Die
Lehre vom Karma ist Teil der uralten hinduistischen Tradition. Sie fußt auf dem
Glauben an die Wiedergeburt und hat ihre Absicht darin, die Menschen zu einem
guten Leben anzuleiten. Denn angehäuftes schlechtes Karma wirkt sich auf
schlechte Chancen für die nächste Wiedergeburt aus. Nach dem karmischen
Grundprinzip hat jede Handlung eine moralisch ausgleichende Folge, also auf
Gutes folgt Gutes, auf Böses Böses. Diese Folgen müssen sich nicht gleich
danach, ja nicht einmal im gegenwärtigen Leben manifestieren, sondern können
auch zeitverzögert, im Extremfall in einem weiteren reinkarnierten Leben
auftreten. Bewertet werden dabei alle Formen des Handelns, physische wie
geistige Taten (oder auch Versäumnisse), sie alle fallen unter dieses allgemeine
Ursache-Wirkungsprinzip.
Bei monotheistischen
Religionen gibt es oft ein Gericht, das nach dem Tod über das Leben jedes
einzelnen Menschen urteilt und die individuellen Konsequenzen für das seelische
Weiterleben festlegt. Im Unterschied dazu gilt das Karmaprinzip als
universelles Gesetz, das unabhängig von irgendwelchen Instanzen wie ein
Naturgesetz waltet.
Für
das ethische Handeln ergibt sich der Appell, sein Leben danach auszurichten,
möglichst wenig Karma für das nächste Leben anzusammeln, um sich damit aus dem
ewigen Rad des Schicksals zu befreien. Insbesondere geht das Bestreben im
Buddhismus danach, sich aus allen Versuchungen des Karmas herauszuhalten und
alle Anhaftungen aus egoistischen Motiven zu überwinden. Die ersehnte
Erleuchtung erfordert die vollständige Befreiung von allen Abhängigkeiten und
Anhänglichkeiten an irdische und geistige Güter sowie an emotionale Muster. Sie
gilt zugleich als Befreiung vom Karma und von der Notwendigkeit der
Wiedergeburt.
I
ch vertrete hier nun die These, dass das ethische Handeln ist in
sich gut ist und von jedem bewussten Menschen als gut erkannt wird. Es ist also
keine Karmalehre von Nöten, damit sich Menschen ethisch verhalten. Nur wer
nicht erkannt hat, dass die Quelle der Ethik im eigenen Inneren und in den
gesellschaftlichen Zusammenhängen liegt, braucht eine externe absolute Autorität
(im Fall der monotheistischen Religionen) oder Konstruktionen, die als absolut
gepredigt werden (im Fall der Reinkarnationslehre), um sich an ethische Regeln
zu halten. Es ist in diesen Fällen nur die Angst vor Bestrafung, die dann vor
unethischem Verhalten zurückschrecken lässt. Der eigenen inneren moralischen Autorität
wird misstraut.
Dieses Misstrauen hat auch seine Berechtigung. Denn diese innere Autorität
kann sich nur dann ungebrochen entwickeln, wenn sie im eigenen Aufwachsen von
den Eltern durch deren eigenes ethisches Verhalten gefördert wird. Hat die
Entwicklung der Selbstautorität durch frühe Erfahrungen mit unethischen
Autoritäten Schrammen erlitten, so wird eine äußere Autorität für die Antworten
auf die großen Fragen des Lebens gesucht werden, entweder in Form einer in sich
logisch erscheinenden Lehre oder in einer auf dem Glauben begründeten
jenseitigen Autorität.
Im Maß, in dem die eigene Integrität durch die Aufarbeitung der
Verletzungen und Traumatisierungen gelungen ist, wird das Potenzial für das
ethische Verhalten freigelegt und bereitgestellt.
Dann ist gutes Handeln keine
von außen aufgezwungene Anpassung an fremde Normen, sondern kommt aus dem
eigenen Inneren kommende Wohlmeinen für die Mitmenschen. Mögen alle glücklich
werden. Möge ich alles beiseitelassen, was diesem Glück im Weg steht, und alles
in meinen Kräften Stehende tun, was dieses Glück befördert. Ethisches Verhalten
hat die Belohnung in sich selbst, in der Bestärkung der eigenen Würde und
Integrität und der Freude am Glück der anderen.
Die Allgemeingültigkeit der Ethik
Ethisches Handeln ist grundsätzlich allgemein einsichtig und
nachvollziehbar. Es ist im Wesentlichen in allen Weisheitslehren und Religionen
identisch: Es sollen die egoistischen Strebungen überwunden und stattdessen das
gemeinschaftsdienlichen Leben gefördert werden. Diese selbstevidenten ethischen
Grundsätze erwachsen aus der geheilten Seele. Es scheint, als würden sie alle
Religionen aufgreifen, um ihre jeweiligen Konzepte der Todesbewältigung daran
anzuhängen: Lebe gut, dann kommst du in den Himmel. Lebe gut, dann erwartet
dich ein besseres Leben im nächsten Leben. Lebe gut, dann gehst du ins Nirvana
ein. In Summe: Nur wenn du dich an die Religion hältst, kannst du dich ethisch
richtig verhalten. Und damit ist es allein die Religion, die dir ein diesseitig
und jenseitig erfülltes Leben garantieren kann.
Diese Schlussfolgerungen gelten nur solange, solange wir nicht
erkannt haben, dass die in sich einleuchtenden ethischen Leitlinien keine
Religion brauchen, um verstanden und angewendet zu werden. Dazu kommt, dass alle
Religionen in ihrer historischen Praxis genügend spezielle Probleme in Hinblick
auf die Anwendung der Ethik gehabt haben und haben und viele Schlupflöcher
aufweisen, über die sich dann das unethische Handeln breitmachen kann, unter
dem heuchlerischen Denkmantel der Frömmigkeit. Aus der Geschichte ist es schwer
möglich, die Wirksamkeit der Religionen auf die Verbesserung der menschlichen
Angelegenheiten zu begründen.
Vielmehr gibt es die Phänomene, dass religiöse Inhalte als Grundlage
für Ausreden bezüglich des ethischen Handelns verwendet werden. Hier ein Beispiel
aus der Karma-Lehre: Es kann jemand behaupten: Mein vergangenes Leben hindert
mich daran, jetzt gute Handlungen zu tun. Aufgrund meines Karmas kann ich nicht
anders als anderen Menschen zu schaden. Oder im christlichen Kontext: Ich habe
schon so schwer gesündigt, da macht es dann keinen Unterschied mehr, wenn ich
noch ein paar Sünden anhänge.
Die universelle Gerechtigkeit
und die Karma-Lehre
Die Karma-Lehre gilt bei ihren
Anhängern als Garantin nicht nur für die persönliche Moral, sondern auch für
eine universelle Gerechtigkeit. Manchmal fragen wir uns, warum Menschen, die
offensichtlich viel Böses begehen, damit einfach wegkommen, nicht im Gefängnis
landen und nach einem langen Leben einen friedlichen Tod inmitten von Reichtum sterben.
Andererseits gibt es Menschen, die offensichtlich so viel Gutes tun, aber keinen
Lohn ernten, sondern alle möglichen Leiden auf sich nehmen müssen.
Das ist doch ungerecht: Wer
Böses tut, soll dafür bestraft werden und selber leiden. Wer Gutes tut, soll ein
gutes Leben haben.
Laut Karma-Lehre kommt die
Strafe unweigerlich, wenn nicht im aktuellen, dann in einem nächsten Leben. Das
kann das Gerechtigkeitsempfinden beruhigen, allerdings nur unter der
Voraussetzung, dass es die Reinkarnation tatsächlich gibt. Sollte sich
herausstellen (und das wissen wir, wenn überhaupt, erst nach unserem Tod), dass
es ein neues Leben in einem neuen Körper gar nicht gibt, schauen wir durch die
Finger und das ganze Gerechtigkeitskonzept bricht in sich zusammen wie ein
Kartenhaus.
Im christlichen Weltbild tröstet
die Vorstellung, dass Bösewichter in der Hölle schmoren müssen und die Braven
in den Himmel kommen. Sie sorgt ebenfalls für eine ausgleichende Gerechtigkeit.
Auch hier ruht die entscheidende Voraussetzung, das Weiterleben nach dem Tod
und die Existenz von Himmel und Hölle, auf tönernen Füßen.
Was aber haben wir wirklich
davon, dass das Böse seine gerechte Strafe findet? Böses Handeln muss bestraft
werden, weil es die Gemeinschaft schädigt und ein friedvolles Zusammenleben
behindert. Dafür sorgen das Polizeiwesen und der Rechtsstaat. Aber deshalb
müssen wir einem Übeltäter keine bösen Gedanken schicken und ihm Böses wünschen
– auch wenn das eine sehr menschliche Reaktion ist, vor allem, wenn uns selber
das Böse widerfahren ist.
Sind wir da nicht in einem
Rachedenken verfangen? Spielen wir uns da nicht als Richter über andere
Menschen auf? Sind solche Anmaßungen wirklich moralisch, oder tragen sie selber
wieder zu schlechtem Karma bei oder bringen uns der Hölle ein Stück näher?
Ethik ohne Religion
Weiters stellt sich die Frage,
ob wir auch mit dem Verzicht auf die Vorstellung von universeller Gerechtigkeit
im Sinn des Karmaprinzips leben können. Es könnte sich um ein Konzept handeln,
das aus einer beschränkten Sichtweise auf das Gute und Böse stammt und mit
Maßstäben hantiert, die aus der eigenen Lebenserfahrung stammen, aber keine
absolute Gültigkeit beanspruchen können. Oder hören wir dann auf, uns
ethisch zu verhalten, weil es sowieso keine Konsequenzen hat?
Wäre die Ethik nur ein Unterfangen,
das funktioniert, weil böse Handlungen noch bösere Folgen haben und wir uns
deshalb notgedrungen für das Gute entscheiden, dann braucht es eine
transzendente Absicherung. Tun wir Gutes nur, weil uns dafür eine Belohnung
winkt, ist es eigentlich kein Gutes, wie uns schon Immanuel Kant gezeigt hat,
und wie wir das auch intuitiv spüren. Das Gute soll aus uns selber kommen und
getan werden, gleich welche Reaktionen es nach zieht, gleich, ob wir daraus
einen Gewinn ziehen oder nicht. Handeln wir nur aus der Suche nach einer
entsprechenden Kompensation, so geht es uns um diese und nicht um die
Verbesserung der Welt und des Lebens unserer Mitmenschen.
Dazu kommt, dass wir uns nicht
anmaßen sollten, zu wissen, was es mit der universellen Gerechtigkeit auf sich
hat. Unser Denken, Konzeptualisieren und Ethisieren ist immer beschränkt und
nicht geeignet, Aussagen über etwas Universelles zu tätigen, weil wir viel zu
stark im Relativen befangen sind. Was
wissen wir wirklich über das Ausmaß des Guten und des Bösen in der Welt? Was
wissen wir über das Ausmaß des Guten und des Bösen in einzelnen Menschen, uns
selber mit eingeschlossen? Wenn es eine geistige Instanz hinter allem gibt, die
alle Fäden in der Hand hat und die Geschicke der Welt lenkt, muss sie so
unendlich sein, dass wir sie mit unserem kleinen Geist nie fassen, geschweige
denn nachzeichnen könnten. Wir können fantasieren, was das Richtige und das
Falsche, das Gute und das Böse wäre, aber in diese Fantasien fließen immer
unsere relativen Werte und Normen, unsere selbstgestrickten und übernommenen
Ansichten hinein.
Es scheint, dass die
Vorstellungen einer universellen ausgleichenden Gerechtigkeit mehr unsere
narzisstische Selbstüberhöhung bestätigen als mehr zur Erkenntnis der
Wirklichkeit oder zur Verbesserung der Menschheit beitragen. Vielmehr sind sie
von einer grundlegenden Redundanz gekennzeichnet, in dem Sinn, dass alles, was
geschieht, dadurch erklärt wird, dass es dem Prinzip entspricht. Das Prinzip
stimmt immer und hat immer Recht; der Preis für diese selbstbezogene Logik ist
allerdings der Verlust an Bedeutung und Sinn, sie liefert keinen
Erkenntnisgewinn.
Handelt jemand böse, so kommt er
in einer Vorstellungswelt in die Hölle, in einer anderen muss er ein
schlechteres nächstes Leben auf sich nehmen. Es könnte so sein oder auch
anders, das ist alles, was wir vom Standpunkt der menschlichen Vernunft aus
sagen können: Wir wissen es nicht und können nie zu diesem Wissen gelangen. Die
Prinzipien sind so angelegt, dass sie nicht überprüft werden können, sondern
der Willkür des Glaubens unterliegen: Jeder kann glauben, was er will.
Schließlich dürfen wir noch die
Frage stellen: Ist die Welt besser geworden, weil die Menschen für ihre Untaten
möglicherweise in die Hölle kommen oder als Wurm wiedergeboren werden?
Vielleicht haben die Glaubenssysteme dazu beigetragen, dass sich in
voraufgeklärten Zeiten die Menschen aus Angst vor negativen metaphysischen
Konsequenzen mehr dem Guten zugewandt haben, aber selbst über diese These
können wir nur spekulieren und genug Gegenbeispiele zitieren.
Die Menschheitsgeschichte ist voll
von Verbrechen und Grausamkeiten; ob es heute weniger oder mehr sind als in
früheren Zeiten, können wir nicht berechnen und werden es auch nie berechnen
können. Denn Leid ist nicht in Zahlen übersetzbar und immer subjektiv.
Wenn wir das Gute und das Böse
unterscheiden, brauchen wir einen ethischen Maßstab. Jeder Maßstab ist relativ,
es gibt keinen, der für ein universelles Gesetz taugt, außer er ist so
allgemein formuliert wie der kategorische Imperativ und muss dann für jeden
Einzelfall konkretisiert und interpretiert werden, womit unweigerlich
subjektive, zeit- und sozialgebundene Einflüsse dazukommen. Deshalb wird die
letztliche ethische Autorität an eine oberste Instanz delegiert, über deren
Bewertungskriterien wir wiederum kein Wissen haben. Allenthalben geraten wir an
Punkte, an denen wir völlig im Dunkeln tappen, und unsere Fantasieprojektionen,
die wir dann entwickeln, helfen uns auch nicht weiter.
Die unüberwindliche Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis
Ludwig Wittgenstein hat
bekanntlich seinen Tractatus mit dem Satz beendet: „Worüber man nicht reden
kann, darüber muss man schweigen.“ Wir können diesen Satz hier weiterspinnen:
Worüber es kein Wissen, sondern nur Spekulation gibt, darüber sollten wir
bescheiden den Mund halten und mit dem Vorlieb nehmen, was uns mit unserer
menschlichen Beschränktheit erkennen, wissen und erspüren können. Und über
alles, was darüber hinausgeht, können wir nur mit den Achseln zucken.
Für alle, die dennoch an die
Karmalehre glauben wollen, schlage ich ein kleines Experiment vor: Wann immer
sich das Thema in Gedanken meldet, indem wir z.B. an Ungerechtigkeiten in der
Welt und im eigenen Leben denken, kurz innezuhalten: Was ändert sich dadurch,
dass ich dieses Modell beiseite lasse und stattdessen meine Erkenntnisgrenzen
akzeptiere? Wird mein aktuelles Leben einfacher oder komplizierter, leichter
oder schwerer? Fühle ich mich besser oder schlechter? Oder macht es überhaupt
keinen Unterschied?
Wir sind frei in dem, was wir glauben
und was nicht; wirklich frei aber nur, wenn wir alle Ängste erkannt und gelöst
haben, die hinter unseren Glaubensbedürfnissen stehen. Dann fällt es uns
leicht, zu der Beschränktheit unserer Einsichts- und Erkenntnisweisen zu stehen
und das Illusionäre an den großen Antworten auf die großen Fragen zu durchschauen.
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