Mittwoch, 15. Februar 2023

Die Kälte als Freundin gewinnen

Das kalte Wasser hat es in sich. Es jagt manchen schon einen Schauer durch den Körper, nur daran zu denken, in ein kaltes Wasser einzutauchen. Dennoch ist es ein Trend geworden, den vor allem der „Ice Man“ Wim Hof aus Holland initiiert hat. Wer vor etwa 35 Jahren Rebirthing kennengelernt hat, ist schnell auf das Kaltwasseratmen gestoßen, bei dem sich gezeigt hat, wie die Kraft des Atems helfen kann, um Schwellen zu überschreiten, die in unser Vorstellung als unüberwindlich erscheinen, und sich nachher zu wundern, wie gut es sich anfühlt. Bei dieser Methode lernen wir auch, langsam und behutsam in Kontakt mit der Kälte zu gehen und uns schrittweise tiefer hinein zu versenken.

In diesem Artikel geht es um die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die es zum Thema Kälteexposition gibt. Ich verdanke die Informationen Andrew Huberman und seinem interessanten Podcast. Hier finden sich auch zahlreiche Quellenhinweise.

Zunächst ist klar, dass die Temperatur ein wichtiger Stimulus für unser Nervensystem und für jedes Organ und System unseres Körpers ist. Denn der Körper braucht eine bestimmte Temperatur, um sich gut regulieren zu können. Die Temperatur bildet deshalb einen starken Reiz für den Körper und das Gehirn. 

In einer Studie tauchten die Versuchsteilnehmer in ein Wasser mit 15,5 Grad bis zum Hals  ein, also nicht sehr kalt, und dennoch kam es entsprechend der Dauer der freiwilligen Kälteaussetzung zu einem enormer Schub an Neurotransmittern, die mit einer Steigerung der Konzentration und der Stimmung verbunden sind. Die Studie wurde durch weitere Studien bestätigt. 

Der Temperaturrhythmus

Unsere Körpertemperatur unterliegt einem 24-Stundenrhythmus, über die sich jede bewusste Kälteerfahrung darübergelegt und diesen Rhythmus moderiert.

Ca. 2 Stunden vor dem Aufwachen befinden wir uns auf einem Temperaturminimum. Dann langsamer Anstieg. Dann nach dem Aufwachen erfolgt ein schnellerer Anstieg bis in den Nachmittag. Am späteren Nachmittag und Abend sinkt die Temperatur wieder ab. Beim Einschlafen geht die Körpertemperatur noch um ein paar Grade runter, was wichtig ist, um in den Tiefschlaf zu kommen. Wenn wir uns in der Früh einer Kälteexposition unterziehen, dann geschieht die Erwärmung schneller und wir spüren mehr Wachheit und Aufmerksamkeit. Gehen wir später am Abend unter die kalte Dusche, so kann es das Einschlafen oder Durchschlafen behindern, denn durch die Kälteerfahrung steigt die Körpertemperatur, die aber beim Einschlafen niedrig sein sollte.

Effektive Abkühlung

Angenommen, wir leiden unter Hitze, z.B. nach einem Lauf im Sommer. Die Körpertemperatur ist unangenehm hoch. Vielleicht nehmen wir dann ein nasses Handtuch und legen es auf den Kopf oder Oberkörper. Damit erzielen wir allerdings den gegenteiligen Effekt: Die Körpertemperatur geht weiter nach oben! Denn unser Thermostat im Gehirn, das sich im medialen präoptischen Bereich des Hypothalamus befindet, erhält Informationen über die plötzliche Kälte von der Haut und schaltet sogleich auf Aufwärmung. Wenn es kalt wird, wird also verständlicherweise die Körpertemperatur erhöht. Kühlen sollte man die obere Gesichtshälfte, die Handflächen und die Fußsohlen, denn dort befindet sich eine glatte haarlose Haut, in der die Kühlung sofort übernommen wird und damit die Körpertemperatur reduziert.

Eu-Stress und Di-Stress

Die positiven Auswirkungen der Kälteerfahrung gibt es nur dann, wenn wir uns ihr freiwillig unterziehen. Wir entschließen uns, uns einer selbstgewählten Stressbelastung auszusetzen, und wissen auch, dass wir jederzeit aussteigen können, wann immer wir wollen. In jeder Stresssituation schüttet der Körper (Nebennierenrinde und Gehirn) Adrenalin und Noradrenalin aus. Diese Botenstoffe steigern den Grad an Agitation, Konzentration und Bewegungsfreude. Im Falle dass der Stress selbstbestimmt ist und der eigenen Kontrolle unterliegt, kommt Dopamin dazu, der Botenstoff für Belohnungserwartung, Motivation und Strebung. Dadurch verbessert sich unsere Stimmung und bleibt auch noch nach der Stresserfahrung erhalten. Hier sprechen wir nach dem Begründer der Stressforschung, Hans Selye, von Eu-Stress. 

Der Stress, den wir als unangenehm und belastend erleben, heißt Di-Stress. Auch er wird durch die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin über die Stressachse (Hypophyse, Hypothalamus und Nebennierenrinden) in Gang gesetzt, es kommt aber kein Dopamin dazu, vielmehr wird nach einiger Zeit Cortisol freigesetzt, das dann den Stress chronifiziert. Es geht also um den „mindset“, um die innere Haltung, ob Stress für uns gut ist oder uns schadet:  Wenn wir etwas tun und glauben, dass es uns guttut, dann führt das zu unterschiedlichen physiologischen Effekten, als wenn etwas gegen unseren Willen oder ohne unsere Kontrolle geschieht.

Stoffwechsel und Kälteexposition

In zahlreichen Studien wurden die Auswirkungen von freiwilligen Kälteerfahrungen auf den Stoffwechsel untersucht. Es zeigte sich dabei, dass die weißen Fettzellen, in denen nur Energie gespeichert wird, zu beigem oder braunem Fett umgewandelt werden, das ist thermogenetisches Fett, das heißt, es kann die Kerntemperatur im Körper erhöhen und wirkt als Ofen, durch den wir unseren Kernstoffwechsel erhöhen können. Wenn wir abnehmen wollen, brauchen wir weniger weißes und mehr braunes Fett. Die beigen und braunen Fettzellen bauen ein Reservoir auf für Situationen, in denen man einer Kälteherausforderung ausgesetzt ist.

Eine weitere Studie untersuchte die Auswirkungen von 11 Minuten Kälteexposition/Woche. Es kam zu einer Steigerung in der Braunfett-Thermogenese, zur Zunahme der Körpertemperatur und des Kernstoffwechsels im Körper. Langfristige Änderungen wirken sich auf den Typ des Fettes aus, den wir im Körper speichern und beeinflussen die Weise, wie dieses Fett zu anderen Zeiten auf unseren Stoffwechsel wirkt. Die allgemeine Kälteempfindung wird herabgesetzt. Die weißen Fettzellen sind Zellen mit sehr niedrigem Stoffwechseloutput, sie sind vor allem Speicherplätze für Energie im Körper. Die beigen oder braunen Fettzellen (braun, weil sie viele Mitochondrien enthalten) sind stoffwechselmäßig und thermogenetisch aktiv. 

Weiße Zellen dienen als Speicher für Zeiten von Energiemangel. Beige und braune Zellen wirken dagegen wie Öfen, die die Körpertemperatur erhöhen können. Sie steigern den Stoffwechsel und helfen, das weiße Fett zu verbrennen. Noradrenalin, das bei Kälteerfahrung freigesetzt wird, bindet an Rezeptoren an der Oberfläche von weißen Fettzellen und aktiviert auf den nach unten gehenden Pfaden Proteine wie UCP1, die sich auf den mitochondrialen Stoffwechsel in den  Zellen auswirken und deren Leistung und Dichte steigern. Die Mitochondrien werden vergrößert. Es wird auch die Genexpression in den weißen Zellen verändert, sodass sie sich in beige und braune Fettzellen verwandeln.  

Die Fettzellen bekommen Signale von Neuronen. Es gibt Neuronen, die die Kälte spüren und die das Noradrenalin direkt in die Fettzellen einschleusen. Dadurch wird die Genexpression verändert, sodass sich die weißen Fettzellen in beige und braune Zellen verwandeln. 

Während Babys viel braunes Fett haben, das sie warm hält, verlieren Erwachsene immer mehr beige und braune Fettzellen. Aber es gibt den Mechanismus, durch den weiße in braune und beige Fettzellen verwandelt werden können. Es sind langanhaltende Veränderungen im Stoffwechsel, die durch Kälteexposition hervorgerufen werden.

Formen der Kälteexposition

Als effektivste Kühlungsmethode im Sinn der Auswirkungen auf Botenstoffe und Stoffwechsel gilt es,  bis zum Hals ins Wasser einzutauchen, dann folgt gleich die kalte Dusche. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, mit minimaler Kleidung nach außen zu gehen, bis zum Punkt, wo der Körper zu zittern beginnt. Die Hitzeübertragung ist im Wasser viermal so hoch wie in der Luft. 

Stressresilienz

Wenn wir uns der Kälte aussetzen, erleben wir einen unmittelbaren Anstieg von Noradrenalin und Adrenalin. Das ist der unvermeidliche unangenehme Effekt, der sofort auftritt, sobald wir mit Kälte in Kontakt kommen. Er wird durch die Kälterezeptoren an der Körperoberfläche erzeugt. Doch da wir mit einer bewussten Entscheidung in diese Situation hineingehen, bauen wir unsere Resilienz gegen Stress auf. Wir können die mentale Klarheit und Ruhe behalten, während unser Körper in Stress gerät. Und diese Fähigkeit kann immens nützlich sein, wenn wir Stress in anderen Situationen erleben. Wir stärken unsere Fähigkeit, Herausforderungen auszuhalten oder zu tolerieren. 

Der Stress kann schon vorher entstehen, wenn wir uns vorstellen, wie schlimm die Kälte sein wird. Das ist eine Mauer, über die wir drüber müssen. Wir setzen uns also auch einem Willenstraining aus. Obwohl wir wissen, dass der Kontakt mit der Kälte im ersten Moment schlimm ist, entscheiden wir uns für diese Erfahrung. 

Wir wissen, dass es durch die Schockerfahrung zu einer 30 – 80% Reduktion bei den kognitiven Funktionen kommt, insbesondere im frontalen Kortex. Um dem entgegenzuwirken, können wir die Kälteerfahrung mit mentalen Übungen verbinden, z.B. indem wir während der kalten Dusche mathematische Aufgaben lösen oder alle Gedanken zu Sätzen ausformen etc. Das Denkhirn arbeitet weiter, obwohl der Reflex darin besteht, es herunterzufahren. Wieder bauen wir eine Kompetenz auf, die uns dabei helfen kann, in plötzlichen Stresssituationen klar im Kopf zu bleiben.

Bewegung im kalten Wasser

Wenn wir uns in kaltem Wasser befinden, erzeugt der Körper Wärme, die als eine thermale Schicht den Körper umgibt. Deshalb fühlt man sich in der Kälte wärmer, wenn man still bleibt. Wenn man sich bewegt, wird die thermale Schicht aufgebrochen und es fühlt sich kälter an. Wir können also, wenn wir den Effekt der Kälteexposition erhöhen wollen, im kalten Wasser die Arme ausbreiten und unsere Körperposition verändern. Wir können auch nach einer kalten Dusche noch in der Kälteempfindung bleiben, statt dass wir uns gleich schnell abtrocknen.

Wie wir schon erwähnt haben, hat die willentliche Kälteerfahrung dramatische Auswirkungen auf die Freisetzung von Dopamin im Gehirn und Körper. Wir fühlen uns gut, auch nachdem wir aus dem Wasser herausgekommen sind. Solche Erfahrungen haben Menschen schon geholfen, aus der Drogensucht herauszukommen. 

Es gibt eine Studie, bei der die Teilnehmer eine Stunde im Wasser verbracht haben: eine Gruppe bei 32 Grad, eine Gruppe  bei 20 Grad, und eine Gruppe bei 14 Grad.  Die Ergebnisse:

  • Bei 32 Grad: Keine Änderung im Stoffwechsel oder bei Dopamin, Adrenalin und Noradrenalin. 
  • Bei 20 Grad: 98% Zunahme im Stoffwechsel 
  • Bei 14 Grad: 350% Zunahme im Stoffwechsel, bei Noradrenalin 530% und bei Dopamin 250%, wobei diese Änderungen andauerten und auch zwei Stunden nachher noch nachweisbar waren. Die Teilnehmer berichteten von Wohlgefühl, gemessen werden konnte eine verbesserte Konzentrationsfähigkeit und mentale Schärfe. Es kam zu keiner Zunahme an Cortisol.

Kälte und Immunsystem 

Gut erforscht ist die Wirkung von Kälteexposition auf das Immunsystem. Es werden dabei entzündungsförderliche Zytokine wie IL-6 eliminiert, und entzündungshemmende Zytokine gefördert, wie z.B. IL-10.

Nichts wie Vorteile, die das Eintauchen ins kalte Wasser oder das kalte Duschen hat, und alles was es braucht, ist das Überwinden des inneren Widerstandes, der vor dem Erstkontakt mit der Kälte besteht. Ist dieser Moment einmal überwunden, geht es zunehmend leichter, bis es sich ganz normal oder sogar angenehm anfühlt. Erstaunlicherweise schwindet das Kältegefühl, je öfter wir uns der Erfahrung aussetzen und je länger wir in ihr verweilen. Die Kälte wird damit von etwas Feindlichem und Bedrohlichem zu einer vielleicht manchmal ruppigen Freundin.

Allerdings sollten gesundheitliche Risiken, etwa in Zusammenhang mit dem Herz-Kreislaufsystem vor der bewussten Kälteerfahrung abgeklärt werden. Zu rasches Eintauchen kann zu Problemen führen. Ratsam ist es deshalb, sich kälteerfahrenen TrainerInnen anzuvertrauen, wenn man Anfänger auf diesem Weg ist.


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