Montag, 30. November 2020

"Jemanden ausrichten" - eine perfide Form des Mobbing

Im Österreichischen gibt es den interessanten Ausdruck: „Jemanden ausrichten“. Damit ist gemeint, über jemanden, der gerade nicht anwesend ist, Schlechtes und Abwertendes zu reden. In dieser Redewendung verbirgt sich der Zweck des Bewertens: Jemand, der die von einer Gruppe vorgegebene Linie verfehlt oder von ihr abweicht, soll wieder ausgerichtet, also in die richtige Richtung gelenkt und auf den allgemeinen Kurs gebracht werden. Zugleich verständigen sich die Sprecher, die „Ausrichter“, dass sie einer Meinung sind und damit ein Recht darauf haben, die abwesende Person zu kritisieren.

Weiters steckt in dem Ausdruck auch das Richten, also die Ausübung eines Richteramtes. D.h. die Gruppe derer, die über jemanden herziehen, maßt sich die Befugnis an, diese Person zu richten, also feststellen, was an deren Tun oder Verhalten oder „Sein“ Recht und was Unrecht ist. Die Gruppe der Ausrichter stellt sich über die Einzelperson und gefällt sich in der Rolle, eine Norm gegen Abweichler zu sichern. 

Das Wohlgefühl, das solche Aktionen für die Ausrichtenden mit sich bringen mag, liegt darin, sich in einer überlegenen Position der Sicherheit zu fühlen: Mir kann nichts passieren, denn abgewertet und ausgegrenzt wird die abwesende Person. Ich bin mit den Anwesenden darüber einig, was sich gehört und was daneben ist. Damit bin ich auf der sicheren Seite. 

Doch bleibt die Gefahr bestehen, dass auch ich Opfer der ausrichtenden Recht-Sprechung werde, die hinter meinem Rücken abgehalten wird, wenn ich gerade nicht dabei bin. Um dem vorzubeugen, muss ich mich besonders bemühen, immer wieder und rechtzeitig zu den „Ausrichtern“ zu gehören, und am besten in diesem Sektor eine führende Rolle einzunehmen. So sichere ich meine Position und Zugehörigkeit ab, auf Kosten der ausgerichteten Menschen. 

Die Dynamik der Abwertung

Die weite Verbreitung des Phänomens, dass Menschen Zeit damit verbringen, über andere Menschen Schlechtes zu reden, also das zu benennen, was ihnen nicht gefällt, was sie stört oder ärgert, kann aus dieser selbstverstärkenden Dynamik verständlich werden. Sie erklärt auch, warum es schwer ist, aus der Dynamik auszusteigen. 

Da der Inhalt dessen, was die „Ausrichter“ bereden, in der Regel der betroffenen Person nicht mitgeteilt wird, ihr also nicht ausgerichtet wird, wird auch der Grund des verdeckten Ausrichtens weiter bestehen und stellt unversiegbare Nahrung für neuerliches Gerede zur Verfügung.

Damit bleiben die Spannungen bestehen, und die ausgerichtete Person kann sie zwar spüren und sich mit den Personen, die hinter ihrem Rücken Abwertungen oder Kritik geteilt haben, unwohl fühlen, ohne aber genau zu wissen weshalb.  

Das Netz des Misstrauens

Das Schlechtreden sät also Misstrauen und Unklarheit, nicht nur im betroffenen System, sondern auch in den beteiligten Einzelnen, den Tätern der Abwertungen, und den Opfern. Die Feigheit, die mit dem Hinter-dem-Rücken-Abwerten verbunden ist, ist von einer Angst getrieben, selber ausgegrenzt zu werden. Mit jedem Ausrichten wird sie scheinbar verringert, doch das Misstrauen wird mit jedem entsprechenden Akt tiefer ins Netz des Systems eingewoben und setzt alle unter Angst.

Das Mobbing, das schon viele Menschen in schwierige Situationen gebracht hat und sogar für manche Selbstmorde verantwortlich zeichnet, hat seine Wurzeln in solchen Dynamiken des Schlecht-über-Andere-Redens. 

Der Ausstieg

Wie kann ich aussteigen? Zunächst kann ich mir vorstellen, was es für mich bedeuten würde, wenn jemand gleichermaßen über mich herziehen würde. Als nächstes ist es wichtig, an die positiven Eigenschaften der Person zu denken und sich vorzustellen, dass diese Person auch in der Lage ist, etwas Gutes zu tun. Das kann auch die innerliche Aufregung und den Ärger besänftigen, der sich mit dieser Person verbunden hat.  

Wie kann ich andere zum Aussteigen aus der Ausrichte-Dynamik motivieren? Hier müssen wir sehr achtsam vorgehen, wollen wir nicht in den Angriffskreis des Opfers der schlechten Handlung kommen. Es könnte uns schnell dem feindlichen Lager zurechnen und der Illoyalität und des Bruches der Freundschaft verdächtigen: „Aha, du hältst also nicht zu mir, sondern zu dem Bösewicht, bist also selber einer.“ 

Der erste hilfreiche Schritt kann sein, dem Opfer Recht zu geben und verstehen, dass es sich verletzt fühlt und dass solche Handlungen der Korrektur bedürfen. Dann können wir darauf hinweisen, dass niemand immer alles richtig machen kann und dass es gut wäre, dem „Täter“ zu verzeihen. Dann kann sich das Opfer wieder entspannen und die Welt in einem größeren Ganzen sehen. Die beengende und Ärger erzeugende Perspektive auf das Erlittene weitet sich in diesem Schritt und kann angenehmeren Gefühlen Platz geben.

Jede Form von Mobbing sollte bewusst gemacht und überwunden werden, denn Mobbing ist Gift in der Gesellschaft und richtet viel Schaden an Menschen und Gruppen an, die zum Opfer gemacht werden. Es vergiftet aber auch die Mobber.

Zum Weiterlesen:
Bewertung: Anmaßung und Beziehungsstörung
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