nicht dem Wohlfühlen, der angenehmen Wellness-Entspannung, wiewohl solche Effekte erwünscht sind und auch häufig auftreten, sondern es geht vor allem um das vertiefte Kennenlernen des eigenen Inneren, um die Erforschung von Schattenbereichen, um das Kennenlernen von versteckten Gefühlen. Es geht um mehr innere Wahrheit und Klarheit, auch um den Preis, dass der Prozess unangenehme, schmerzhafte und verwirrende Phasen durchläuft. Es geht um eine Wandlung zum Besseren, die nicht durch die bewusste Absicht und durch kluge Planung erzielt wird, sondern durch das Vertrauen auf einen organischen und emotionalen Ablauf, dem sich die atmende Person möglichst bedingungslos anvertraut.
Der künstlerische Schaffensprozess
Auf diese Weise entstehen auch Kunstwerke. Der Künstler initiiert den Prozess, der ihn bald mit sich reißt und sich seiner Willkür entzieht. Es ist also ob die Form, die das Kunstwerk von sich aus entwickelt, bestimmt, mit welchem Inhalt sie gefüllt werden kann und mit welchem nicht. Schriftsteller berichten oft, dass sich die Figuren, die sie für einen Roman entwerfen, im Zug des Schreibens verselbständigen. Wer Gedichte schreibt, weiß, dass wir so lange nach den richtigen Worten suchen müssen, bis das Gedicht selber zufrieden ist.
Dabei ist es gleichgültig, ob der Künstler wie Mozart scheinbar leichthin und schnell die Noten hinwirft, die dann den wunderbaren Klang ergeben oder wie Beethoven lange um die Fertigstellung einer Partitur ringt. Fertig ist das Kunstwerk erst, wenn alles in ihm seinen Platz gefunden hat und ein integriertes Ganzes ergibt. Dann stellt sich die Erfahrung von Schönheit ein.
Die Vormacht des Prozesses
Auch in der therapeutischen Arbeit mit dem Atem müssen wir uns dieser Vormacht des Pro-zesses unterordnen. Wir können Impulse geben und Eingriffe tätigen, diese wirken jedoch nur, wenn sie dem inneren Verlauf der Sitzung dienen, ähnlich wie der Pinselstrich dann passt, wenn er vom Ganzen des Bildes akzeptiert wird, ähnlich wie jede Note zur Harmonie des ganzen Stücks zusammenklingen muss.
Wir kommen mit unserer Alltagsatmung in die Sitzung. In den Atemmustern sind unsere Gewohnheiten und Schwierigkeiten abgespeichert. Der Anfang der Atemsitzung besteht meis-tens darin, diese gewohnte Form der Atmung zu erweitern und zu vertiefen. Wir unterbrechen die eingeübte und konditionierte Kontinuität, um einer neuen Entwicklung das Tor zu öffnen. Damit beginnt die künstlerische Schaffensarbeit. Manchmal mäandert die Atmung zurück ins alte Muster, doch sucht sie dann wieder wie von selbst den Weg auf die neue Bahn, die mehr Freiheit verspricht. Schließlich mündet sie ein in einen weiteren Strom, der weder heftig noch zaghaft sein muss, sondern seine eigene neue Form gefunden hat. Damit geht eine innere Stimmung einher, die einen größeren und helleren Raum einnimmt und die erstrebte Freiheit repräsentiert.
Im Ganzen betrachtet, erkennen wir den Prozess als Metakontinuität, einem übergreifenden, in sich stimmigen Gesamtgefüge, in dem die einfache Kontinuität, die in den normalen, bewusst wie unbewusst ablaufenden Muster repräsentiert ist, und die Diskontinuität, der Bruch mit dieser Gewohnheit, der im bewussten Atmen geschieht, enthalten ist. Beide zusammen haben zu einer besseren Form des Atemflusses beigetragen, der nun ein befreiteres Bewusstsein bewirkt und dieses auch über die Sitzung hinaus durchs Leben begleiten kann.
Rekonstruktion statt Kausalität
In der Therapie wie in der Kunst rekonstruieren wir die Wirklichkeit. Im Atemprozess tauchen wir ein in die unterirdischen Ströme der Erinnerung, die beim Atmen als Körperphänomene, Empfindungen und Gefühle auftauchen können. Dabei entsteht ein neues dynamisches Abbild von früheren Erfahrungen und Erlebnissen, wie die neue Zusammensetzung eines Puzzles aus Bruchstücken, die vorher ohne Zusammenhang waren. Auch in der Kunst erzeugen wir mit deren verschiedenen Ausdrucksweisen eine neue Form der Realität aus dem, was vorhanden ist, indem wir es in Teile zerlegen und neu verbinden.
Wir wenden zwar in beiden Bereichen Techniken an – die Techniken der Komposition z.B. oder die Techniken des bewussten Atmens. Allerdings bleiben die Techniken Randphänomene: Denn das Geschehen, das in Gang gesetzt wird, hat keinen kausalen Verlauf im Sinne einer Wenn-Dann-Beziehung: Wenn ich mit der Komposition in einer bestimmten Weise beginne, dann nimmt sie einen vorhersehbaren Verlauf. Wenn ich die Atmung in bestimmter Weise anleite, kommt ein vorbestimmtes Resultat heraus. Vielmehr wird die Kausalität außer Kraft gesetzt, so gut es geht: Denn die Wenn-Dann-Beziehungen sind die musterhaft ablaufenden Zwänge, unter denen die Menschen leiden, und die alle Formen des Gebrauchsdesigns von der Kunst unterscheiden. Schönheit beginnt dort, wo es keine mechanischen Abläufe und stereotype Muster gibt, sondern wo sich das Fließen des Einmaligen in noch nie dagewesener Form zeigt. Mit der Schönheit gelangen wir ganz in den gegenwärtigen Moment, in den uns jeder bewusste Atemzug führt. Damit sind wir frei von den Konditionierungen und Abhängigkeiten, die unsere Freiheit einschränkten.
Künstlerische Kreativität
Die Kreativität ist die Domäne der Kunst. In ihr drückt sich die schöpferische Fantasie der Künstler in immer wieder neuen Formen aus. Kunst versteht sich als Nachschöpfung der Natur, in der die unendliche Vielfalt und Wandlungsfähigkeit des Lebens als Vorbild des kreativen Fließens auftritt.
Auch als Atmende und Atembegleitende sind wir kreativ Schaffende. Wir lassen das Fließen, das sich durch das freie Atmen öffnet, in neue Bereiche unserer Seele strömen und vertrauen uns dieser Schaffenskraft an, die entsteht, wenn sich die Blockierungen aus unseren festgefügten Gewohnheiten lösen. Als Prozessbegleiter gehen wir mit diesem kreativen Prozess mit und fügen unsere Impulse, die wieder aus einem inneren Fließen kommen, zum Geschehen hinzu.
Jede Atemsitzung ist eine Co-Kreation, ein gemeinsam erschaffenes Werk, das der Welt ein Stück Schönheit schenkt, ein Stück der Wandlung in die Richtung auf mehr Menschlichkeit und Freiheit. Das innere Erleben, das zum inneren Reichtum beiträgt, findet immer auch seinen Niederschlag im Äußeren, alles, was in uns zu einem besseren Fließen gelangen kann, erleichtert auch das Leben in der Welt, mit den Menschen um uns herum. Wir können die Gaben, die uns durch das Atemerlebnis geschenkt werden, nicht nicht teilen; sie teilen sich von selbst an das große Ganze in und um uns mit, von dem sie, wie jede Form der schöpferischen Gestaltung, ursprünglich herstammen.
Hier zu meinem Interview: Die geheime Macht des Atmens (mit Matthias Wittfoth)
Zweiter Link: https://soundcloud.com/matthias-wittfoth
Ein Text des islamischen Staates (IS, Daesh), in diesem Sommer veröffentlicht, beschreibt das Weltbild der “Gotteskämpfer” in sechs Punkten und bietet ein deutliches Bild für ein geschlossenes System.
Die Ausgangsfrage des Textes ist: Warum wir euch hassen? Mit "wir" sind die jihadistischen Kämpfer oder die nach ihrer Ansicht idealen Moslems gemeint, mit „euch“ alle Nicht-Muslime. Die Menschheit ist also in zwei Teile geteilt, jene, die dem muslimischen Glauben jihadistischer Interpretation anhängen und den anderen Ungläubigen, etwas Drittes gibt es nicht. Es wird also eine Welt von Weiß und Schwarz konstruiert, in der es nur diese zwei polaren Seiten gibt, und da liegt dann der Gedanke nicht fern, dass diese zwei Seiten sich nur hassen können und deshalb gegeneinander kämpfen müssen.
Tatsächlich ist ja nichts klar – es gibt nicht einmal den geschlossenen Block von Muslimen, von dem der Text ausgeht. Die weitaus überwiegende Zahl von Muslimen distanziert sich von den IS-Ideologen und jihadistischen Koran-Auslegungen, und viele gläubige Moslems erkennen, welchen Schaden die Radikalen dem Islam durch ihren Extremismus und ihre Gewaltbereitschaft zufügen. Doch führt gerade die Nicht-Geschlossenheit des Islams dazu, dass es keine klare, eindeutige und einstimmige theologische Verurteilung des IS gibt, die ihm jede Grundlage, für den Islam zu sprechen, entzöge.
Die IS-Ideologie ist, wie das bei allen populistischen Ideologien der Fall ist, eine Funktion ihrer Propaganda. Sie will gerade dadurch beeindrucken und Anhänger rekrutieren, dass sie ihr einfaches Bild präsentiert: Hier die Guten, die an die wahre Lehre glauben und deshalb richtig handeln, dort alle Bösen, die vernichtet werden müssen. Wer sich nicht der Mühe der Differenzierung, der Faktenklärung und der Reflexion unterzieht, kann dieser Propaganda schnell auf den Leim gehen.
Der Hasstext
Hier nun der Text des IS-Hass-Manifests:
Warum wir euch hassen?
1. Weil ihr Ungläubige seid
"Wir hassen euch, zuallererst und am allermeisten, weil ihr Ungläubige seid. Ihr leugnet die Einzigartigkeit Allahs, ihr lästert gegen ihn, behauptet, dass er einen Sohn habe, fabriziert Lügen über seine Propheten und Boten, und ihr versündigt euch in jeder Weise mit teuflischen Praktiken."
2. Weil ihr liberal seid
"Wir hassen euch, weil ihr säkular seid. Liberale Gesellschaften erlauben genau jene Dinge, die Allah verboten hat, und verbieten viele Dinge, die Er erlaubt hat, etwas, was euch nicht kümmert, weil euer christlicher Unglaube und euer Heidentum Religion und Staat unterscheiden und somit euren Launen und Wünschen die überlegene Autorität vermittels der Gesetzgeber git, die ihr in die Macht wählt."
3. Weil einige von euch Atheisten sind
"Im Fall der atheistischen Randgruppe hassen wir euch und führen Krieg gegen euch, weil ihr nicht in die Existenz eures Herrn und Schöpfers glaubt."
4. Für eure Verbrechen gegen den Islam
"Wir hassen euch für eure Verbrechen gegen den Islam und führen Krieg gegen euch, um euch für das Vorgehen gegen unsere Religion zu strafen."
5. Für eure Verbrechen gegen Muslime
"Wir hassen euch für eure Verbrechen gegen Muslime; eure Drohnen und Fliegerbomben, die unsere Menschen auf der ganzen Welt töten und maim, und eure Marionetten, die in den besetzten Ländern der Muslime unterdrücken, folternKrieg gegen jeden führen, der der Wahrheit folgt."
6. Für den Einfall in unsere Ländern
"Wir hassen euch für den Einfall in unsere Länder und kämpfen gegen euch und vertreiben euch. So lange als ein Zentimeter des Territoriums überbleibt, den wir beanspruchen, wird der Jihad eine persönliche Verpflichtung für jeden einzelnen Muslim bleiben."
Die Selbstwidersprüchlichkeit des Hassens
Auf Hass begründete Ideologien haben kein Zukunftspotenzial. Auf Hass lässt sich keine Gesellschaft aufbauen, weil Hass ein antisoziales Gefühl darstellt. Insofern brauchen wir uns als Demokraten keine Sorgen machen, es ist nur eine Frage der Zeit, bis dieses „Kalifat“ unter seiner eigenen Ideologie zusammenbricht.
Hass ist das, was uns von anderen Menschen abtrennt und damit auch von uns selber. Hass erschafft eine Spaltung, und jede Spaltung lässt uns leiden. Im Hass verkriechen wir uns in uns selber, voll des Bemühens, uns selber als die Besseren und Alleinbesitzer der Wahrheit darzustellen, als die Einzigen, die die richtigen und guten Handlungen setzen. Begründen können wir diesen Anspruch nur dadurch, dass wir die anderen als die Schlechten darstellen, die die Unwahrheit verbreiten und Böses tun, also durch beständige Propaganda, die wir nach außen und nach innen verbreiten müssen.
Diese Maßstäbe für das Gute und das Böse haben keinen allgemein vertretbaren, verstehbaren und akzeptablen Angelpunkt, sie sind deshalb voll und ganz willkürlich und partikularistisch. Jeder kann solche oder ganz andere Maßstäbe frei nach Belieben definieren, die Frage ist nur, wieviele andere sich den eigenen Maßstäben anschließen, wieviele also bereit sind, die eigene Paranoia zu teilen.
Jede kollektive Paranoia vermittelt eine gewisse Sicherheit innerhalb ihrer engen Grenzen und kann die entsprechende Schlagkraft mobilisieren, sie führt aber nicht weiter im Sinn der Erkenntnis der Wahrheit oder des Guten, im Gegenteil: Die Folgen sind Verzerrungen der Wirklichkeit und brutale Gewalttätigkeiten im Handeln.
Geschlossene Systeme neigen von sich aus zur Verengung. Sie beruhen auf Ängsten und sie wollen Ängste weitergeben und ausbreiten. Wo noch keine Angst ist, soll Angst werden. Alle, die drin sind, fürchten sich schon, weil sie instinktiv wissen, dass ihr System keine Zukunft hat. Wenn sie sich selber schon fürchten, sollen sich auch alle andere fürchten, deshalb werden sie mit dem eigenen Hass bedroht.
Geschlossene Systeme nehmen alles andere, was sie nicht sind, auch als geschlossene Systeme wahr, weil eben im Rahmen der eigenen Paranoia kein Platz für offene Systeme ist und dafür auch kein Rahmen für ein Verstehen gegeben ist. Deshalb sehen sie die Kampfsituation, in die sie sich hineinmanövrieren, als gleichrangig und symmetrisch an: Wir kämpfen gegen die Bösen und müssen danach trachten, sie zu besiegen und auszurotten. Sie, die anderen, wollen das Gleiche uns antun. Es ist also eine Spiegelsituation, sie sehen das eigene Böse in den Taten der anderen, die Bomben werfen und Zerstörung anrichten.
Toleranz für Intoleranz?
Gesellschaften, die sich über diese einfachen Niveaus des Denkens hinaus entwickelt haben, geraten in der Begegnung mit der Aggressivität der geschlossenen System in ein Dilemma: Toleranz für Intolerante? Gerechtigkeit für Ungerechte? Häufig wird der Schluss gezogen: Wir müssen auf das Niveau der Bösewichter zurückgehen und sie dort mit unserer Überlegenheit an Gewalttätigkeit vernichten, dann könnten wir wieder auf das Niveau einer toleranteren und friedliebenden Gesellschaft zurückkehren. Diese Strategie geht aber nicht auf. Jede Gewalttätigkeit, auch wenn sie in der Verteidigung der Menschlichkeit geführt wird, hat Folgen, die daran hindern, nach einem Krieg wieder zur Tagesordnung zurückzukehren. Es muss auch die eigene Gewalttätigkeit und ihre Opfer betrauert werden, sonst bleibt der Ruch der Gewalt im eigenen Land. Und zu einem derartigen Schritt waren gerade die Sieger in der Geschichte noch nie bereit.
Das heißt aber nicht, dass der Mantel der Gutherzigkeit über das Böse gebreitet werden sollte. Jeder, der Gewalt vom Zaum bricht und Hass schürt, muss in die Schranken gewiesen werden, allerdings mit einer Gewalt, die auf einem reflektierten Gerechtigkeitsbewusstsein beruht, die also nicht auf Hass, sondern auf Verantwortung für die Befreiung von Hass und Gewalt beruht und sich immer wieder darauf rückbezieht.
Die Feigheit der Gewalttäter
Das Paradoxe daran ist, dass die, die ihr eigenes Leben für ihre Paranoia aufs Spiel setzen, feiger sind als jene, die sich ihren Ängsten stellen, um mehr Offenheit und Freiheit zu gewinnen. Es erfordert mehr Mut, den Weg nach Innen zu gehen als den, das eigene Böse im Außen mit dem Risiko des eigenen Todes zu bekämpfen. Es erfordert mehr Mut, die eigenen Überzeugungen zu überprüfen und zu revidieren, wenn sie in der Praxis und gegenüber der Wirklichkeit nicht taugen, als blind den Parolen zu folgen, die andere vorgekaut haben. Es erfordert mehr Mut, dem Andersdenkenden zu begegnen und sich ehrlich mit ihm auseinanderzusetzen als ihm den Kopf abzuschlagen.
Aus Hass lernen?
Was können wir damit anfangen? Wir können in uns nachfragen, ob wir geschlossen oder offen leben wollen. Es bedeutet auch, ob wir uns weiterentwickeln oder so bleiben wollen, wie wir gerade sind. Wollen wir die Ängste, an denen wir leiden, so belassen, wollen wir die Probleme, auf die wir im Leben stoßen, weiter mit uns herumtragen, wollen wir das, was wir schon zwanzig Jahre denken, die nächsten zwanzig Jahre genauso denken?
Wir sind frei, unsere Geschlossenheiten so zu belassen, wie sie sind. Wir sollten uns allerdings überlegen, welchen Preis wir selber dafür zahlen und welchen wir unseren Mitmenschen zumuten, ohne sie dafür um Erlaubnis zu fragen.
Wir sind aber auch frei, die Offenheit zu suchen, um unsere Freiheit zu erweitern. Das Ausmaß an Geschlossenheit, das wir in uns tragen, ist abhängig von unserem Sicherheitsbedürfnis, das das Ausmaß unserer inneren Ängste wiedergibt. Es zeigt sich in unseren Neigungen, geschlossene Weltbilder, Ideengebäude und Gefühlskomplexe zu übernehmen. Immer dort aber, wo wir uns von solchen Einengungen verabschieden, verabschieden wir uns auch von den damit verbundenen Ängsten und werden ein Stück lebendiger. Ebenso schenken wir der Gesellschaft, in der wir leben, mehr Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten.