Mittwoch, 1. Februar 2023

Das Reizthema LBTQ und der Patriarchalismus

Binäres und Nicht-binäres

Ein Grundzug des Patriarchalismus besteht darin, die Welt in zwei Hälften zu zerteilen: Eine männliche und eine weibliche. Lange Zeit schien es klar, dass die männliche besser ist als die weibliche. Das ist das Grundbekenntnis des klassischen Patriarchalismus. Erst langsam hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es keine bessere und keine schlechtere Hälfte gibt, sondern dass beide gleichwertig sind. Dabei gibt es die Auffassung, dass die beiden Hälften ein komplementäres Verhältnis haben: Die Männer haben vieles, was die Frauen nicht haben, und die Frauen haben vieles, was die Männer nicht haben. Beide ergänzen sich.  In diesem Schema finden dann auch sexuelle Orientierungen Platz, die nicht der vorherrschenden Heterosexualität entsprechen. Zumindest in den westlichen Ländern ist es in den letzten Jahrzehnten zu einem Zuwachs an Toleranz für homosexuelle oder bisexuelle Orientierungen gekommen. Während früher homosexuelle Menschen mit Abwertung und Beschämung konfrontiert waren, gibt es jetzt den Begriff der Homophobie, der die Ablehnung der gleichgeschlechtlichen Liebe als pathologisch kennzeichnet. Immer mehr Menschen outen sich und stehen in der Öffentlichkeit zu ihrer sexuellen Präferenz. Die Eheschließung zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern wurde nach vielen Widerständen in mehr und mehr Ländern eingeführt. Es gibt also einen klaren Trend zu mehr Toleranz und Akzeptanz der Verschiedenheit (Diversität) menschlicher Strebungen im Bereich der Sexualität.

Neue Rollenbilder, alte patriarchale Strukturen

Auch wenn die Toleranz für nicht-heterosexuelle Vorlieben vor allem in den westlichen Gesellschaften wächst, ändert sich dadurch nicht viel an der Dominanz der patriarchalen Ideologie. Es kommt zu einer Erweiterung des Männerbildes. Die Auffassung darüber, was einen Mann ausmacht, wurde gegenüber der herkömmlichen Definition, die mit Härte und Kraftausübung bis hin zur Gewaltneigung assoziiert war, aufgeweicht und ausgedehnt, sodass auch Eigenschaften Platz finden, die traditionell stärker mit Weiblichkeit assoziiert sind. Da die gleichgeschlechtlichen Neigungen bei Männern traditionell stärker geahndet, verachtet und bestraft wurden als diejenigen der Frauen, ist dieser Wandel im Männerbild beachtlich. Sehr stark dazu beigetragen auch hat die Emanzipationsbewegung der Frauen, die gerade dieses traditionelle und ganz eng mit Machtausübung verknüpfte Männerbild in Frage stellt und bekämpft.

Zwar ändern sich Rollenbilder und Definitionen des Männlichen und des Weiblichen, doch rütteln diese Evolutionsbewegungen nicht an der dualen Ordnung. Damit handelt es sich nur um eine Adaption der patriarchalen Geschlechterzuordnung. Sie stößt dort an ihre Grenzen, wo sich Menschen weder dem einen noch dem anderen Pol der Dualität zugehörig fühlen oder zwischen den Polen wechseln. Es gibt Menschen, die mit ihrem Selbstgefühl die nicht-binären, also dem dualen Schema entzogene Geschlechtsidentitäten erleben. Diese Phänomene zeigen auf, dass das duale Schema nicht zureichend ist und erweitert werden muss. Die Aufteilung der Menschheit in männlich und weiblich beruht auf ideologischen Festlegungen. In diesem Sinn wirkt es paradoxer Weise so, dass die Feministinnen, die den Trans-Frauen das Frausein absprechen, weil sie ja nicht als Frauen geboren wurden, dieser Fixierung der patriarchalen Strukturen das Wort reden. 

Transidentitäten sind anders und nicht krankhaft

Der neue gesellschaftliche Konsens lautet, dass Menschen, die ihre geschlechtliche Identität nicht durch das binäre Schema festlegen wollen, nicht krank oder pervers sind, sondern anders als die große Mehrheit. Ob ihre Selbstbezeichnung genetische oder biografische Wurzeln hat, ist in dieser Hinsicht gleichgültig. Sie haben ihre Bedürfnisse und wollen darin verstanden und akzeptiert werden, wie Sie wollen so leben können, wie sie leben wollen, wie alle anderen auch. Weil sie in einer Minderheitsposition sind, ist ihre Stellung verletzlicher und prekärer. Deshalb brauchen sie besonderen Schutz und besondere Rücksichtnahme in der Gesellschaft. Sie leiden besonders unter den tief eingesessenen patriarchalen Strukturen, die sich auch darin äußern, dass es in der Sprache nur männliche und weibliche Personalpronomen gibt. Deshalb müssen sie in diesen Bereichen ihre eigenen Ausdrucksformen finden, die wiederum das gesamte Spektrum bereichern.

Verunsicherung durch Machtverlust

Das LGBTQIA+-Spektrum (=Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual/Transgender, Queer, Intersexual und Asexual) führt bei manchen Menschen zur Verunsicherung. Über Jahrtausende war die Gesellschaft durch eine klare Ordnung geprägt, durch die Dualität der Geschlechter. Durch die Geburt, oder genauer gesagt, durch die Befruchtung wird das Geschlecht eindeutig festgelegt und gibt dem Menschen eine eindeutige Identität, die dann die Grundlage für die weitere Entwicklung und die Übernahme gesellschaftlicher Rollen und Positionen bildet. Diese Sicherheit wird durch die von dieser binären Logik abweichenden Phänomene in Frage gestellt.

Alle offenen, heimlichen oder unbewussten Anhänger des Patriarchalismus haben Probleme mit allem, was sich als nicht-binär bezeichnet. Denn die Annahme, dass es zwei Geschlechter gibt und jeder Mensch nur einem von ihnen zugehören kann, ist die Grundlage für die patriarchalen Zuordnungen der sozialen Geschlechtsrollen. Sobald die Grenzen zwischen den Geschlechtern durchlässig werden, wankt das patriarchale Gebilde und der Verlust von Machtpositionen muss befürchtet werden.

Darin liegt der Grund, warum die nicht-binären Erscheinungsformen menschlicher sexueller Orientierung und Identifikation ein Reizthema darstellen. Für die einen ist es von zentraler Wichtigkeit, dass all die Variationen der Geschlechtlichkeit ihre volle Anerkennung und Toleranz erhalten, während andere das vermehrte Auftreten dieser Phänomene als Anfang des Untergangs der Menschheit ansehen. Der Entwicklungsgrad einer Gesellschaft in Bezug auf die Überwindung des Patriarchalismus kann an der Diversitätstoleranz gemessen werden. Gesellschaften und Individuen, die ein hohes Maß an Aggression und Gewalt gegen die Homosexualität und gegen Trans- oder Queerpersonen ausüben, sind noch tiefer in die Reaktionsweisen, Identifikationen und Ideologien des Patriarchalismus eingebunden als jene, die die Vielfalt der sexuellen Ausrichtungen wohlwollend zulassen können. 

Die Abwehr der Diversität als Kriegsgrund

Oft wird die Regenbogenbewegung als Symbol eines dekadenten Westens attackiert – diese Angriffe finden sich sogar in der russischen Kriegsrhetorik gegenüber der Ukraine. Einer der Kriegsgründe liegt in der Abwehr der Auflockerung geschlechtlicher Zuordnungen, die bei einer weiteren Westausrichtung der Ukraine bis an die Grenzen Russlands vordringen würden. Also muss alles Dekadente in der Ukraine ausgerottet werden, um das bedrohliche Umsichgreifen von LGBTQIA-Orientierungen fernzuhalten. Die aggressive Rhetorik und Handlungsweise zeigt auf, worum es eigentlich geht: Um die Sicherung und Stabilisierung des Patriarchalismus mit seinen männlichen Privilegien und seiner Unterdrückung der Frauen und aller Zwischenformen. Letztlich geht es um die Ängste, die vor dem Verlust männlicher Dominanzpositionen bestehen, um derentwillen Krieg geführt wird. 

Die Unausweichlichkeit, in der Menschlichkeit zu wachsen

Entwicklungsprozesse in den einzelnen Gesellschaften und in der Weltgesellschaft brauchen ihre Zeit.  Jede Verzögerung in der Verabschiedung des Patriarchalismus erfordert zusätzliche Opfer und erzeugt noch mehr Leid: Es gibt Morde an Transpersonen, Selbstmorde infolge der mangelnden Akzeptanz, es gibt Abwertungen und Beschimpfungen gegen Menschen mit von der Norm abweichende sexuelle Orientierungen, es gibt die Unterdrückung von homosexuellen Handlungen und Personen usw. Eine Weltgesellschaft, in der alle Menschen gemäß ihrer Prägungen und Vorlieben ihre Liebe ausdrücken und leben können, ist noch in weiter Ferne, aber die Entwicklung dorthin ist unausweichlich. Denn Gesellschaften, die diesem Ziel schon näher sind, zeigen mehr Flexibilität und Offenheit und erlauben damit mehr Menschlichkeit, die mehr Glück für mehr Menschen ermöglicht. Jede Erweiterung der gesellschaftlichen Offenheit kommt allen Mitgliedern zugute, weil sich jeder und jede in ihrem So-Sein freier fühlen und ausdrücken kann. 

Zum Weiterlesen:
Animus und Anima im 20. Jahrhundert
Die sexuelle Identität
Gendern und die Wunden des Patriarchalismus


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen