Freitag, 23. August 2024

Dimensionen des Glücks

Wenn es um das Glück geht, wird häufig zwischen Hedonismus und Eudaimonismus unterschieden. Beide Begriffe gehen auf die griechische Philosophie zurück. Mit Hedonismus (griech. hedoné: Vergnügen, Lust, Begierde) wird ein Glückszustand verstanden, der kurzzeitig anhält und möglichst häufig erreicht werden soll. Der psychologische Hedonismus ist eine Theorie, dass alle menschlichen Handlungen auf die Vermehrung von Lust und die Verringerung von Schmerz ausgerichtet sind.

Der Eudaimonismus geht auf Aristoteles zurück, der das Glück mit dem ethisch rechten Handeln in Verbindung brachte. Wenn die Lebensführung dem Guten dient, werden nicht nur die eigenen Fähigkeiten optimal entfaltet, es stellt sich auch ein ausgeglichenes und gelassenes Gemüt ein. Gutes zu tun, trägt einen inneren Wert in sich und führt zur Übereinstimmung mit sich selbst, während böse oder schlechte Taten nicht nur Schaden anrichten, sondern auch zu einer inneren Spaltung und zum Unglück führen. 

Zwei US-amerikanische Psychologen haben eine Studie veröffentlicht, in der sie für eine dritte Dimension des Glücks plädieren. Sie berufen sich dabei auf Friedrich Nietzsche, der seinen Zarathustra im Kapitel „Der Wanderer“ sprechen lässt: „Gipfel und Abgrund – das ist jetzt in Eins beschlossen! Du gehst deinen Weg der Größe: Nun ist deine letzte Zuflucht worden, was bisher deine letzte Gefahr hieß!“ Shigehiro Oishi (Psychologieprofessor in Chicago) und Erin Westgate (Assistenzprofessorin an der Universität von Florida) sehen die Figur des Wanderers als Beispiel für ein „psychologisch reiches Leben“, das sich mit Hedonismus (Glück als Lustmaximierung) und Eudaimonismus (Glück als sinnerfülltes Tun des Guten) nicht zufrieden gibt.

Kognitive Komplexität

Nach den Studien von Oishi und Westgate geht es bei dieser Form des Glücks zunächst um „kognitive Komplexität“. Das mentale Erfassen der Vielgestaltigkeit der Phänomene, ihrer Ambivalenz und Bedeutungsvielfalt ist eine Qualität, die das Wechseln von Perspektiven und das Einnehmen unterschiedlicher Sichtweisen erleichtert. Damit wird die Wirklichkeit mehrdimensional wahrnehmbar und verständlich. Einseitige Standpunkte, monotone Gedankenschleifen oder wiederkehrende emotionale Muster  werden langweilig und überflüssig. Andere Menschen werden nicht mehr auf isolierte Bewertungen festgenagelt („Herr X. ist ein Schwachkopf“), sondern in ihrer Vielschichtigkeit („Herr X. hat mir einen schlechten Rat gegeben, aber sonst ist er ein netter Mensch.“) Das Tun der Menschen, auch wenn es nicht den eigenen Normen entspricht, wird erst aus einer Vielzahl von möglichen Motiven verständlich. 

Menschen, denen diese Form des Glücks vertraut ist, lassen sich gerne überraschen und entdecken mit Vorliebe neue Aspekte an dem, was sie erleben. Oft pflegen sie eine Vielfalt an Interessen. Sie sind in ihren politischen Ansichten offen und lernfähig. Es fällt ihnen leicht, Toleranz zu üben und unterschiedliche Lebensformen oder sexuelle Orientierungen zu akzeptieren. Durch die Flexibilität in ihrem Erleben gelingt es ihnen, aus Erfahrungen, die unangenehm oder irritierend sind, einen Wert zu ziehen und einen positiven Kontext zu finden. Dadurch wird das Ertragen von Belastungen und schlechten Erfahrungen erleichtert. Krisen können als Lernchancen begriffen und genutzt werden.

Diese Form des Glücks taucht auch bei allen Formen der Kreativität auf. Der schöpferische Prozess beinhaltet Momente der Überraschung und des Entdeckens von neuen Möglichkeiten. Er erweitert den Horizont und öffnet neue Perspektiven, für die Person, die das Werk in die Welt bringt, und für alle, die es erleben. Der Vorgang des Schaffens ist häufig von einem erhebenden und mitreißenden Flow-Zustand begleitet: Das kreative Tun wird zu einem Geschehen, das das ganze Innere ausfüllt, ohne irgendeine Kontrolle durch einen kritischen Verstand. 

Die Reise in die Tiefe

Der wandernde Zarathustra ist allerdings jener, der die Reise nach innen sucht und sich mit den Abgründen des Seelenlebens auseinandersetzt: „Tiefer hinab in den Schmerz, als ich jemals stieg, bis hinein in seine schwärzeste Flut! So will es mein Schicksal.“ In dieser Seelentiefe ist das Höchste zu finden: „Aus dem Tiefsten muss das Höchste zu seiner Höhe kommen.“

Nach Nietzsche und auch nach den Lehren vieler spiritueller Meister und Mystiker kann das höchste Bewusstsein nur erreicht werden, wenn die inneren Dämonen konfrontiert werden. Es sind Schmerzen und Ängste, die in diesen Gestalten stecken. Sie müssen erfahren, durchlebt und entmachtet werden, um in die Tiefenschichten der Seele vorzustoßen und dort das höchste Potenzial freizulegen, über das Menschen verfügen. Dort findet sich eine Form des Glücks, das völlig frei ist von äußeren Bedingungen und aus einer tiefen Quelle des eigenen Seins fließt.

Oishi und Westgate haben ihre Studie mit amerikanischen Studenten gemacht. Sie ist deshalb nur beschränkt aussagekräftig, was die Motive und Glücksstrategien der Menschen anbetrifft. Auch scheint der Begriff des Eudaimonismus, den sie verwenden („Glück durch Sinn und Bedeutsamkeit“), wenig mit dem Glücksverständnis von Aristoteles zu tun zu haben. Und schließlich finde ich den Begriff des „psychologischen Reichtums“ als nicht sehr glücklich gewählt. Zwar ist es nachvollziehbar, dass Psychologen ihrer Wissenschaft die höchste Bedeutsamkeit zumessen, doch scheint das Phänomen, das sie untersucht haben, weit über die Psychologie und ihr Fachgebiet hinauszugehen. Außerdem sollte nicht der Eindruck erweckt werden, dass man ein Psychologiestudium für diese Form des inneren Reichtums braucht.

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Das Geheimnis der Lebensfreude
Das individuelle Glück und die Ungeheuerlichkeit des Leids
Der Mythos vom verlorenen Glück


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