Wir finden das Gute, indem wir das Böse verstehen. Dieser Satz mag auf den ersten Blick als rätselhaft erscheinen. Er stellt die allzu einfache, aber gewohnte Gegenüberstellung von Gut und Böse in Frage: Wer gut ist, ist gut, wer böse ist, ist böse, und meistens sind die anderen die Bösen und wir selber die Guten. Der Satz stellt eine Verbindung zwischen dem Guten und dem Bösen her, die uns herausfordert, nach innen zu gehen und dort nach dem Bösen zu suchen. Denn das Böse ist ein Teil des Menschseins, ein Aspekt des Möglichkeitsraumes des Erlebens und Handelns, das in jedem Menschen bereitliegt.
Das Böse in uns ist mit Scham umgeben; wir finden es also nur, wenn wir diese Schamschranke überwinden. Wenn uns dieser Schritt gelingt, können wir das Böse in uns erforschen und einordnen. Was wir kennen und in unser Bewusstsein integrieren, ist davor geschützt, aus uns herauszubrechen, ohne dass wir es wollen. Böses entsteht nicht, wenn wir in unserer Mitte und gut mit uns selber verbunden sind. Es entsteht, wenn wir die Kontrolle verlieren und das Unbewusste die Regie übernimmt. Selbst Menschen, die scheinbar mit vollem Bewusstsein Böses tun, sind in Wirklichkeit die Sklaven ihrer unbewussten Antriebe.
Das Böse in den Mitmenschen zu sehen fällt immer leichter, als es bei sich selbst zu erkennen. Natürlich ist es wichtig, böse Taten, die uns oder anderen widerfahren, zu benennen und zu unterbinden, soweit es in unserer Macht steht. Das Böse braucht die soziale Eindämmung und Begrenzung, sonst wuchert es weiter. Dazu gibt es Normen und Gesetze, die mit entsprechenden Strafandrohungen versehen sind und abschreckend wirken sollen.
Aber ohne die Erfahrung, wie jede Form menschlicher Bosheit in jeder menschlichen Seele ihren Ort hat und im Leben jedes Menschen Spuren hinterlassen hat, kommen wir nicht weiter. Wir erkennen nicht, dass wir das Böse, das wir im Außen anprangern, aus unserem Inneren projizieren. Das Böse wird immer wieder hervorbrechen, allen angedrohten Konsequenzen zum Trotz, wenn das Unterbewusstsein stärker ist als die Bewusstheit.
Vom Bösen zum Guten
Solange wir das Böse nicht in uns selbst aufsuchen und dort seine Wurzeln verstehen, gelangen wir nicht zum Guten. Denn dann ist das Gute nur eine Wunschfantasie, entstanden aus der Abspaltung des Bösen in uns selber. Wir definieren uns aus dem Unterschied zum Bösen und nehmen an, wir sind schon gut, weil wir ja nicht böse sind – so wie die anderen.
Das Böse findet sich, psychologisch gesprochen, im Schattenbereich der Psyche. Es wird von unbewussten Ängsten und Schamgefühlen gesteuert und drückt sich in Ideen, Gedanken, Gefühlen und Handlungen aus. Allgemein können wir sagen, dass all das, was wir als böse bezeichnen, Ausdruck von Überlebensprogrammen ist, die sich in der frühen Kindheit eingeprägt haben. Es meldet sich also die eigene Überlebensangst, die das Erleben und Handeln diktiert. Unter diesem Einfluss müssen wir die Bedürfnisse anderer Menschen ignorieren oder fühlen uns gezwungen, sie zu schädigen, im Extremfall bis hin zur Auslöschung ihrer Existenz, also bis zum Mord.
Wenn wir erkennen, dass es sich um Reaktionsmuster handelt, die wir uns abgespeichert haben, damit wir Notsituationen überleben können, fällt es uns leichter, unsere bösen Anteile in Augenschein zu nehmen. Was uns nicht fremd ist, sondern in einen Rahmen des Verstehens aufgenommen werden kann, verliert seine dämonische Macht. Das Böse in uns ist dann ein dunkler Bereich unserer Seele, in den wir mehr Licht bringen und ihm damit den Schrecken und das Beschämende nehmen.
Mit dem Bösen anfreunden
Es klingt etwas verwegen zu sagen, wir sollten mit dem Bösen in uns Freundschaft schließen. Denn das unverschämte Böse, mit dem sich der Bösewicht angefreundet hat, bewirkt die schlimmsten Auswüchse der menschlichen Destruktivität. Mit dem Bösen Freundschaft zu schließen bedeutet nicht, sich seiner Zerstörungskraft willen- und kritiklos zu unterwerfen. Es bedeutet, die Ängstlichkeit und Verletztheit im Kern der Bosheit freizulegen und das Leid zu erkennen, das diesen Kern umgibt. Es bedeutet, das Fremde und Feindliche am Bösen zu entzaubern, es als Teil des eigenen Schicksals anzunehmen und Mitgefühl und Verständnis für die schweren Umstände zu entwickeln, die für die Entstehung des Bösen im Inneren verantwortlich sind. Es bedeutet also, die Abwehr durch Vertrauen zu ersetzen.
Was wir in uns erkannt, bewusst gemacht und verstanden haben, brauchen wir nicht mehr abzuwehren oder zu bekämpfen. Wo wir gelernt haben, das Böse seinem Ursprung zuzuordnen, können wir Frieden mit ihm schließen und ihm damit die impulsive Macht nehmen. Mit jedem Schritt in dieser Richtung werden wir bewusster, aber nicht notwendigerweise „besser“ im ethischen Sinn. Das Gute entsteht von selbst dort, wo das Böse erkannt und entmachtet ist.
Das Gute kann nur größer sein als das Böse, wenn das Böse verstanden ist als etwas, das aus innerer Not entstanden ist, aus fehlgeleiteten und missverstandenen unerfüllten Bedürfnissen kindlichen Ursprungs. Die Überwindung der Not lässt das Gute ganz von selber hervortreten. Das Gute ist einfach da, wo die innere Not durch inneren Frieden ersetzt ist.
Zum Weiterlesen:
Das Gute und das Böse
Die Anhänglichkeit an die Dualität
Der Bösewicht in uns
Gut und Böse
Über den Ursprung des Bösen und des Hasses
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