Donnerstag, 2. Februar 2023

Die Denkzettelwähler

Ein Denkzettelwähler wählt nicht, um bestimmte Ziele durchzusetzen, sondern um bestehende Machtträger abzuwählen, gleich welche Ziele sie haben. Die Mächtigen werden für das Ungemach im eigenen Leben verantwortlich gemacht. Wenn ihre Abwahl erfolgreich ist, erfolgt die Bestrafung für ihre schlechte Regierung – die Medien sprechen oft von einer „Abstrafung“. Von der Abwahl wird erhofft, dass es irgendwie besser wird, weil ja die unfähigen Politiker nichts mehr zu sagen haben. Die Hoffnung besteht darin, dass all das, was einem nicht passt an der Gesellschaft oder am eigenen Leben, dadurch besser wird. Es ist eine Hoffnung, die sich freilich nie erfüllt, weil die Erfahrung zeigt, dass die Protestparteien, die die Denkzettelwähler in Scharen anziehen, auch nicht besser regieren als die anderen Parteien und in vielen Fällen noch mehr Schaden anrichten.

Denkzettelwähler wählen aus Trotz und Ressentiment. Sie fühlen sich ohnmächtig und abhängig und gehen davon aus, dass die Regierung für sie und ihre Probleme sorgen sollte, und wo sie das zu wenig tut, muss mit dem Stimmzettel der Protest ausgedrückt werden, damit es die nächste Regierung besser macht. Üblicherweise schafft es diese auch nicht, also wird auch sie wieder abgewählt und der nächsten Partei die Proteststimme gegeben, die am stärksten gegen die regierenden Parteien opponiert und polemisiert. So geht das Denkzettelwählen weiter, manche geben nach einigen Wahlgängen auf und wechseln zu den frustrierten Nichtwählern.

Demokratie bedeutet bekanntlich „Herrschaft des Volkes“. Weiters wissen wir, dass wir wegen der Komplexität des Herrschens diese nicht direkt, sondern über Repräsentanten ausüben. Und diese werden bei uns durch Parteien gestellt, die dann um die Wählerstimmen werben. Wir leben also in indirekten repräsentativen Demokratien und die turnusmäßig stattfindenden Wahlen sind eine der Gelegenheiten, mit der Stimmabgabe die Politik mitzubestimmen. Die Parteien versuchen sich so zu positionieren, dass sie ein möglichst großes Spektrum der Bedürfnisse und Interessen der Bevölkerung abdecken, z.B. leistbares Wohnen, ein funktionierendes Gesundheitswesen, Arbeitsplätze, Bildungsangebote, Infrastruktur usw. Die meisten Parteien orientieren sich an Werten und Ideologien, nach denen sie ihre Politik ausrichten. 

Protestwähler richten ihr Wahlverhalten aber nicht nach Werten aus, die sie in der Politik verwirklicht sehen möchten, z.B. mehr Menschlichkeit oder soziale Gerechtigkeit. Vielmehr gehen sie von ihren individuellen Bedürfnissen und Nöten aus und messen die Parteien daran, wieweit sie ihnen Abhilfe verschaffen. Sie sind also auf ihr eigenes Leben und die Erwartungen, die sie daran haben, fokussiert und nicht auf das Gemeinwohl. Es geht ihnen nicht um eine Weiterentwicklung der Gesellschaft in eine Richtung, in der es für alle besser wird, sondern darum, dass das, was sie stört, beseitigt wird.

Die narzisstische Identifikation

Protestwähler wollen beschämen, weil sie sich selbst beschämt vorkommen, „verarscht“ durch die Politik und die Mächtigen. Sie wollen, dass die Politiker so leiden wie sie selber. Um dieses Ziel zu erreichen, suchen sie jemanden als Identifikationsfigur, der es den Mächtigen „zeigt“, der sie also bloßstellt und beschämt. Gleichzeitig meinen sie, dass es so jemand auch gut mit den Ohnmächtigen meint – so lautet zumindest die Annahme, die meistens auf einer Selbsttäuschung beruht. Denn Demagogen haben in den allermeisten Fällen eine starke Neigung zur Korruption, die sie ausleben, sobald sie an der Macht sind. Sie verfügen auch über ein hohes Maß an Zynismus als Komponente ihrer narzisstischen Prägung, der es ihnen erlaubt, schamlos diejenigen auszubeuten, die ihnen zur Macht verholfen haben. Doch solange sie noch um die Macht kämpfen, ist ihnen jedes Mittel recht, um den Anschein eines edlen und selbstlosen Einsatzes für die Ohnmächtigen aufrechtzuerhalten. 

Denkzettelwähler haben aufgrund eigener ko-narzisstischer Neigungen die Tendenz, Demagogen zu idealisieren und deren Schattenseiten zu übersehen. Sie vertrauen ihnen voll und ganz und missionieren deshalb auch gerne für sie in ihrem Umfeld. Die Umkehr der Idealisierung findet dann statt, wenn die ideale Führerfigur der Manipulation und Korruption überführt wird. Plötzlich verkörpert sie das Böse an sich, und es muss eine neue Person gesucht werden, die sich als Demagoge anbietet.

Die Identifikation mit der Machtperson vermittelt ein Gefühl von Mächtigkeit angesichts des Ohnmachtsgefühls, in dem sich viele gefangen fühlen. Die Macht besteht darin, vor Beschämung geschützt zu sein und selber beschämen zu können. Ein Beispiel: Der Paradedemagoge Jörg Haider hat einmal öffentlich den damaligen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Ariel Muzicant mit den Worten beschämt: „Ich verstehe nicht, wieso einer, der Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken hat.“ Die Frechheit in dem boshaften Witz beeindruckt alle, die selber jemals Opfer boshafter Witze geworden sind und sich nicht zur Wehr setzen konnten. Denn das ist vermutlich die Perspektive vieler Denkzettelwähler: Opfer politisch verursachter Bosheit zu sein, die das Ziel der Beschämung hat. Der Demagoge mit seiner frechen Kühnheit soll die Ehre und Würde wiederherstellen. Dafür verdient er die Gefolgschaft.

Demokratie und Verantwortung

Demokratie bedeutet nicht nur, alle paar Jahre mal einen Stimmzettel auszufüllen, sondern bedeutet auch Mitverantwortung für das Ganze der Gesellschaft und des Staates. Dagegen-Wähler wollen mit ihrer Stimmabgabe nicht ausdrücken, dass sie bereit sind, für irgendetwas die Verantwortung zu übernehmen. Vielmehr wollen sie die offiziellen Verantwortungsträger bestrafen, weil sie sie für alles verantwortlich machen, was ihnen nicht passt. Protestwählen ist deshalb eine pubertäre Handlung von Erwachsenen – ohne Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, ohne Bereitschaft zum Mitgestalten des Gemeinwohls.

Die Demokratie bleibt nur dann lebendig und kreativ, wenn sie durch möglichst viele Staatsangehörige mitgestaltet wird. Verantwortungsübernahme inkludiert die Bereitschaft, sich für bestimmte Anliegen zu engagieren, sich zu informieren und auf verschiedenen Ebenen an politischen Diskursen zu beteiligen. Der Staat gehört uns allen, und deshalb ist es auch unsere Aufgabe, aktiv an seiner Weiterentwicklung mitzuarbeiten. Dazu gehört auch Kritik an Fehlentwicklungen und Missständen, ebenso wie das Einbringen von Ideen und neuen Perspektiven.

Zur Selbstreflexion über das Schreiben dieser Zeilen

Ich habe diesen Text aus einer analytischen Perspektive geschrieben. „Der Denkzettelwähler“ wird hier als Prototyp beschrieben, in dem sich reale Personen mehr oder weniger oder auch gar nicht wiederfinden können. Der Text nimmt also eine Außensicht auf ein Phänomen ein, mit dem Versuch, die Innenwelt in ihren Abläufen nachzuvollziehen und damit zu einem besseren Verständnis dieses Verhaltens und der damit verbundenen Einstellungen beizutragen. Der Hintergrund soll ein wenig ausgeleuchtet werden und die entstehende Einsicht in die Zusammenhänge kann dazu beitragen, mit dem Phänomen besser umgehen zu können.

Dabei ist in Betracht zu ziehen, dass es Teil des Profils eines typischen Denkzettelwählers ist, unter der Überheblichkeit der Besserwisser zu leiden, sich dadurch beschämt zu fühlen und auf diese Erfahrung mit einem Trotz und dem Einnehmen einer Protesthaltung zu reagieren. Außendiagnosen übermitteln Scham, indem sie Inneres bloßstellen, und führen damit zur Abwehr. Sie verstärken also tendenziell das Verhalten, das sie entlarven wollen. 

Ich sehe es allerdings so, dass wir alle potenzielle „Denkzettelwähler“ sind, insofern wir die Impulse zur Rache in uns tragen und im alltäglichen Leben anwenden. Wir verteilen gerne Denkzettel, nur machen das nicht alle bei den Wahlen. Die Protestwähler drücken sich durch ein emotionales Muster aus, das wir alle kennen und in verschiedenen Zusammenhängen kennen. Insofern kommt dieser Artikel nicht aus einer Position der Überheblichkeit, sondern weist auf eine Verwandtschaft hin, die zwischen allen Menschen besteht. Am Beispiel der Denkzettelwähler können wir uns selber besser verstehen, auch wenn wir selber keine Denkzettelwähler sind. Wenn wir das erkennen, brauchen wir nicht mehr verächtlich auf Menschen herabschauen, die vielleicht im Bereich der demokratischen Reife Mängel aufweisen.

5 Kommentare:

  1. Eine Übernahme von Verantwortung wäre z.B. das Eingeständnis, dass andere Sichtweisen mit der Haltung „= Corona-Leugner:innen“ zu beantworten eine pubertäre Streifspur vermuten lässt.

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  2. Wenn ich diesen Artikel lese bin ich erschüttert traurig und fassungslos wie viel Analyse und Bewertung verwendet wird.
    Ich würde mich nicht trauen zu beraubten, dass Denkzettelwähler keine Verantwortung für Poltisches und Demokratisches Miteinander übernehmen.
    Das die Abwahl einer Regierung immer aus Trotz und Bestrafung hervorgeht.
    Ich sehe es eher so das die Regierung die jetzt an der Macht ist gar nicht legitim gewählt wurde, sonder sich über eine Übergangsregierung gebildet hat.
    Ein weiteren Punkt den ich wahrnehme wenn ich mit Menschen rede ist, nicht unbedingt die Unzufriedenheit durch Inflation etc. schon auch aber eher weil ein Teil der Regierung nicht mehr für das einsteht, die Werte vertritt, für die sie mal einstanden sind. Für die sie der Wähler die Wählerinnen gewählt haben.
    Ich habe volles Verständnis, wenn Menschen darauf vertrauen, dass die gewählten Vertreter sie bei der Problemlösung unterstützt.
    Man kann jetzt Argumentieren, ist man nicht selbst für sein Leben verantwortlich? Ja ist man und gleichzeitig gibt es aber auch eine systemische Verantwortung. Wo nicht nur das Individuum betrachtet wird sondern das System z.B. wie leicht kann ich meine Persönlichkeit entfalten oder wie schnell man sich in bürokratischem Sumpf verliert und einiges für manche Zielgruppen gar nicht zugängig ist.
    Vor allem wenn ich den Satz lese „Protestwähler richten ihr Wahlverhalten aber nicht nach Werten aus, die sie in der Politik verwirklicht sehen möchten, z.B. mehr Menschlichkeit oder soziale Gerechtigkeit.“ zieht es meine Brust zusammen löst Traurigkeit in mir aus die sogar durch meine Gedanke wie kann man so einen Blödsinn schreiben in Wut umkehrt. (Du darfst mich gerne Analysieren ;-) )
    Gleichzeitig lese ich, dass dir Menschlichkeit und soziale Gerechtigkeit wichtig sind und du möglicherweise Sorge hast, dass dies über die Protestwahl und die Aufsteigende Macht der Partei die das nicht verkörpert, verloren geht.
    Das ist auch meine Sorge. Nur leider sehe ich diese Werte in keiner Partei mehr verankert.
    Das ist das, so glaube ich, was die meisten Menschen verunsichert und es schwer macht überhaupt zu wählen geschweige den die Regierenden weiter zu Unterstützen. Auch in dem Wissen oder besser gesagt in dem Glauben die Ausweichpartie nicht viel besser ist. Hier könnte möglicherweise die Hoffnung eine große Rolle spielen.
    Ein Lösung die mir in den Sinn kommt ist weg von demokratischen Wahlen hin zum systemischen Konsensieren, das was in guten Freundschaften auch gepflegt wird.
    Was ist der Vorteil? Es kann nicht sein wie es 1990 der Fall war das eine Partei die am dritten Platz ist den Kanzler stellt und das Volk wird auch nicht von einer Partei Vertreten die 70% nicht gewählt haben.

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    1. Einen wichtigen Satz habe ich vergessen. Ich selbst fange mit Kategorisierungen nicht viel an. Was meine ich damit. Kategorie Protestwähler. Was ist ein Protestwähler wer definiert das? Für mich sind das Menschen die sich aus welchen Gründen auch immer entschieden haben andere Politische VertreterInnen zu wählen. Das gleich gilt für mich bei den Worten Coronaleugner, Verschwörungstheoretiker, Links oder Rechtsextremist. Alles Menschen die eine unterschiedliche Weltanschauung haben, wobei die Gesellschaft aber auch die Politik und die Medien die Grenzen des moralisch vertretbaren abstecken, die so scheint mir immer enger gesteckt werden.

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  3. Du machst dich hier selbst zum Täter indem du dich derart über andere Menschen stellst. „Du willst die Menschen verstehen.“ Die angeführte Logik ist jedoch keine allgemein gültige. Botschaften wie: „Ich finde, dass Protestwähler...“, oder „Die Vorstellung von Protestwählern löst bei mir ... aus.“ wären geeigneter um in einen liebevollen Austausch zu gehen. So ist es bloß eine weitere Verächtlichmachung und ein Schatten deiner selbst.

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