Mittwoch, 29. September 2021

Das volle Boot und die Angst vor der Überflutung

Die Horrorerzählung vom vollen Boot

Wir alle kennen die Bilder vom Untergang der Titanic dank des filmischen Monumentaldramas. Wenn das Boot übervoll ist, gehen alle unter, die drauf sind. Leicht verständlich ist die Metapher und leicht übertragbar auf abstraktere Zusammenhänge. Ein Staatsgebiet ist das Boot, mitten in einem stürmischen Ozean und randvoll mit den Leuten, die auf dem Boot heimisch sind. Und da wollen jetzt noch andere an Bord, die im Ozean herumschwimmen, knapp vor dem Ertrinken. Wie jede Metapher, hinkt auch diese: Ein Staat ist natürlich kein Boot, sondern ein umgrenztes Landgebiet. Dieses Land ist von Millionen Menschen bevölkert, aber es noch genug Platz für weitere Millionen da, zumindest räumlich. Es gibt keinen Ozean, auf dem es schwimmt und dem es auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. In der Umgebung sind in der Regel andere Staaten, manchmal auch Küsten. 

Der Sinn der Metapher vom vollen Boot liegt darin, Angst zu erzeugen. Es soll ein Gefühl einer Einengung erzeugt werden, die das eigene Leben bedroht. Andere, Fremde, nehmen weg, was man selber zum Überleben braucht. Also muss man sie mit allen Mitteln abwehren. 

Die Metapher ist deshalb so eindringlich, weil wir solche Gefühlszustände kennen. Es wird eng, die Luft wird knapp, die Angst schnürt alles ein. In jedem natürlichen Geburtsverlauf gibt es Situationen, in denen die Versorgung durch die Nabelschnur knapp wird und der Wehendruck alles eng macht. Wir haben die Erfahrung überstanden, aber wir wollen sie nicht nochmals erleben. Sie ist in unserem Unterbewusstsein gespeichert, ebenso wie die Impulse, ähnliche Situationen in Zukunft zu vermeiden.

Diese Impulse werden geweckt, wenn wir mit der Metapher vom vollen Boot erschreckt werden. Die Gefühle können sich gleich massiv melden und die gedanklichen Kontrollen ausschalten. Wir fühlen uns unter Druck und werden aggressiv, weil es scheinbar um unser Überleben geht. Wir müssen uns unter allen Umständen wehren, und denken nicht weiter darüber nach, was wirklich Sache ist. Das Böse ist im Außen und muss dort bekämpft werden.

Die Metapher mit dem vollen Boot wird verwendet, wenn es um Flüchtlinge und Asylsuchende geht, die ihre Heimat verlassen haben, weil dort Krieg, Hungersnot oder andere schwierige Lebensumstände herrschen. Sie wollen anderswo auf der Welt ihr Leben sichern und ihr Glück suchen.  Mit der Metapher suggerieren Politiker, dass wir um unser Überleben fürchten müssen, wenn Leute von außen hereinkommen, weil sie uns unsere Lebensgrundlagen wegnehmen. Und sie präsentieren sich als die Retter vor dieser Not und Gefahr.

Wie wir wissen, hat es immer wieder in der Geschichte Menschengruppen gegeben, die unfreiwillig unterwegs waren; der ganze amerikanische Kontinent wurde großteils von politischen, religiösen und wirtschaftlichen Flüchtlingen aus Europa besiedelt. Jede der europäischen Nationen ist ein Sammelsurium von verschiedenen Ethnien, die sich im Lauf der Jahrhunderte überlagert und vermischt haben. Die Einwohner eines Landes unterscheiden sich nur in der Dauer der Sesshaftigkeit ihrer Herkunftsfamilien. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass sich vor allem jene, die noch nicht so lang im Land sind, deutlicher und vehementer gegen neuen Zuzug wehren als jene, die über viele Generationen angesiedelt sind. 

Klar ist, dass es kein objektives Kriterium dafür gibt, ab wann das Boot Staat voll ist, sprich von so vielen Menschen bewohnt wird, dass niemand Weiterer mehr Platz hat. Selbst die dichtest bevölkerten Staaten haben immer noch ausreichend Platz für Zuzügler. Klar ist auch, dass es Eingliederungs- und Anpassungsprobleme gibt, wenn in ein Land mit 8 Millionen Einwohnern innerhalb weniger Monate 100 000 Zuwanderer kommen. Aber zu sagen, dass ab nun das Boot voll ist, kann auf keinen nachvollziehbaren Grund verweisen, sondern ist eine subjektive Einschätzung. Die Integration von Zuzüglern wirft immer Probleme auf, und je mehr kommen, desto mehr Probleme gibt es. Wo aber ist die Grenze, ab der diese Probleme nicht mehr bewältigt werden können? Es gibt sie nur in Einschätzungen und Willenskundgebungen: Ich will nicht, dass noch mehr Leute reinkommen – weil sonst mein Sicherheitsgefühl ramponiert würde. 

Die subjektiven Einschätzungen, auf deren Grundlage vom „vollen Boot“ geredet wird,  sind aus der eigenen Emotional- und Traumabiografie unterfüttert und spiegeln das Ausmaß an Grundsicherheit und Grundvertrauen wieder, das in der Kindheit grundgelegt wurde. Sie treten zwar mit dem Anspruch auf objektive Gewissheit auf, können aber auf nichts zurückgreifen, was den Anspruch objektiv untermauern könnte.

Die Metapher von der Überflutung

Das Bild von der Überflutung von außen ist eine weitere Metapher, die Angst und Schrecken erzeugen soll. Sie hat auch mit dem Wasser zu tun wie die Metapher vom vollen Boot. Diesmal ist es das Wasser selbst, das in seiner Übermacht die Angst auslösen soll. Interessant ist die traumapsychologische Querverbindung. Ein Kennzeichen für ein Trauma besteht in der Überflutung mit feindlichen und bedrohlichen Reizen. Es strömen zu viele angstauslösende Informationen von außen auf den Organismus ein, der sie nicht mehr verarbeiten kann. Die inneren Systeme brechen zusammen, und Notfallsmechanismen übernehmen das Kommando, die ihrerseits dafür sorgen, dass flutartig Hormone ausgeschüttet werden. 

Solche Erfahrungen kennen wir alle in mehr oder weniger schlimmer Ausprägung. Die ersten Traumaerfahrungen sammeln wir im Mutterleib, etwa wenn die Mutter unter starken Stress gerät und ihre Stresshormone über die Nabelschnur ungefiltert einströmen. Wir werden von außen überflutet mit schädlichen Stoffen, und im winzigen Körper kommt es zur massiven Ausschüttung von eigenen Stresshormonen.

Wenn nun Szenarien des Überflutens von Politikern oder Medien heraufbeschworen werden, meldet sich im Inneren die Alarmreaktion von frühen Überflutungserfahrungen; das Denken wird ausgeschaltet, die Wirklichkeitswahrnehmung verzerrt, und die ganze emotionale Energie wendet sich gegen die Bedrohung, ob sie nun real ist oder fantasiert. Auf diese Weise gelingt es schnell, die verängstigten Menschen hinter einer politischen Parole zu versammeln. 

Die pränatalen Wurzeln der Ideologien

Ideologien nutzen gerne pränatal geprägte Metaphern, um die Emotionalzentren der Menschen anzusprechen und ihre Rationalität zu unterlaufen. In den hier genannten Fällen liefern sie damit Vorwände, die die Schamgefühle mindern sollen, die unterschwellig aktiviert werden, sobald es um die Fragen der Aufnahme von Notleidenden, Flüchtlingen und Vertriebenen geht, also um die Menschen, die unter dem Schutz der UN-Flüchtlingskonvention stehen. Diese Konvention, die die meisten Staaten unterzeichnet haben, wird zu einem leeren Stück Papier, sobald die emotional angetriebenen Ideologien die Oberhand gewinnen, mit Hilfe aller Ortsansässigen, die auf ihre Propaganda hereingefallen sind.

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