Als Erwachsene wissen wir, dass wir immer Menschen um uns haben, die manchmal anwesend sind und manchmal nicht, und dass auf Phasen des Alleinseins Phasen der Zweisamkeit oder des Zusammenseins in einer Gruppe folgen. Wir wissen, dass wir verbunden sein können, auch wenn gerade niemand da ist. Wir wissen, dass wir alleine gut mit unserem Leben zurecht kommen können und dass wir dafür sorgen können, jemanden zu treffen, wenn sich das Bedürfnis danach meldet.
Dennoch kann uns das Gefühl der Einsamkeit beschleichen, vor allem dann, wenn wir uns verlassen fühlen. Jemand ist nicht da, der da sein sollte. Und es ist ungewiss, ob er oder sie jemals wieder kommen wird. Jemand ist gegangen, und wir fallen in ein Loch der Einsamkeit. Wenn sich Liebespartner trennen, ist das so, „als wäre es ein Stück von mir“, das da verloren gegangen ist. Vor allem, wenn die projektive Identifikation besonders stark war.
Die Wurzeln von intensiven Einsamkeitsgefühlen liegen in vielen Fällen in einer vorgeburtlichen Zwillingsdramatik oder in frühkindlichen (nachgeburtlichen) Verlassenheitserfahrungen, z.B. bei einer Trennung des Babys von der Mutter gleich nach der Geburt. Wir Menschen sind soziale Wesen ganz von Anfang an, weil wir auf einer genetischen Ebene wissen, dass unser Ins-Leben-Treten und unser weiteres Überleben von der Unterstützung und dem Wohlwollen von anderen Menschen abhängt. Deshalb mobilisiert jede frühe Erfahrung, alleingelassen zu werden, existenzielle Bedrohungsgefühle. Im Unbewussten abgespeichert werden diese Gefühle später wiederbelebt, wenn es zu einer Trennungserfahrung kommt, die nicht verstanden und integriert werden kann.
Frühe Erfahrungen von Trennung und Verlassenwerden stellen eine Kränkung des Selbstwertes dar, und in den ersten Stadien der Entwicklung, in denen dieses Selbst noch sehr fragil ist, kann sich daraufhin dieser Selbstbezug nur unzureichend aufbauen. Es handelt sich hier um den primären Narzissmus, um die ursprüngliche Selbstbezüglichkeit, um die Basis des Selbstwertes, die in Mitleidenschaft gezogen wird. Wenn der primäre Narzissmus frustriert und beschädigt wird, ist die Entstehung des sekundären Narzissmus, einer krankhaften Form der Selbstbezüglichkeit, grundgelegt. Narzissten sind Persönlichkeiten, die sich unverstanden und einsam fühlen und dauernd Nähe herstellen müssen, um Bewunderung und Verständnis zu bekommen und die Einsamkeitsgefühle zu kompensieren.
Angst und Scham in Kombination
Was die Einsamkeit, also das Leiden am Alleinsein, zu einem quälenden Gefühl macht, ist die doppelte Aufladung durch zwei unserer mächtigsten Emotionen: eine tiefsitzende Angst einerseits und eine intensive Scham andererseits wirken zusammen. Neben der Zwillingsthematik sind es vor allem frühe traumatische Erfahrungen des Verlassenseins, Ignoriertwerdens oder der Ablehnung durch Bezugspersonen, die in intensiven Einsamkeitsgefühlen verborgen sind. Die Angst besteht darin, dass das eigene Überleben in Gefahr ist, wenn niemand da ist. Die Scham der Einsamkeit befindet sich nahe an der Urscham und rührt aus der Annahme, es nicht wert zu sein, dass jemand da ist. Das Fehlen der Liebe, das durch die Abwesenheit einer bestimmten Person schmerzhaft spürbar wird, ist auf zweierlei Weise bedrohlich. Denn die empfundene Bedrohung drückt sich in den beiden Gefühlen von Angst und Scham aus: Die Gefahr des individuellen Todes, weil niemand da ist, der die Versorgung der Basisbedürfnisse sicherstellt, und die Gefahr des sozialen Todes, weil niemand da ist, dem die eigene Existenz wichtig und wertvoll und damit erhaltenswert ist.
Dramatische Beziehungstrennungen
Beziehungstrennungen im Erwachsenenalter bekommen ihre Dramatik aus dieser an entlegenen Orten der Seele gespeicherten existenziellen Gefahrenerinnerung. Oft wird alles unternommen bis hin zu Gewaltakten, um der Drohung der Einsamkeit zu entkommen: Die andere Person darf mich auf keinen Fall verlassen, sonst gerate ich in die unabsehbare Gefahr des individuellen und des sozialen Todes. Eher töte ich diese Person als dass sie mich verlässt. Eine Pressemitteilung dazu: „Die meisten der Männer, die dieses Jahr eine Frau töteten, waren gerade frisch getrennt oder befürchteten eine Trennung.“ (derstandard.at)
Paare klammern sich aneinander wie Ertrinkende, auch wenn ihre Beziehung äußerst schwierig ist und fortwährend zu wechselseitigen Verletzungen und Demütigungen führt oder von jeder Lebendigkeit entleert ist. Besser eine aufreibende und energieraubende oder totgelaufene Beziehung als alleine übrig zu bleiben und die Marter der Einsamkeit erdulden zu müssen, so denken viele Leute, die in dysfunktionalen Beziehungen leben und leiden. Oder jemand läuft einer Person nach, die er/sie gerade mit Hass von sich weggedrängt hat.
Die Angst vor der Einsamkeit ist allmächtig, wenn sie aus kindlichen Verlassenheitsgefühlen entstanden ist. Sie kann eine ganze Bandbreite von Verhaltensweisen und Reaktionen auslösen – von Tötungshandlungen an anderen bis zur Selbsttötung, von Depressionen bis Suchtkrankheiten. Sie führt zum Drang nach Ablenkungen und Zerstreuungen.
Sehnsucht, die kleine Schwester der Einsamkeit
Ist das Gefühl der Einsamkeit einmal da, meldet sich schnell die kleinere Schwester, die Sehnsucht. Sie fügt der bitteren Einsamkeit einen süßen Geschmack bei, ein Stück fantasierten Trostes. Sie weist hin auf die Befreiung aus der qualvollen Einsamkeit. Die Sehnsucht weiß, wo das Glück zu finden ist. Sie präsentiert ein leuchtendes Bild der Erlösung aus dem Leiden.
„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide,“ heißt es in dem bitterschönen Schubertlied. Das Leiden liegt im Verlassensein, im Kontaktverlust, in der Existenzangst und Existenzscham. Aus dem Leid will uns die Sehnsucht herausziehen wie Münchhausen mit seinem Zopf. Sie verheißt uns das Objekt unseres Begehrens, die Lichtgestalt, die alles hat, was uns glücklich macht. Irgendwo wartet jemand darauf, uns zu geben und von uns zu kriegen, was das Erfüllendste auf Erden ist: Das Fließen der reinen Liebe.
Die Sehnsucht als Ausweg
Doch ist die Sehnsucht nur dann ein Ausweg aus der Einsamkeit, wenn wir sie konstruktiv nutzen, statt folgenlos in ihr zu schwelgen. Wir verlieren uns also nicht in Träumen und Wunschfantasien, sondern fragen uns: Was ist zu tun? Wie kann ich meine Situation verbessern? Was brauche ich dafür? Mit der Bereitschaft zum Handeln kommen wir aus der Fantasiewelt in die Wirklichkeit, aus der Welt der Illusion in die des Tuns. Wir nehmen unser Schicksal mit Selbstverantwortung in unsere Hand und gehen weiter im Leben, heraus aus dem Gefängnis des Einsamkeitsgefühl und der Scheinspannung der Sehnsucht. Wir öffnen uns für die Überraschungen und Wunder, die das Leben für uns bereithält und verbinden uns mit der Kraft, mit der wir die kommenden Herausforderungen meistern können.
Wenn sich das alte Einsamkeitsgefühl meldet, nehmen wir es an, ohne uns im Weitergehen behindern zu lassen. Vielleicht findet sich das, was wir suchen, hinter der nächsten Ecke, vielleicht taucht es erst viel später auf, vielleicht ist es schon da, ohne dass wir es bemerken. Vielleicht tritt es in einer anderen Gestalt in unser Leben oder zeigt sich nur in Aspekten. Statt uns nur auf die Wünsche und Fantasien zu fixieren, gehen wir mit offenen Augen und Ohren die Schritte weiter, die uns das Leben vorgibt.
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