Trotz dieser theoretischen und praktischen Schwierigkeiten nutzen wir Diagnosen wie verschärfte Formen der Bewertung. Wenn uns jemand aggressiv begegnet, bezeichnen wir ihn als Psychopathen, wenn jemand nicht angemessen auf uns reagiert, nennen wir sie hysterisch oder depressiv.
Sylvester Walch nennt das Schattenverschreibungen - Schatten, also unbewusste Anteile, die wir anderen Menschen unterstellen, weil wir aus irgendeinem Grund mit ihnen Schwierigkeiten haben. Die Benennung gibt uns die Sicherheit, dass es nicht an uns liegt und dass wir die andere Person einordnen können, sodass sie uns nicht gefährlich werden kann.
"Es ist wichtig, sich vor Schattenverschreibungen zu hüten. In der therapeutischen Arbeit ist das natürlich ein Thema ... Aber im normalen zwischenmenschlichen Kontakt soll das nicht geschehen, vor allem nicht in einer kämpferischen Art und Weise, wo ich dem anderen beweisen möchte, wie schlecht er ist. Denn sobald Schatten mit Bewertung zu tun hat - das gilt übrigens auch für Diagnosen -, wird es nicht mehr hilfreich sein, ihn zu erwähnen." (Sylvester Walch, Die ganze Fülle deines Lebens, Fischer & Gann 2016, S. 79)Diagnosen umschreiben Störungsbilder. Sie machen aus einem vielfältigen und multidimensionalen Wesen ein eindeutig definiertes, aus etwas Fließendem etwas fest Umgrenztes. Der Mensch wird auf das reduziert, was bei ihm nicht optimal funktioniert: Du reagierst nicht so, wie es von einem Durchschnittsfall aus deiner Populationsgruppe erwartet werden könnte, folglich bist du ein Fall von ...., also ein minderes Exemplar, das noch unfertig ist und erst nach entsprechender Verbesserung in den Kreis vollwertiger Menschen aufgenommen werden kann.
Ingeborg Bachmann hat in dem beklemmenden Romanfragment "Der Fall Franza" das Schicksal einer Frau dargestellt, die von ihrem Mann, der Psychiater ist, diagnostiziert und analysiert wird. Sie scheint in seinen Notizen als krankheitswertiger Fall auf, der in einem "großartigen Versuch" psychologisch durchleuchtet wird, bis die Frau schließlich in eine Klinik eingewiesen wird.
Diagnosen sondern Menschen aus. Ihr Sinn wird damit begründet, dass sie Menschen behandelbar machen und damit dem Bestreben der Gesundheitsapparate entgegenkommen: Die Krankheit wird definiert, die entsprechende Behandlung angewandt, die Besserung oder Heilung dokumentiert. Je exakter die Diagnose, desto besser die Heilungschancen.
So einleuchtend diese Prozedur bei vielen körperlichen Erkrankungen sein kann, so irreführend ist es, sobald psychische Komponenten an der Krankheit beteiligt sind - und die Frage ist, ob solche Einflüsse nicht jedesmal mitspielen, wenn es zu irgendeiner Erkrankung kommt. Das mechanische Modell, das bei einer Blinddarmentzündung hilfreich ist, wird immer unbrauchbarer, je komplexer die Störung ist, je mehr also der psychische Bereich mit ins Spiel kommt.
Eine Diagnose zieht eine scharfe Grenze zwischen gesund und krank. Bis hierher ist jemand normal, jenseits davon ist jemand gestört. In der Wirklichkeit gibt es solche Grenzen nicht, vielmehr bestehen Kontinuitäten und graduelle Unterschiede. Es gibt gerade im Bereich psychischer Störungen viele Formen, die situationsabhängig zu Pathologie oder zu Unauffälligkeit neigen.
Bei unachtsam angewendeten Diagnosen handelt es sich um massive kategoriale Abwertungen, die die Person aus dem Zentrum der gesellschaftlichen Interaktion herausrücken als jemand, der eine gesonderte Behandlung notwendig hat. Diagnosen schaffen nicht nur Unterschiede von oben nach unten, wie sie schon in einfacheren Bewertungen vorgenommen werden: Du bist der Trottel, ich bin besser und dir damit überlegen und übergeordnet. Dazu noch grenzen sie horizontal aus: Sie machen einen Unterschied zwischen dem Zentrum, in dem sich das Gesunde und Normale aufhält, und dem Rand, an dem das Gestörte und Abnormale angesiedelt wird.
Aus vielen Gründen ist deshalb große Vorsicht geboten, solche Diagnosen anzuwenden. Sie sollten auf zwingende Notwendigkeiten beschränkt bleiben. Gesundheitssysteme müssen ihre Gelder verwalten und brauchen definierte Verwendungszwecke. Für diese Zwecke gibt es die Diagnoseschlüssel und -tabellen. Und wegen der heiklen Lage sind solche Befunde datenrechtlich vor Weiterverbreitung und Missbrauch geschützt.
Außerdem sind Diagnosen für die praktische Arbeit mit Patienten oder Klienten nicht brauchbar. Denn sie verhindern den Blick auf die Vielschichtigkeit, die jeder Mensch in sich trägt. Sie bewirken mentale Verhärtungen, starre Kategorisierungen, die der dynamischen Natur des Lebens nicht gerecht werden und damit auch einer inneren Weiterentwicklung hinderlich im Weg stehen können. Denn solche Etikettierungen werden leicht verinnerlicht, womit die Störung als Teil der Identität aufgebaut wird, bis die Identität die Störung stabilisiert.
Manchen Leidenden kann eine Diagnose entlasten. Das eigene Problem bekommt einen Namen, und es gibt andere, die an ähnlichen Symptomen leiden. Doch gilt dieser Nutzen nur, wenn die Diagnose in einem achtungsvollen Rahmen vermittelt wird und nicht wie ein Urteil von einer übergeordneten richtenden Instanz übergestülpt wird. Diagnosen sollten also nur in Absprache mit den betroffenen Personen zugeordnet werden. Keinesfalls ist es ethisch vertretbar, über andere ohne deren Einverständnis Diagnosen auszusprechen.
Diagnosen sind immer fehleranfällig. Diese bekannte Geschichte zeigt, was wir von der Stichhaltigkeit von Diagnosen halten können:
Zwei Psychiater, die sich nicht kennen, bekommen den Auftrag, jeweils den anderen, der schizophren sei, der aber behaupte, er sei Psychiater, zu behandeln. In den Gesprächen bestätigen beide die anfangs angenommene Schizophrenie. Beide Psychiater sind allerdings völlig normal, und die Situation zeigt die Absurdität von Voreinstellungen und Bewertungen.
Körperliche und seelische Erkrankungen: Zweierlei Maß
Warum tun wir uns leichter, körperliche Krankheiten zuzugeben als seelische? Warum haben wir mehr Mitgefühl und Verständnis, wenn über jemanden gesagt wird, er wäre schwer verkühlt als wenn gesagt wird, er leide an einer Zwangsstörung? Beides sind gestörte Funktionsabläufe in einem Organismus, beides bereitet den betroffenen Personen Leiden, und doch haben wir unterschiedliche innere Kategorien, in die wir die beiden Nachrichten einordnen: Wir gehen davon aus, dass Körperkrankheiten aus irgendwelchen Quellen entstehen, die nicht in unserer Macht liegen. Die Krankheit befällt uns und wir müssen schauen, wie wir damit fertig werden.
Bei Seelenkrankheiten nehmen wir an, dass die betroffene Person mangels Eigenverantwortung gestört ist (viel seltener sagen wir … erkrankt ist). Sie hat sich zu wenig „zusammengerissen", zu wenig angestrengt, sie hat zu wenig Eigeninitiative gezeigt usw. Sie ist also selber schuld. Deshalb gönnen wir ihr weniger Mitgefühl, sondern neigen eher zu Herablassung und Verachtung. Diese Gefühle geben uns die Sicherheit, auf der richtigen und gesunden Seite zu sein. Es scheint so, als würden uns solche Störungen mehr Angst machen als "einfache" körperliche Erkrankungen.
Auch aus der Geschichte gibt es viele Beispiele, die die Diskriminierung von Geisteskrankheiten belegen. Schizophrene wurden bis ins 19. Jahrhundert in Verliese eingesperrt. Alle möglichen grausamen Prozeduren wurden an ihnen erprobt, und im Nationalsozialismus wurden sie als lebensunwertes Leben ermordet.
Der Grund für diese merkwürdige Abwertung der seelischen Krankheiten liegt vermutlich darin, dass seelische Störungen das Sozialleben stärker gefährden als körperliche Erkrankungen. Wir können mit jemandem, der eine Grippe hat, weiterhin normal kommunizieren; seine Persönlichkeit bleibt von der Krankheit unverändert (so nehmen wir zumindest an) und der Heilungsprozess betrifft nur den Körper. Wir fühlen uns auch im Wesentlichen gleich mit uns selbst, wenn wir Kopfweh haben, während sich bei einer seelischen Störung häufig unser Selbstverständnis, also das, was wir von uns selber halten und wie wir zu uns selbst stehen, drastisch verändern kann. Und wir wirken anders auf andere, denn auch das Kommunikationsverhalten ändert sich. Die Irritation ist zweifach und verstärkt sich gegenseitig.
Wir können erst von dem an sich unsinnigen Wertungsunterschied zwischen körperlichen und seelischen Erkrankungen wegkommen, wenn wir selber bereit sind, seelische Störungen als das einzuschätzen, was sie sind: aus der Bahn gelaufene innere Regulationsmechanismen, genau wie bei den körperlichen Störungen. Und wenn wir erkennen, dass wir alle da und dort, in dieser oder jener Situation, unsere optimale Verfassung und Handlungsfähigkeit verfehlen. Dann wollen wir nicht gleich psychiatrisch diagnostiziert werden, sondern Verständnis und Respekt. So wird es uns leichter fallen, auf Zuschreibungen, die aus unserer eigenen Wertungsorientierung stammen, zu verzichten und den Menschen vor jede Diagnose zu stellen und in seinem besonderen Wert anzuerkennen.
Sonst wird Karl Kraus immer Recht behalten: „Eine der verbreitetsten Krankheiten ist die Diagnose.“ Besser hingegen sollte es uns mit Georg Kreislers Lied gehen: „Keine Diagnose. Kein Präparat. Keinerlei Prognose. Kein Resultat. Abgefühlt, betastet, erblich nicht belastet - unheilbar gesund.“
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