Dienstag, 3. November 2020

Wir sind alle Teil von dem Spiel

Wenn Grausames geschieht, wenn extreme Verletzungen der Menschlichkeit stattfinden, reagieren wir – verständlich – mit dem Impuls der Ausgrenzung. Jemand, der andere, Menschen, die ihm nichts getan haben, umbringt, ist ein Unmensch. Er hat sich mit einer derartigen Tat der Zugehörigkeit zur Menschengemeinschaft verwirkt. So jemand kann nicht Teil der Menschheit sein. Außerdem muss auch Gruppe, der er angehört oder die er vertritt und von der er zur Tat motiviert wurde, mit Verachtung und Bestrafung verfolgt werden.  

Wir fühlen uns als die Vertreter des Guten, die gegen das Böse kämpfen müssen, damit es nicht überhandnimmt.  Das Gute kann nur bewahrt werden, wenn das Böse mit aller Gewalt verhindert wird. Der österreichische Bundeskanzler spricht in diesem Zusammenhang von einem „Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei“.  

Es ist klar, dass alles getan werden muss, um böse Handlungen zu verhindern. Es ist aber auch klar, dass Menschen, die Böses tun, nicht einfach missratene Geschöpfe sind, von schlechtem Karma beladen oder vom Teufel besessen. Es sind Menschen mit schwerer Traumabelastung oder großer innerer Verwirrung und Verzweiflung. Sie ziehen ihre Motive nicht nur aus ihrem beladenen und gestörten Geist, sondern auch aus gesellschaftlichen und kulturellen Verwerfungen. Der Hass, den sie in ihren Handlungen ausdrücken, ist der Spiegel für den Hass, den alle Menschen irgendwo in sich tragen. Viel unbewusstes Handeln und Agieren ohne Reflexion in allen Teilen der Welt, in allen Schichten des Wohlstandes nährt den Boden, aus dem dann hassgetränkte Untaten entspringen.

Mit der Einstellung des Kämpfens werden alle Gräben vertieft. Jeder Kampf, auch der gegen den Terror, erzeugt Opfer, und Opfer erzeugen wiederum Täter. Aus dieser Spirale entkommen wir nur, wenn wir die Gefühle zulassen, die mit der Dynamik der Gewalt verbunden sind: Angst, Schmerz und Scham.

Wir werden durch die schlimmen Ereignisse an die Fragilität unserer Existenz erinnert. All die Sicherheiten, mit denen wir unser Leben ausgestattet hat, haben ihre Unsicherheiten. Überall kann der Terror zuschlagen, jeder kann sein Opfer werden. Wie gering auch die Wahrscheinlichkeit ist, betroffen zu sein, löst jede solche Tat Ängste aus. Das sind Ängste, die mit unserer Endlichkeit zu tun haben, die uns auf brutale Weise vor Augen geführt wird.

Wir sollten uns aber auch dem Schmerz stellen, der den Opfern gilt, der aber auch den Umständen gilt, die solche Taten anregen. Solange es massive Ungleichheiten in den Lebenschancen und Ungerechtigkeiten in der Güterverteilung gibt, solange es Verachtung und Überheblichkeit, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit gibt, solange der Eigennutz vor das Teilen gestellt wird, solange es also strukturelle Gewalt gibt, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass wir unter individueller Gewalt leiden müssen.

All diese Verwerfungen, all diese Unfähigkeiten der Menschenfamilie, menschenwürdige Bedingungen in allen Gesellschaften zustande zu bringen, sind Anlass von Scham. Wir haben alle unseren Anteil an diesem kollektiven Versagen. Wir alle spielen mit bei einem Spiel, dessen Regeln dauernd Verlierer erzeugen und nur wenige gewinnen lassen, und das ist eine Schande.


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