Montag, 20. Juni 2022

Die Illusion von Karma

Die Lehre vom Karma ist Teil der uralten hinduistischen Tradition. Sie fußt auf dem Glauben an die Wiedergeburt und hat ihre Absicht darin, die Menschen zu einem guten Leben anzuleiten. Denn angehäuftes schlechtes Karma wirkt sich auf schlechte Chancen für die nächste Wiedergeburt aus. Nach dem karmischen Grundprinzip hat jede Handlung eine moralisch ausgleichende Folge, also auf Gutes folgt Gutes, auf Böses Böses. Diese Folgen müssen sich nicht gleich danach, ja nicht einmal im gegenwärtigen Leben manifestieren, sondern können auch zeitverzögert, im Extremfall in einem weiteren reinkarnierten Leben auftreten. Bewertet werden dabei alle Formen des Handelns, physische wie geistige Taten (oder auch Versäumnisse), sie alle fallen unter dieses allgemeine Ursache-Wirkungsprinzip.

Bei monotheistischen Religionen gibt es oft ein Gericht, das nach dem Tod über das Leben jedes einzelnen Menschen urteilt und die individuellen Konsequenzen für das seelische Weiterleben festlegt. Im Unterschied dazu gilt das Karmaprinzip als universelles Gesetz, das unabhängig von irgendwelchen Instanzen wie ein Naturgesetz waltet.

Für das ethische Handeln ergibt sich der Appell, sein Leben danach auszurichten, möglichst wenig Karma für das nächste Leben anzusammeln, um sich damit aus dem ewigen Rad des Schicksals zu befreien. Insbesondere geht das Bestreben im Buddhismus danach, sich aus allen Versuchungen des Karmas herauszuhalten und alle Anhaftungen aus egoistischen Motiven zu überwinden. Die ersehnte Erleuchtung erfordert die vollständige Befreiung von allen Abhängigkeiten und Anhänglichkeiten an irdische und geistige Güter sowie an emotionale Muster. Sie gilt zugleich als Befreiung vom Karma und von der Notwendigkeit der Wiedergeburt.

Ich vertrete hier nun die These, dass das ethische Handeln ist in sich gut ist und von jedem bewussten Menschen als gut erkannt wird. Es ist also keine Karmalehre von Nöten, damit sich Menschen ethisch verhalten. Nur wer nicht erkannt hat, dass die Quelle der Ethik im eigenen Inneren und in den gesellschaftlichen Zusammenhängen liegt, braucht eine externe absolute Autorität (im Fall der monotheistischen Religionen) oder Konstruktionen, die als absolut gepredigt werden (im Fall der Reinkarnationslehre), um sich an ethische Regeln zu halten. Es ist in diesen Fällen nur die Angst vor Bestrafung, die dann vor unethischem Verhalten zurückschrecken lässt. Der eigenen inneren moralischen Autorität wird misstraut. 

Dieses Misstrauen hat auch seine Berechtigung. Denn diese innere Autorität kann sich nur dann ungebrochen entwickeln, wenn sie im eigenen Aufwachsen von den Eltern durch deren eigenes ethisches Verhalten gefördert wird. Hat die Entwicklung der Selbstautorität durch frühe Erfahrungen mit unethischen Autoritäten Schrammen erlitten, so wird eine äußere Autorität für die Antworten auf die großen Fragen des Lebens gesucht werden, entweder in Form einer in sich logisch erscheinenden Lehre oder in einer auf dem Glauben begründeten jenseitigen Autorität. Im Maß, in dem die eigene Integrität durch die Aufarbeitung der Verletzungen und Traumatisierungen gelungen ist, wird das Potenzial für das ethische Verhalten freigelegt und bereitgestellt. 

Dann ist gutes Handeln keine von außen aufgezwungene Anpassung an fremde Normen, sondern kommt aus dem eigenen Inneren kommende Wohlmeinen für die Mitmenschen. Mögen alle glücklich werden. Möge ich alles beiseitelassen, was diesem Glück im Weg steht, und alles in meinen Kräften Stehende tun, was dieses Glück befördert. Ethisches Verhalten hat die Belohnung in sich selbst, in der Bestärkung der eigenen Würde und Integrität und der Freude am Glück der anderen. 

Die Allgemeingültigkeit der Ethik 


Ethisches Handeln ist grundsätzlich allgemein einsichtig und nachvollziehbar. Es ist im Wesentlichen in allen Weisheitslehren und Religionen identisch: Es sollen die egoistischen Strebungen überwunden und stattdessen das gemeinschaftsdienlichen Leben gefördert werden. Diese selbstevidenten ethischen Grundsätze erwachsen aus der geheilten Seele. Es scheint, als würden sie alle Religionen aufgreifen, um ihre jeweiligen Konzepte der Todesbewältigung daran anzuhängen: Lebe gut, dann kommst du in den Himmel. Lebe gut, dann erwartet dich ein besseres Leben im nächsten Leben. Lebe gut, dann gehst du ins Nirvana ein. In Summe: Nur wenn du dich an die Religion hältst, kannst du dich ethisch richtig verhalten. Und damit ist es allein die Religion, die dir ein diesseitig und jenseitig erfülltes Leben garantieren kann. 

Diese Schlussfolgerungen gelten nur solange, solange wir nicht erkannt haben, dass die in sich einleuchtenden ethischen Leitlinien keine Religion brauchen, um verstanden und angewendet zu werden. Dazu kommt, dass alle Religionen in ihrer historischen Praxis genügend spezielle Probleme in Hinblick auf die Anwendung der Ethik gehabt haben und haben und viele Schlupflöcher aufweisen, über die sich dann das unethische Handeln breitmachen kann, unter dem heuchlerischen Denkmantel der Frömmigkeit. Aus der Geschichte ist es schwer möglich, die Wirksamkeit der Religionen auf die Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten zu begründen. Vielmehr gibt es die Phänomene, dass religiöse Inhalte als Grundlage für Ausreden bezüglich des ethischen Handelns verwendet werden. Hier ein Beispiel aus der Karma-Lehre: Es kann jemand behaupten: Mein vergangenes Leben hindert mich daran, jetzt gute Handlungen zu tun. Aufgrund meines Karmas kann ich nicht anders als anderen Menschen zu schaden. Oder im christlichen Kontext: Ich habe schon so schwer gesündigt, da macht es dann keinen Unterschied mehr, wenn ich noch ein paar Sünden anhänge.

Die universelle Gerechtigkeit und die Karma-Lehre


Die Karma-Lehre gilt bei ihren Anhängern als Garantin nicht nur für die persönliche Moral, sondern auch für eine universelle Gerechtigkeit. Manchmal fragen wir uns, warum Menschen, die offensichtlich viel Böses begehen, damit einfach wegkommen, nicht im Gefängnis landen und nach einem langen Leben einen friedlichen Tod inmitten von Reichtum sterben. Andererseits gibt es Menschen, die offensichtlich so viel Gutes tun, aber keinen Lohn ernten, sondern alle möglichen Leiden auf sich nehmen müssen. Das ist doch ungerecht: Wer Böses tut, soll dafür bestraft werden und selber leiden. Wer Gutes tut, soll ein gutes Leben haben. Laut Karma-Lehre kommt die Strafe unweigerlich, wenn nicht im aktuellen, dann in einem nächsten Leben. Das kann das Gerechtigkeitsempfinden beruhigen, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es die Reinkarnation tatsächlich gibt. Sollte sich herausstellen (und das wissen wir, wenn überhaupt, erst nach unserem Tod), dass es ein neues Leben in einem neuen Körper gar nicht gibt, schauen wir durch die Finger und das ganze Gerechtigkeitskonzept bricht in sich zusammen wie ein Kartenhaus. 

Im christlichen Weltbild tröstet die Vorstellung, dass Bösewichter in der Hölle schmoren müssen und die Braven in den Himmel kommen. Sie sorgt ebenfalls für eine ausgleichende Gerechtigkeit. Auch hier ruht die entscheidende Voraussetzung, das Weiterleben nach dem Tod und die Existenz von Himmel und Hölle, auf tönernen Füßen. Was aber haben wir wirklich davon, dass das Böse seine gerechte Strafe findet? Böses Handeln muss bestraft werden, weil es die Gemeinschaft schädigt und ein friedvolles Zusammenleben behindert. Dafür sorgen das Polizeiwesen und der Rechtsstaat. Aber deshalb müssen wir einem Übeltäter keine bösen Gedanken schicken und ihm Böses wünschen – auch wenn das eine sehr menschliche Reaktion ist, vor allem, wenn uns selber das Böse widerfahren ist. Sind wir da nicht in einem Rachedenken verfangen? Spielen wir uns da nicht als Richter über andere Menschen auf? Sind solche Anmaßungen wirklich moralisch, oder tragen sie selber wieder zu schlechtem Karma bei oder bringen uns der Hölle ein Stück näher?

Ethik ohne Religion


Weiters stellt sich die Frage, ob wir auch mit dem Verzicht auf die Vorstellung von universeller Gerechtigkeit im Sinn des Karmaprinzips leben können. Es könnte sich um ein Konzept handeln, das aus einer beschränkten Sichtweise auf das Gute und Böse stammt und mit Maßstäben hantiert, die aus der eigenen Lebenserfahrung stammen, aber keine absolute Gültigkeit beanspruchen können. Oder hören wir dann auf, uns ethisch zu verhalten, weil es sowieso keine Konsequenzen hat? Wäre die Ethik nur ein Unterfangen, das funktioniert, weil böse Handlungen noch bösere Folgen haben und wir uns deshalb notgedrungen für das Gute entscheiden, dann braucht es eine transzendente Absicherung. Tun wir Gutes nur, weil uns dafür eine Belohnung winkt, ist es eigentlich kein Gutes, wie uns schon Immanuel Kant gezeigt hat, und wie wir das auch intuitiv spüren. Das Gute soll aus uns selber kommen und getan werden, gleich welche Reaktionen es nach zieht, gleich, ob wir daraus einen Gewinn ziehen oder nicht. Handeln wir nur aus der Suche nach einer entsprechenden Kompensation, so geht es uns um diese und nicht um die Verbesserung der Welt und des Lebens unserer Mitmenschen. 

Dazu kommt, dass wir uns nicht anmaßen sollten, zu wissen, was es mit der universellen Gerechtigkeit auf sich hat. Unser Denken, Konzeptualisieren und Ethisieren ist immer beschränkt und nicht geeignet, Aussagen über etwas Universelles zu tätigen, weil wir viel zu stark im Relativen befangen sind. Was wissen wir wirklich über das Ausmaß des Guten und des Bösen in der Welt? Was wissen wir über das Ausmaß des Guten und des Bösen in einzelnen Menschen, uns selber mit eingeschlossen? Wenn es eine geistige Instanz hinter allem gibt, die alle Fäden in der Hand hat und die Geschicke der Welt lenkt, muss sie so unendlich sein, dass wir sie mit unserem kleinen Geist nie fassen, geschweige denn nachzeichnen könnten. Wir können fantasieren, was das Richtige und das Falsche, das Gute und das Böse wäre, aber in diese Fantasien fließen immer unsere relativen Werte und Normen, unsere selbstgestrickten und übernommenen Ansichten hinein. 

Es scheint, dass die Vorstellungen einer universellen ausgleichenden Gerechtigkeit mehr unsere narzisstische Selbstüberhöhung bestätigen als mehr zur Erkenntnis der Wirklichkeit oder zur Verbesserung der Menschheit beitragen. Vielmehr sind sie von einer grundlegenden Redundanz gekennzeichnet, in dem Sinn, dass alles, was geschieht, dadurch erklärt wird, dass es dem Prinzip entspricht. Das Prinzip stimmt immer und hat immer Recht; der Preis für diese selbstbezogene Logik ist allerdings der Verlust an Bedeutung und Sinn, sie liefert keinen Erkenntnisgewinn. Handelt jemand böse, so kommt er in einer Vorstellungswelt in die Hölle, in einer anderen muss er ein schlechteres nächstes Leben auf sich nehmen. Es könnte so sein oder auch anders, das ist alles, was wir vom Standpunkt der menschlichen Vernunft aus sagen können: Wir wissen es nicht und können nie zu diesem Wissen gelangen. Die Prinzipien sind so angelegt, dass sie nicht überprüft werden können, sondern der Willkür des Glaubens unterliegen: Jeder kann glauben, was er will. 

Schließlich dürfen wir noch die Frage stellen: Ist die Welt besser geworden, weil die Menschen für ihre Untaten möglicherweise in die Hölle kommen oder als Wurm wiedergeboren werden? Vielleicht haben die Glaubenssysteme dazu beigetragen, dass sich in voraufgeklärten Zeiten die Menschen aus Angst vor negativen metaphysischen Konsequenzen mehr dem Guten zugewandt haben, aber selbst über diese These können wir nur spekulieren und genug Gegenbeispiele zitieren. Die Menschheitsgeschichte ist voll von Verbrechen und Grausamkeiten; ob es heute weniger oder mehr sind als in früheren Zeiten, können wir nicht berechnen und werden es auch nie berechnen können. Denn Leid ist nicht in Zahlen übersetzbar und immer subjektiv. 

Wenn wir das Gute und das Böse unterscheiden, brauchen wir einen ethischen Maßstab. Jeder Maßstab ist relativ, es gibt keinen, der für ein universelles Gesetz taugt, außer er ist so allgemein formuliert wie der kategorische Imperativ und muss dann für jeden Einzelfall konkretisiert und interpretiert werden, womit unweigerlich subjektive, zeit- und sozialgebundene Einflüsse dazukommen. Deshalb wird die letztliche ethische Autorität an eine oberste Instanz delegiert, über deren Bewertungskriterien wir wiederum kein Wissen haben. Allenthalben geraten wir an Punkte, an denen wir völlig im Dunkeln tappen, und unsere Fantasieprojektionen, die wir dann entwickeln, helfen uns auch nicht weiter.

Die unüberwindliche Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis


Ludwig Wittgenstein hat bekanntlich seinen Tractatus mit dem Satz beendet: „Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Wir können diesen Satz hier weiterspinnen: Worüber es kein Wissen, sondern nur Spekulation gibt, darüber sollten wir bescheiden den Mund halten und mit dem Vorlieb nehmen, was uns mit unserer menschlichen Beschränktheit erkennen, wissen und erspüren können. Und über alles, was darüber hinausgeht, können wir nur mit den Achseln zucken. 

Für alle, die dennoch an die Karmalehre glauben wollen, schlage ich ein kleines Experiment vor: Wann immer sich das Thema in Gedanken meldet, indem wir z.B. an Ungerechtigkeiten in der Welt und im eigenen Leben denken, kurz innezuhalten: Was ändert sich dadurch, dass ich dieses Modell beiseite lasse und stattdessen meine Erkenntnisgrenzen akzeptiere? Wird mein aktuelles Leben einfacher oder komplizierter, leichter oder schwerer? Fühle ich mich besser oder schlechter? Oder macht es überhaupt keinen Unterschied? 

Wir sind frei in dem, was wir glauben und was nicht; wirklich frei aber nur, wenn wir alle Ängste erkannt und gelöst haben, die hinter unseren Glaubensbedürfnissen stehen. Dann fällt es uns leicht, zu der Beschränktheit unserer Einsichts- und Erkenntnisweisen zu stehen und das Illusionäre an den großen Antworten auf die großen Fragen zu durchschauen. 

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