Montag, 23. November 2020

Das Bewerten der Bewerter

In esoterischen oder spirituellen Kreisen ist es üblich, das Bewerten als schlimmer Verstoß gegen die Regeln der Achtsamkeit anzusehen. So lautet die Ansicht: Wer andere Menschen bewertet, verstößt gegen die universelle Menschenliebe. Er stellt sich über andere und schaut auf sie herab und begibt sich in eine Position der Überordnung, die keinem Menschen zusteht.

In hierarchischen Verhältnissen wird angenommen, dass die Bewertung eine wichtige Sache ist, um die Herrschaftsordnung aufrechtzuerhalten. Aber die Aufklärung deckte diese Ideologie und ihre machtlüsternen Grundlagen auf und propagierte stattdessen den Grundgedanken der Gleichheit aller Menschen. Auch in vielen religiösen Traditionen ist von der Gleichheit aller vor Gott die Rede. Vor diesem Hintergrund ist die Ansicht gut fundiert, dass es wichtig ist, von Bewertungen abzulassen und allen Personen die gleiche Wertschätzung zukommen zu lassen. Vor allem in einer ganzheitlichen Sichtweise, der sich spirituelle Kreise verpflichtet fühlen, ist jede Bewertung fragwürdig.

Die Bewertung der Bewerter

In einem anderen Sinn fragwürdig ist dagegen das Hervorstreichen der Bewertungsfreiheit: „Dauernd bewertest du, du solltest endlich davon wegkommen und mit dem Bewerten aufhören.“ Das Bewerten wird bewertet, ein Zirkel tut sich auf. Wie komme ich aus dem Bewerten der Bewerter heraus?

Wenn wir uns eingestehen, dass wir nicht nicht bewerten können, wenn wir Stellung beziehen, reihen wir uns ein ins Glied der Bewerter, die dennoch eine wichtige Botschaft haben, aber nicht aus einer überlegenen Position, sondern als Angebot an Gleichrangige: „Auch ich bewerte immer wieder und komme besonders dann ins Bewerten, wenn ich merke, was andere mit dem Bewerten anrichten. Ich weiß, dass ich einen Bewertungsstandpunkt einnehme, wenn ich aufzeige, was passiert, und bin bereit, anzuhören und aufzunehmen, wenn mich jemand aufs Bewerten aufmerksam macht. Wir alle können voneinander lernen.“ Selbstreflexion ist also immer wieder der Ausweg. Die „Auch-ich“-Schleife befreit uns schnell aus der Projektionsfalle: Ich habe alles in mir, was mich an anderen stört.

Die Notwendigkeit der Bewertungsbewertung

Es macht andererseits keinen Sinn, einfach nur den Mund zu halten oder den anderen blind rechtzugeben, weil man nicht bewerten will. Denn da steckt man schnell wieder in einer Arroganzfalle: „Ich bin so nobel und bewerte nie, wie es diese unbewussten Proleten dauernd machen.“ Vielleicht ist da jemand nur zu feig, seine Meinung zu sagen und versteckt sich unter dem Mantel der Bewertungsfreiheit – aber das ist natürlich auch eine bewertende Außensicht. 

Also stellt sich gleich wieder die Selbstreflexion ein und hilft uns nachzufragen, was unsere Tendenzen zur Überheblichkeit sind, denen wir immer wieder auf den Leim gehen. Niemand ist frei von solchen Versuchungen, aber jeder ist zur Selbstbesinnung fähig. Wir können diese Fähigkeit auch bei unseren Mitmenschen einmahnen, aber eben nicht aus einer lehrerhaften Position, sondern aus einer mitfühlenden Grundhaltung. 

Die Ursprünge von Bewertungen

Bewertungsneigungen stammen meist aus Erfahrungen mit unfairer Behandlung, Herabsetzung, Ignoriert- und Verletztwerden. Bewertungen dienen häufig zu Kompensation von Beschämungserfahrungen. Besonders fiese Abwertungen sind die Folge von besonders verletzenden Erfahrungen in der Kindheit.

Die Bitte um Selbstreflexion

Das Verstehen der Hintergründe enthebt uns einerseits nicht, Bewusstheit bei denen, die uns bewertend begegnen, einzufordern. Schließlich sind wir auch dazu auf der Welt, um voneinander zu lernen, wie wir bessere Mitmenschen werden können. Andererseits sollte dieses Einfordern nie mehr sein als eine Bitte zur Selbstreflexion, die es jedem freistellt, darauf einzugehen oder bei der eigenen Perspektive zu bleiben. Nur aus dieser Haltung kann die Macht der Bewertung gebrochen werden und die eigene innere Freiheit wachsen. 

Je mehr wir davon für uns gewonnen haben, desto geringer fällt die emotionale Reaktion aus, die wir als Adressaten von abwertenden Bemerkungen erleben. Desto schwächer wird auch die Neigung sein, uns aggressiv, lehrerhaft, arrogant oder verächtlich für die Bewertung zu revanchieren. Wenn wir besonders gut gelaunt sind, wird uns der Humor zur Seite stehen, um die Macht der Bewertung zu entschärfen. Dem heiteren Lachen hält keine noch so gemeine Abwertung stand. 

Zum Weiterlesen:
Bewertungsfreiheit als Geschenk
Bewertung: Anmaßung und Beziehungsstörung
Bewertung im bewertungsfreien Bereich


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