Die Ausgangsfrage des Textes ist: Warum wir euch hassen? Mit "wir" sind die jihadistischen Kämpfer oder die nach ihrer Ansicht idealen Moslems gemeint, mit „euch“ alle Nicht-Muslime. Die Menschheit ist also in zwei Teile geteilt, jene, die dem muslimischen Glauben jihadistischer Interpretation anhängen und den anderen Ungläubigen, etwas Drittes gibt es nicht. Es wird also eine Welt von Weiß und Schwarz konstruiert, in der es nur diese zwei polaren Seiten gibt, und da liegt dann der Gedanke nicht fern, dass diese zwei Seiten sich nur hassen können und deshalb gegeneinander kämpfen müssen.
Tatsächlich ist ja nichts klar – es gibt nicht einmal den geschlossenen Block von Muslimen, von dem der Text ausgeht. Die weitaus überwiegende Zahl von Muslimen distanziert sich von den IS-Ideologen und jihadistischen Koran-Auslegungen, und viele gläubige Moslems erkennen, welchen Schaden die Radikalen dem Islam durch ihren Extremismus und ihre Gewaltbereitschaft zufügen. Doch führt gerade die Nicht-Geschlossenheit des Islams dazu, dass es keine klare, eindeutige und einstimmige theologische Verurteilung des IS gibt, die ihm jede Grundlage, für den Islam zu sprechen, entzöge.
Die IS-Ideologie ist, wie das bei allen populistischen Ideologien der Fall ist, eine Funktion ihrer Propaganda. Sie will gerade dadurch beeindrucken und Anhänger rekrutieren, dass sie ihr einfaches Bild präsentiert: Hier die Guten, die an die wahre Lehre glauben und deshalb richtig handeln, dort alle Bösen, die vernichtet werden müssen. Wer sich nicht der Mühe der Differenzierung, der Faktenklärung und der Reflexion unterzieht, kann dieser Propaganda schnell auf den Leim gehen.
Der Hasstext
Hier nun der Text des IS-Hass-Manifests:
Warum wir euch hassen?
1. Weil ihr Ungläubige seid
"Wir hassen euch, zuallererst und am allermeisten, weil ihr Ungläubige seid. Ihr leugnet die Einzigartigkeit Allahs, ihr lästert gegen ihn, behauptet, dass er einen Sohn habe, fabriziert Lügen über seine Propheten und Boten, und ihr versündigt euch in jeder Weise mit teuflischen Praktiken."
2. Weil ihr liberal seid
"Wir hassen euch, weil ihr säkular seid. Liberale Gesellschaften erlauben genau jene Dinge, die Allah verboten hat, und verbieten viele Dinge, die Er erlaubt hat, etwas, was euch nicht kümmert, weil euer christlicher Unglaube und euer Heidentum Religion und Staat unterscheiden und somit euren Launen und Wünschen die überlegene Autorität vermittels der Gesetzgeber git, die ihr in die Macht wählt."
3. Weil einige von euch Atheisten sind
"Im Fall der atheistischen Randgruppe hassen wir euch und führen Krieg gegen euch, weil ihr nicht in die Existenz eures Herrn und Schöpfers glaubt."
4. Für eure Verbrechen gegen den Islam
"Wir hassen euch für eure Verbrechen gegen den Islam und führen Krieg gegen euch, um euch für das Vorgehen gegen unsere Religion zu strafen."
5. Für eure Verbrechen gegen Muslime
"Wir hassen euch für eure Verbrechen gegen Muslime; eure Drohnen und Fliegerbomben, die unsere Menschen auf der ganzen Welt töten und maim, und eure Marionetten, die in den besetzten Ländern der Muslime unterdrücken, folternKrieg gegen jeden führen, der der Wahrheit folgt."
6. Für den Einfall in unsere Ländern
"Wir hassen euch für den Einfall in unsere Länder und kämpfen gegen euch und vertreiben euch. So lange als ein Zentimeter des Territoriums überbleibt, den wir beanspruchen, wird der Jihad eine persönliche Verpflichtung für jeden einzelnen Muslim bleiben."
Die Selbstwidersprüchlichkeit des Hassens
Auf Hass begründete Ideologien haben kein Zukunftspotenzial. Auf Hass lässt sich keine Gesellschaft aufbauen, weil Hass ein antisoziales Gefühl darstellt. Insofern brauchen wir uns als Demokraten keine Sorgen machen, es ist nur eine Frage der Zeit, bis dieses „Kalifat“ unter seiner eigenen Ideologie zusammenbricht.
Hass ist das, was uns von anderen Menschen abtrennt und damit auch von uns selber. Hass erschafft eine Spaltung, und jede Spaltung lässt uns leiden. Im Hass verkriechen wir uns in uns selber, voll des Bemühens, uns selber als die Besseren und Alleinbesitzer der Wahrheit darzustellen, als die Einzigen, die die richtigen und guten Handlungen setzen. Begründen können wir diesen Anspruch nur dadurch, dass wir die anderen als die Schlechten darstellen, die die Unwahrheit verbreiten und Böses tun, also durch beständige Propaganda, die wir nach außen und nach innen verbreiten müssen.
Diese Maßstäbe für das Gute und das Böse haben keinen allgemein vertretbaren, verstehbaren und akzeptablen Angelpunkt, sie sind deshalb voll und ganz willkürlich und partikularistisch. Jeder kann solche oder ganz andere Maßstäbe frei nach Belieben definieren, die Frage ist nur, wieviele andere sich den eigenen Maßstäben anschließen, wieviele also bereit sind, die eigene Paranoia zu teilen.
Jede kollektive Paranoia vermittelt eine gewisse Sicherheit innerhalb ihrer engen Grenzen und kann die entsprechende Schlagkraft mobilisieren, sie führt aber nicht weiter im Sinn der Erkenntnis der Wahrheit oder des Guten, im Gegenteil: Die Folgen sind Verzerrungen der Wirklichkeit und brutale Gewalttätigkeiten im Handeln.
Geschlossene Systeme neigen von sich aus zur Verengung. Sie beruhen auf Ängsten und sie wollen Ängste weitergeben und ausbreiten. Wo noch keine Angst ist, soll Angst werden. Alle, die drin sind, fürchten sich schon, weil sie instinktiv wissen, dass ihr System keine Zukunft hat. Wenn sie sich selber schon fürchten, sollen sich auch alle andere fürchten, deshalb werden sie mit dem eigenen Hass bedroht.
Geschlossene Systeme nehmen alles andere, was sie nicht sind, auch als geschlossene Systeme wahr, weil eben im Rahmen der eigenen Paranoia kein Platz für offene Systeme ist und dafür auch kein Rahmen für ein Verstehen gegeben ist. Deshalb sehen sie die Kampfsituation, in die sie sich hineinmanövrieren, als gleichrangig und symmetrisch an: Wir kämpfen gegen die Bösen und müssen danach trachten, sie zu besiegen und auszurotten. Sie, die anderen, wollen das Gleiche uns antun. Es ist also eine Spiegelsituation, sie sehen das eigene Böse in den Taten der anderen, die Bomben werfen und Zerstörung anrichten.
Toleranz für Intoleranz?
Gesellschaften, die sich über diese einfachen Niveaus des Denkens hinaus entwickelt haben, geraten in der Begegnung mit der Aggressivität der geschlossenen System in ein Dilemma: Toleranz für Intolerante? Gerechtigkeit für Ungerechte? Häufig wird der Schluss gezogen: Wir müssen auf das Niveau der Bösewichter zurückgehen und sie dort mit unserer Überlegenheit an Gewalttätigkeit vernichten, dann könnten wir wieder auf das Niveau einer toleranteren und friedliebenden Gesellschaft zurückkehren. Diese Strategie geht aber nicht auf. Jede Gewalttätigkeit, auch wenn sie in der Verteidigung der Menschlichkeit geführt wird, hat Folgen, die daran hindern, nach einem Krieg wieder zur Tagesordnung zurückzukehren. Es muss auch die eigene Gewalttätigkeit und ihre Opfer betrauert werden, sonst bleibt der Ruch der Gewalt im eigenen Land. Und zu einem derartigen Schritt waren gerade die Sieger in der Geschichte noch nie bereit.
Das heißt aber nicht, dass der Mantel der Gutherzigkeit über das Böse gebreitet werden sollte. Jeder, der Gewalt vom Zaum bricht und Hass schürt, muss in die Schranken gewiesen werden, allerdings mit einer Gewalt, die auf einem reflektierten Gerechtigkeitsbewusstsein beruht, die also nicht auf Hass, sondern auf Verantwortung für die Befreiung von Hass und Gewalt beruht und sich immer wieder darauf rückbezieht.
Die Feigheit der Gewalttäter
Das Paradoxe daran ist, dass die, die ihr eigenes Leben für ihre Paranoia aufs Spiel setzen, feiger sind als jene, die sich ihren Ängsten stellen, um mehr Offenheit und Freiheit zu gewinnen. Es erfordert mehr Mut, den Weg nach Innen zu gehen als den, das eigene Böse im Außen mit dem Risiko des eigenen Todes zu bekämpfen. Es erfordert mehr Mut, die eigenen Überzeugungen zu überprüfen und zu revidieren, wenn sie in der Praxis und gegenüber der Wirklichkeit nicht taugen, als blind den Parolen zu folgen, die andere vorgekaut haben. Es erfordert mehr Mut, dem Andersdenkenden zu begegnen und sich ehrlich mit ihm auseinanderzusetzen als ihm den Kopf abzuschlagen.
Aus Hass lernen?
Was können wir damit anfangen? Wir können in uns nachfragen, ob wir geschlossen oder offen leben wollen. Es bedeutet auch, ob wir uns weiterentwickeln oder so bleiben wollen, wie wir gerade sind. Wollen wir die Ängste, an denen wir leiden, so belassen, wollen wir die Probleme, auf die wir im Leben stoßen, weiter mit uns herumtragen, wollen wir das, was wir schon zwanzig Jahre denken, die nächsten zwanzig Jahre genauso denken?
Wir sind frei, unsere Geschlossenheiten so zu belassen, wie sie sind. Wir sollten uns allerdings überlegen, welchen Preis wir selber dafür zahlen und welchen wir unseren Mitmenschen zumuten, ohne sie dafür um Erlaubnis zu fragen.
Wir sind aber auch frei, die Offenheit zu suchen, um unsere Freiheit zu erweitern. Das Ausmaß an Geschlossenheit, das wir in uns tragen, ist abhängig von unserem Sicherheitsbedürfnis, das das Ausmaß unserer inneren Ängste wiedergibt. Es zeigt sich in unseren Neigungen, geschlossene Weltbilder, Ideengebäude und Gefühlskomplexe zu übernehmen. Immer dort aber, wo wir uns von solchen Einengungen verabschieden, verabschieden wir uns auch von den damit verbundenen Ängsten und werden ein Stück lebendiger. Ebenso schenken wir der Gesellschaft, in der wir leben, mehr Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen