Manchmal hört man in esoterischen Zusammenhängen: „Hass ist die Kehrseite der Liebe.“ Liebe und Hass hätten die gleiche Schwingung und seien entgegengesetzte Pole des gleichen Spektrums. Was man liebe, müsse man gleichermaßen hassen. Und wenn man jemanden hasst, heißt das, dass man ihn in Wahrheit oder andererseits zugleich liebe. Im Hass drücke sich nur aus, wie wichtig die andere Person wäre.
Wieder eine Falle des Polaritätsdenkens? Hier kommt noch eine Querverbindung dazu, denn das Liebe-Hass-Konzept erinnert an die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Eines derer Merkmale liegt im schnellen Umschlagen von „Liebe“ zu Hass: Menschen werden zunächst verehrt und angebetet, und nach dem Umschwung des Gefühls abgewertet, abgelehnt und gehasst. Im Erleben des Borderline-Leidenden schwingt das Pendel einmal in die eine und einmal in die andere Richtung.
Das Grundproblem des Borderliners (und so ist es wohl in unterschiedlichen Ausmaß bei jedem Neurotiker und egofixierten Menschen, also bei fast jedem Menschen) liegt darin, dass Liebe mit einer Form der Abhängigkeit verwechselt wird. Wir fühlen uns zu jemandem oder zu etwas hingezogen und können nicht mehr davon lassen. Wir nennen (in Ermangelung eines Besseren) diese Form der Anziehung und Anbindung „Liebe“. Da solche Formen der Abhängigkeit anfangs mit angenehmen bis überwältigenden Gefühlen einher gehen (z.B. wenn wir uns verlieben), meinen wir, das müsse Liebe sein. Tatsächlich jedoch „lieben“ wir uns nur selbst in unseren Projektionen: Was wir gerne hätten oder wie wir gerne wären, sehen wir in der anderen Person und lieben sie dafür. Sobald sich zeigt, dass es zu den Sonnenseiten der Person auch Schatten gibt, ist der Zauber verschwunden und damit auch die Liebe.
„Sie lieben diejenigen ohne Maß, die sie ohne Grund hassen werden", hat schon Thomas Sydenham im 17. Jahrhundert über solche Personen gesagt. Modern wird gereimt: „Ich hasse dich, verlass mich nicht.“
Die Projektionen des Borderliners stammen aus dem Reich der Polaritäten und haben häufig eine Entweder-Oder-Gestalt: Entweder liebt sie mich oder sie hasst mich. Das sehe ich daran, wie sie mich anschaut oder welche Worte sie gebraucht oder mit wem sie redet und mit wem nicht, wie viel sie mir gibt und was sie mir schuldig bleibt usw.
Diese Form der „Liebe“ arbeitet vorzugsweise mit Bedingungen: „Wenn du tust, was ich will, kann ich dich lieben, wenn du es nicht tust, muss ich dich hassen.“ „Wenn du dich verhältst, wie ich es will, liebst du mich, wenn nicht, dann hasst du mich.“ Ein Drittes gibt es nicht. Und Freiheit gibt es damit auch keine.
Gibt es die bedingungslose Liebe, oder ist sie immer an den Hass geknüpft, sodass wir gar nicht danach suchen sollten, möglichst viel Liebe in unser Leben zu bringen, weil umso mehr Hass die Folge sein würde? Wenn wir uns aus dem dualen Weltbild lösen und es dem angstgebundenen Bereich der Schutzgefühle zuweisen, also davon ausgehen, dass polares Denken aus einer tieferliegenden Quelle der Angst gesteuert ist, dann können wir erkennen, dass Liebe jenseits von Abhängigkeit und Bedingtheit im Raum des Fließens zuhause ist.
Polarität ist geprägt von einem Eingebundensein in eine Struktur der Enge und Beschränktheit. Manchmal suchen wir den Ausweg aus dieser Begrenztheit in der Mitte zwischen den Polen. Viele Weisheitslehrer haben diesen Mittelweg als den Weg der Tugend angepriesen. Doch setzt der Weg der Mitte die Pole voraus, und ihre Herkunft aus der Angst wird damit überdeckt. Die Mitte zwischen den Extremen wäre dann der Ort der geringsten Angst, aber nicht der Freiheit von Angst. Es wäre der Ort, an dem wir uns in relativer Sicherheit wähnen, und uns hüten müssen, in einen der Pole abzurutschen. Wir hoffen, in der Mitte den Frieden zu finden.
Doch der Friede liegt im freien Fließen, und wir erreichen ihn, wenn wir uns aus der Zone der Angst wegbewegt haben. Wir sind dort, wenn unser Atem offen und entspannt fließt, ohne Ecken und Kanten. Wir schwingen, unsere Körperzellen vibrieren, und wir fühlen uns im Einklang mit der Natur und Natürlichkeit unseres Körpers.
Das ist der Weg zurück in die Welt des Analogen, in die Welt der Kreativität und Allverbundenheit. Wir brauchen keine Angst zu haben vor dem Digitalen und seinen Polen. Sie sind Ausdruck unseres beschränkten Verstandes, der uns Sicherheit geben will, wenn unsere Innen- und Außenwelt turbulent und unübersichtlich wird. Wenn wir auf unseren Atem hören, gibt er uns die Zeichen, die Wegweiser, wie wir wieder zurück finden in unsere Urheimat, die in der Verbindung mit dem Fließen des Lebens besteht, das alles umfasst, die ganze Bandbreite mit allen Extremwerten.
Zum Weiterlesen:
Hass und Liebe: Vom Mangel zur Fülle
Gedanken, Ideen und Satiren von Wilfried Ehrmann, Psychotherapeut und Buchautor in Wien
Mittwoch, 16. November 2011
Sonntag, 13. November 2011
Polaritäten - Ursprünge und Folgen
"Alles ist zweifach, alles hat zwei Pole, alles hat sein Paar von Gegensätzlichkeiten“, so heißt es im Kybalion, einem esoterischen Buch, das 1908 erschienen ist und sieben „hermetische Prinzipien“ enthält. Darauf fußend, findet sich das Prinzip der Polarität in verschiedenen Lehren dieser Geistesrichtung, so schreibt z.B. der Reinkarnationstherapeut Mathias Wendel: „Immer gibt es Pol und Gegenpol, kurz die Polarität: Tag und Nacht, Mann und Frau, Krieg und Frieden, usw. Wenn es zwei Gegenpole gibt, dann gibt es Spannung dazwischen. Spannung bedeutet, dass sich etwas bewegt.“
Doch lassen wir uns nicht gleich von solchen esoterischen Scheingesetzmäßigkeiten ins Bockshorn jagen. Zunächst können wir uns klarmachen, dass es in der Natur selber keine Polarität gibt. Tag und Nacht sind nur scheinbare Gegensätze, in Wirklichkeit geht die Nacht in den Tag und dieser in die Nacht über, in vielen Zwischenstufen und Übergängen. Ab wann die Nacht wirklich Nacht und nicht mehr Tag ist, sagt uns die Natur nicht, sondern nur unsere eigene Festlegung.
Aber bei den Geschlechtern ist es doch klar – oder doch nicht so? Mann und Frau unterscheiden sich zwar in ihren Geschlechtsmerkmalen; alles weitere ist schon strittig – die einen sagen, dass die Männer von einem grundsätzlich anderen Planeten stammen als die Frauen, was die so wesentlichen Unterschiede erklärt, dass Frauen das Einparken schwer fällt und Männern das Verstehen von Gefühlen. Die anderen sagen, dass das alles erlernt ist und von kulturellen Prägungen abhängt. Und die Biologie und Genetik ist auch nicht so eindeutig wie es die Polaritätslehre fordert. Es gibt – zwar nur als kleine Minderheit – ein drittes Geschlecht zwischen Mann und Frau in verschiedenen Ausformungen. Und es gibt angeblich Frauen, die männlicher sind als manche Männer und Männer, die weiblicher sind als manche Frauen. Also alles andere als eindeutig, alles andere als polar.
Über Krieg und Frieden braucht es da gar keine weiteren Ausführungen, die Zwischenstufen sehen wir, sobald wir eine Nachrichtensendung im Fernsehen einschalten. Außerdem verhieße ja das Gesetz der Polarität, dass jeder Friede einen Krieg fordere, und je mehr Friede umso mehr Krieg nach sich ziehe – eine Sichtweise, die wir hoffentlich ersatzlos in den Bereich der pessimistischen und angstbesetzten Fantasien verbannen dürfen.
Weder die Natur noch die Kultur bringen eindeutig polare Zuordnungen und Gegensätze zustande. Vielmehr haben wir es überall dort mit Kontinuitäten zu tun – eines geht ins andere über und wird mehr und mehr zum anderen, bis es scheinbar einen Gegenpol bildet zum einen. Kaum aber ist es dort, verändert es sich schon weiter, wieder zurück zum Ausgangspunkt oder ganz woandershin.
Woher kommen wir also auf die Idee von Polaritäten? Sie sind Konstrukte unseres Denkens. Das ist in der Lage, binär zu operieren, d.h. A zu A zu machen und davon B abzugrenzen als Nicht-A. Unser Denken bildet den Begriff „Nacht“, der eindeutig vom Begriff „Tag“ unterschieden ist. Damit haben wir ein Gegensatzpaar, das es zwar in der Wirklichkeit nicht gibt, aber das es uns möglich macht, leichter mit der Wirklichkeit umzugehen. Denn wir können uns ausmachen, dass wir in der Nacht dieses und jenes unternehmen, und bei Tag anderes, ohne auf die feineren Unterschiede einzugehen, die die Natur vorsieht.
Meine These zu den Ursprüngen der Dualität oder Polarität geht noch ein Stück weiter zurück als die Zeichen- und Symbolbildung durch Sprache und Denken. Wir treffen auf ein elementares polares Muster bei allen Lebewesen, selbst schon bei einzelligen Organismen. Sie haben in einer Gefahrensituation zwei Optionen: Kampf (Verteidigung) oder Flucht. Sie müssen sehr schnell einschätzen, was die besten Erfolgschancen hat, und entscheiden, was gewählt wird, um das Überleben zu sichern. Die enorme Stressbelastung, die auf dieser Entscheidungssituation ruht, bewirkt den Anschein einer Dualität, d.h. das Lebewesen vereinfacht die Wirklichkeit so weit, dass nur die Alternative von Kampf oder Flucht offen bleibt.
Die hohe emotionale Aufladung einer solchen Situation (wir merken das daran, dass wir extreme Gefahrensituationen, die wir selber erlebt haben, nie vergessen) brennt die duale Struktur in unser Erleben ein und bildet die Grundlage dafür, dass wir entsprechende Sprach- und Denkstrukturen ausbilden, z.B. die Negation, eine rein sprachliche oder gedankliche Operation, die es uns ermöglicht, zu jeder Realitätserfahrung ein Gegenteil zu konstruieren: Wenn nicht Kampf, dann Flucht. Wenn nicht Liebe, dann Hass. Wenn nicht Freiheit, dann Unfreiheit usw.
Wenn du nicht für mich bist, bist du gegen mich. Die Polarität wird einzementiert. Die Folgen von solchen Positionen sind meistens katastrophal. Und das ist auch leicht verständlich, wenn wir die Wurzel des polaren Denkens verstehen, die in einer nackten Überlebensangst liegt. Deshalb wagen wir die Schlussfolgerung, dass alle Polaritäten mit Angst durchtränkt sind. Die Spannung zwischen den Polen ist eine Anspannung aus Angst, die wir körperlich spüren, sobald wir uns ihr aussetzen.
Machen Sie das Experiment: Denken Sie den Satz: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.“ Können Sie dabei ganz entspannt und gelassen und heiter bleiben? Oder nehmen Sie wahr, dass sich irgendwo in Ihrem Körper etwas anspannt?
Könnte es sein, dass die Polaritäten, die wir in der Wirklichkeit zu erkennen vermeinen, „in Wirklichkeit“ nur Projektionen von Überlebensängsten sind? Und könnte es sein, dass diese Projektionen für einen Gutteil der menschenverursachten Leidenszuständen auf dieser Erde zuständig sind, für die Kriege, Ausbeutungen, Unmenschlichkeiten?
Zum Weiterlesen:
Polaritäten lähmen - Kontinuitäten befreien
Sonntag, 23. Oktober 2011
Die Krise und die Menschen
Die Finanzkrise ist in aller Munde und kann auch mal zu flauen Gefühlen in der Magengrube beitragen. Es ist die Rede von Geldbeträgen, die jede Vorstellungskraft übersteigen, die von einem Rettungsschirm in den anderen geschaufelt werden, von einem Land ins andere. Wir hören von drastischen Einschnitten in den Sozialprogrammen und anderen Rückbauten im Wohlstandsniveau bei den überschuldeten Ländern und sehen die Bilder von den wütenden Protesten dagegen.
Wir wissen nicht, wie sich die Krise weiter entwickeln wird und wie schwer es uns betreffen wird – soweit wir nicht in den im Moment am stärksten betroffenen Ländern leben. Wir vernehmen, was uns die Experten erklären und welche Lösungen sie vorschlagen, und erkennen, auch wenn wir keine Experten in Finanzpolitik, Bankwesen und Volkswirtschaftslehre sind, dass sie nichts weiter anbieten können als ein breites Spektrum von Spekulationen. Die einen prophezeien den Kollaps des Euro und in der Folge der Weltwirtschaft, wenn die Pleite-Länder weiter unterstützt werden, die anderen, wenn sie nicht mehr unterstützt werden, sondern eben pleite gehen.
Unsere Politiker suchen sich dann diejenigen Experten-Spekulanten aus, die ihnen am besten in ihr politisches Spektrum passt. Dabei fällt wieder einmal auf, dass die rechten Parteien zum Schulterschluss unter dem Nationalego blasen – wir bunkern uns ein auf unserer seligen Insel, die Welt um uns soll ruhig untergehen, kein Cent mehr sollen die faulen Säcke kriegen. Die Wirtschaftsgemeinschaft nutzen wir solange, solange sie uns Gewinne ins Land schaufelt, wenn es schwieriger wird, schotten wir uns einfach ab, und versaufen diese Gewinne an den Biertischen.
Die meisten Parteien, die in Europa die Regierungen stellen (mit Ausnahme der Slowakei), gehen den anderen Weg und hoffen, dass die Transferzahlungen aus den Rettungsschirmen irgendwann ein Ende finden und dass die Volkswirschaften die Milliardenbeträge erwirtschaften können. Niemand kann wissen, ob diese Strategie erfolgreich ist und wohin sie führen wird.
Andere wieder fordern, dass die Entscheidungen, die da von den Regierungen und EU-Institutionen getroffen werden, dem „Volk“ zur Abstimmung vorgelegt werden sollten. Schön, aber über welche Entscheidungsgrundlagen verfügt das „Volk“? Noch viel weniger und dürftiger als die, die unsere Politiker haben, die wir dafür gewählt haben und bezahlen, dass sie sich eingehend und verantwortungsvoll mit den Problemen auseinandersetzen.
Allerdings ist die Erwartung naiv, dass es irgendwo, unter den Politikern oder unter den Experten, einen geben soll, der die Lösung des Rätsels kennt, wie Ödipus, der Theben mit seiner Klugheit von der Sphynx befreit. Oder wie die Deutschen und Österreicher in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die sich von einem „starken Mann“ die Befreiung aus allen Nöten erhofft haben. Jeder „Mann“, der da heute aufsteht und behauptet, „die“ Lösung zu kennen, ist ein Schwindler und Betrüger. Die Problematik ist so komplex, dass sie ein einzelner Mensch nicht durchschauen kann, und jeder, der das behauptet, täuscht sich selbst.
Und das ist einfach die Situation, in der wir uns befinden. Wir wissen nicht, in welche Zukunft uns die Maßnahmen führen, die gerade beschlossen und durchgeführt werden. Es gibt nichts Vergleichbares in der Geschichte der Menschheit, das uns als Modell dienen könnte. Wir sind ganz auf uns gestellt, auf dem Raumschiff Erde, im 21. Jahrhundert. Wir wissen nicht, ob dieses Wirtschaftssystem, das uns so viele schöne Dinge beschert hat, in dieser Form weiter bestehen wird, wir wissen nicht, ob der Wohlstand, dessen Segnungen wir mit großer Selbstverständlichkeit genießen, weiter wachsen wird. Wir wissen nicht, ob das europäische Staatensystem die Krise überleben wird usw.
Die Zukunft ist unsicher, und es scheint um mehr zu gehen, und deshalb reagieren wir auch mit mehr Irritation und Angst. Außerdem werden wir dauernd mit Informationen gefüttert, die in jedem zweiten Satz das Wort „Krise“ enthalten. Dazu kommt, dass wir wenig bis gar nichts tun können. Wir können nicht einmal für die armen Griechen spenden wie für die Katastrophenopfern oder Verhungernden sonstwo auf der Welt. Wer hat schon die Milliarden in der Sparbüchse, die dort gebraucht werden?
Die Zukunft ist unsicher, und das war sie schon immer, und das wird sie immer sein. Nehmen wir die Situation, in der wir uns befinden, als Gelegenheit, um uns klar zu werden, was uns wirklich wichtig ist im Leben. Der Wohlstand, in den wir hineingeboren wurden, bietet viele Annehmlichkeiten und Vorzüge, aber er ist im Grund nur eine Randerscheinung für das, was uns wirklich erfüllt und Glück beschert.
Und vertrauen wir darauf (das ist meine Botschaft, die ich aus dem Einblick in die Kraft der Bewusstseinsevolution verkünde...), dass wir in dieser Situation der systemischen Vernunft eine Chance geben müssen, weil wir anders nicht weiterkommen. Wir werden, ob wir das wollen oder nicht, unsere Egoismen ein Stück weiter hinter uns lassen müssen und damit – als Einzelne, als Gesellschaften und als politische Einheiten – ein Stück reifer werden. Gleich, was die Zukunft bringen wird, das systemische Bewusstsein wird mehr Raum einnehmen und den Boden bereiten für den nächsten Reifungsschritt, der uns ins holistische Bewusstsein führen wird.
Gehen wir den Weg gemeinsam!
Samstag, 8. Oktober 2011
Zu viel, zu intensiv, zu schnell
Nach dem berühmten Traumaforscher Peter Levine ist eine traumatische Erfahrung gekennzeichnet durch: zu viel, zu intensiv, zu schnell.
Da haben wir schon die Leitvorstellungen unserer Lebenskultur: Wir wollen viel, wollen es intensiv und schnell. Wer will wenig? Vielleicht weniger Anstrengung oder Arbeitszeit oder Konflikt. Aber was die Dinge und Zahlen anbetrifft, soll es immer mehr werden. Wenig am Konto und wenig im Kühlschrank bedeutet Mangel, Mangel bedeutet Gefahr, und Gefahr wollen wir nicht, sondern Sicherheit. Davon können wir nicht genug kriegen. Also soll nicht nur der Kühlschrank, sondern auch die Tiefkühltruhe voll sein, und daneben die Regale des Vorratskellers. Das Konto dagegen ist nie voll genug, es gibt immer noch mehr, was darin Platz finden könnte, und die Sicherheit, die das gibt, ist äußerst fragil. Ich kann nie sicher sein, ob nicht am nächsten Tag eine riesige Rechnung aus irgendeiner Sache, die ich längst vergessen hatte, auftaucht, oder eine Einzahlung, auf die ich warte, nicht kommt. Es könnte auch ein Schicksalsschlag über mich hereinbrechen, der alle Mittel fordert. Also strebe ich nach mehr, mehr, ohne je auf der sicheren Seite zu landen.
Intensität ist ein weiterer Lockvogel, dem wir gerne auf den Leim gehen. Wir sind einen hohen Reizpegel gewohnt, weil wir in Umgebungen aufgewachsen sind und leben, die uns dauernd herausfordern. Fehlt die Herausforderung durch einen starken Reiz, wird uns sofort fad. Etwas Spannendes muss her, und wenn das ausgelutscht ist, braucht es den nächsten Kick. Wenn wir von einem Fernsehkanal zum nächsten zappen, damit unser Intensitätshunger gestillt wird, geht es uns wie Drogensüchtigen. Ein Event jagt das nächste, und damit sind wir gleich beim dritten Thema:
Die Schnelligkeit, ein Fetisch unserer Zeit. Es gibt Preise für die Schnellsten, im Laufen, Reden, Kochen, Rappen... Es gibt keine Preise für die Langsamsten, für die, die entschleunigen, beruhigen und ausgleichen. Die ganze Aufmerksamkeit geht zu den Lauten, Aufgeregten, Hektischen und Hysterischen, in den Medien, in der Politik und der Wirtschaft. „Beeil dich schon, trödel nicht so herum,“ so lautet die häufige Schelte an ein Kind, das das Prinzip der bedingungslosen Schnelligkeit noch nicht verstanden hat, das die Erwachsenenwelt dominiert. Dort wird jede Bremsung als Blockierung des eigenen Strebens und Weiterkommens interpretiert. Kaum kommt das Auto zum Stehen im Stau oder vor einer Ampel, setzt die Unruhe ein, die zum schnellen Weiterkommen drängt. Wir kommen gar nicht auf die Idee, dass wir Zeit gewinnen, wenn alles steht – zum Atemholen und Zurücklehnen. Wir sind überzeugt, dass es die Zeit nicht gibt, die niemand verlieren will.
Zu viel, zu intensiv, zu schnell – das war die Erfahrung bei einer Traumatisierung, die irgendwann passiert ist, früh im Leben, vielleicht schon weit vor der Geburt. In unserer Lebensform ist diese Traumastruktur allgegenwärtig, und es scheint geradezu, dass die Art, wie wir unser Leben gestalten, davon getragen ist. Damit reproduzieren wir unsere Traumatisierungen immer wieder und wieder, mit unserem Drängen: „Wann kommt endlich der Kellner? Wie lange braucht der noch vor mir in der Schlange? Wann wird der Film endlich spannend? Warum fährt der vor mir so langsam?“
Schließlich verstehen wir nur mehr eine Welt von Traumatisierten. Alles andere ist uns fremd und irritiert uns. Das Gestörte ist uns vertraut, das Verängstigte gibt uns Sicherheit. Eine verkehrte Welt, die wir uns da in unserem inneren Erleben zurecht gemacht haben.
Freitag, 7. Oktober 2011
Vom Mut zu wachsen - Sieben Stufen der Integralen Heilung
Mein neues Buch hat das Licht der Welt erblickt und freut sich auf seine LeserInnen. Es steckt viel von meinen inneren Erfahrungen und Gedanken in diesem Buch. Die Reise geht durch "alle" Bewusstseinsschichten, die in sieben Stufen unterteilt werden. Sie werden in der Geschichte der Menschheit und in unserer eigenen Geschichte aufgesucht und beispielhaft erfahrbar.
Manchmal sind wir Urzeitmenschen, die sich nichts sehnlicher als die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zu einem Stamm wünschen; die Angst haben, die soziale Anerkennung zu verlieren oder aus der Rolle zu fallen.
Dann wieder kommt der Impuls, auszubrechen und etwas Neues anzufangen, die Zusammenhänge zu verlassen, in denen wir drinstecken, koste es, was es wolle.
Doch gibt es später wieder Phasen, in denen wir uns nach Ordnung und Sicherheit sehnen und froh sind, wenn wir nicht alles selber checken müssen, sondern uns auf Institutionen verlassen können, die uns versorgen, wenn wir in Not sind.
Und wir kennen die Ansprüche, die sich gerade nach solchen Erfahrungen melden: Ich soll mein eigenes Leben auf meinen eigenen Leistungen begründen und in der Lage sein, mich selber zu finanzieren, wofür ich mich anstrengen muss, und dann auf meine Erfolge stolz sein kann. Meine Sicherheit suche ich jetzt in Gütern, die ich um mich herum anhäufe.
Damit irgendwann unzufrieden, gehe ich weiter und suche den Sinn in all dem Streben und komme drauf, dass mich Dinge nicht glücklich machen. Ich brauche Qualitäten in mir, die mir zeigen, dass ich eine einzigartige Person bin, ich möchte meine Kreativität entfalten.
Auch von hier führt mich ein innerer Drang weiter. Ich möchte nicht nur als großes Ich erfolgreich und einzigartig sein, sondern mich in sozialen Netzen engagieren und für etwas Größeres da sein.
Schließlich suche ich den endgültigen Ausstieg aus den Zyklen des Leidens und der Selbstbezogenheit. Ich möchte das ausweiten, was ich in vielen Momenten der inneren Suche spüren konnte: die innere Freiheit und Leichtigkeit, die Weite und universelle Verbundenheit.
All das braucht Mut, von einer Sicherheit zur nächsten fortzuschreiten, Altes aufzugeben und sich Ängsten zu stellen. Doch gibt es eine innere Kraft, die uns dabei unterstützt, ich nenne sie die Kraft der Evolution.
Das Buch möchte Mut machen, Mut zum Wachsen und Weitergehen. Als Menschheit machen wir das seit Millionen von Jahren, und in unserer Lebensgeschichte sind wir auch schon weit vorgedrungen. Wenn wir uns mit dem Modell, das dieses Buch anbietet, näher auseinandersetzen (und das wird im Buch auch durch Übungen erleichtert), verbinden wir uns mit der Kraft der Evolution und wir lernen, dem Leben mehr und tiefer zu vertrauen.
Du kannst das Buch über den Kamphausen-Verlag beziehen (http://weltinnenraum.de/buch-autor/dr-wilfried-ehrmann/vom-mut-zu-wachsen.html - versandkostenfrei in Deutschland) oder bei mir (info@wilfried-ehrmann.com - versandkostenfrei in Österreich). Es ist jetzt auch als E-Book erhältlich.
Ein Interview zum Buch findet sich als Video in: http://vimeo.com/29094578
Ein Überblick über die sieben des Bewusstseins bietet: http://vimeo.com/29096519
Eine Meditationsübung kann auf Youtube mitgemacht werden: http://www.youtube.com/watch?v=HZxgUlwBjCU&feature=channel_video_title
Ich freue mich über alle Rückmeldungen und Diskussionen zu den vielen Themen, die in dem Buch angesprochen werden.
Manchmal sind wir Urzeitmenschen, die sich nichts sehnlicher als die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zu einem Stamm wünschen; die Angst haben, die soziale Anerkennung zu verlieren oder aus der Rolle zu fallen.
Dann wieder kommt der Impuls, auszubrechen und etwas Neues anzufangen, die Zusammenhänge zu verlassen, in denen wir drinstecken, koste es, was es wolle.
Doch gibt es später wieder Phasen, in denen wir uns nach Ordnung und Sicherheit sehnen und froh sind, wenn wir nicht alles selber checken müssen, sondern uns auf Institutionen verlassen können, die uns versorgen, wenn wir in Not sind.
Und wir kennen die Ansprüche, die sich gerade nach solchen Erfahrungen melden: Ich soll mein eigenes Leben auf meinen eigenen Leistungen begründen und in der Lage sein, mich selber zu finanzieren, wofür ich mich anstrengen muss, und dann auf meine Erfolge stolz sein kann. Meine Sicherheit suche ich jetzt in Gütern, die ich um mich herum anhäufe.
Damit irgendwann unzufrieden, gehe ich weiter und suche den Sinn in all dem Streben und komme drauf, dass mich Dinge nicht glücklich machen. Ich brauche Qualitäten in mir, die mir zeigen, dass ich eine einzigartige Person bin, ich möchte meine Kreativität entfalten.
Auch von hier führt mich ein innerer Drang weiter. Ich möchte nicht nur als großes Ich erfolgreich und einzigartig sein, sondern mich in sozialen Netzen engagieren und für etwas Größeres da sein.
Schließlich suche ich den endgültigen Ausstieg aus den Zyklen des Leidens und der Selbstbezogenheit. Ich möchte das ausweiten, was ich in vielen Momenten der inneren Suche spüren konnte: die innere Freiheit und Leichtigkeit, die Weite und universelle Verbundenheit.
All das braucht Mut, von einer Sicherheit zur nächsten fortzuschreiten, Altes aufzugeben und sich Ängsten zu stellen. Doch gibt es eine innere Kraft, die uns dabei unterstützt, ich nenne sie die Kraft der Evolution.
Das Buch möchte Mut machen, Mut zum Wachsen und Weitergehen. Als Menschheit machen wir das seit Millionen von Jahren, und in unserer Lebensgeschichte sind wir auch schon weit vorgedrungen. Wenn wir uns mit dem Modell, das dieses Buch anbietet, näher auseinandersetzen (und das wird im Buch auch durch Übungen erleichtert), verbinden wir uns mit der Kraft der Evolution und wir lernen, dem Leben mehr und tiefer zu vertrauen.
Du kannst das Buch über den Kamphausen-Verlag beziehen (http://weltinnenraum.de/buch-autor/dr-wilfried-ehrmann/vom-mut-zu-wachsen.html - versandkostenfrei in Deutschland) oder bei mir (info@wilfried-ehrmann.com - versandkostenfrei in Österreich). Es ist jetzt auch als E-Book erhältlich.
Ein Interview zum Buch findet sich als Video in: http://vimeo.com/29094578
Ein Überblick über die sieben des Bewusstseins bietet: http://vimeo.com/29096519
Eine Meditationsübung kann auf Youtube mitgemacht werden: http://www.youtube.com/watch?v=HZxgUlwBjCU&feature=channel_video_title
Ich freue mich über alle Rückmeldungen und Diskussionen zu den vielen Themen, die in dem Buch angesprochen werden.
Montag, 26. September 2011
Eingeigelte Ignoranz
Laut einer Umfrage glauben die Anhänger der US-amerikanischen Tea-Party, einem radikal konservativen Flügel der republikanischen Partei, nicht daran, dass die Menschen am Klimawandel, falls es überhaupt so einen geben sollte, schuld tragen. Sie vertreten damit das für die USA typische uneingeschränkte und maßlose Konsumverhalten und lehnen jede Verantwortung für die dadurch verursachten Störungen in ihrem Land und auf dem Planeten ab. So weit, so traurig.
Nebenbei, gesponsert wird die Tea-Party angeblich von der Ölindustrie, die nicht gerade zu den umweltfreundlichsten Wirtschaftsbereichen gezählt wird. Die brauchen einige wortgewandte und aggressive Herren und vor allem Damen, die nicht müde werden, die immer eindeutigeren Erkenntnisse der Wissenschaften zum Klimawandel als Humbug abzutun und ein paar wieder von Industriekonzernen bezahlten Studien dagegen zu halten, und schon jubeln und kreischen die Fans.
Das ist eben Amerika, das Land der Vielfalt und der unterschiedlichen Strömungen. Erschreckt hat mich an der obigen Meldung der zweite Teil: Die Leugner der zivilisationsverursachten Klimaveränderungen haben nicht nur diese ihre Meinung, sondern sie glauben dazu noch, dass sie ausreichend über diese Frage informiert sind, dass sie also nichts weiter zur Kenntnis zu nehmen brauchen, was ihre Überzeugung in Frage stellen könnte.
Damit igelt sich die Ignoranz ein. Was gibt es Schlimmeres, als ein Nichtwissen, das von sich glaubt, dass es Allwissen ist? Paranoiker aller Länder, vereinigt euch. Aber bitte, bleibt unter euch und lasst die restliche Menschheit mit eurer Selbstherrlichkeit in Frieden.
Und ihr anderen US-Amerikaner, die ihr ohne Scheuklappen und Tunnelblick (und ohne das Geld der Ölindustrie) auskommt, gebt doch bitte diesen Menschen keine Aufmerksamkeit und keine Stimme bei irgend einer Wahl. Denn Ignoranz und Macht bilden eine gefährliche Mischung.
Donnerstag, 25. August 2011
Die Begnadeten und die Benachteiligten
„Bei manchen Menschen wirkt es so, als hätten sie erschwerte Anfangsumstände. In östlichen Traditionen würde man dazu sagen, sie haben eine Menge Karma mitgebracht, das sie behindert. Eckhart Tolle würde sagen, dass ihr Schmerzkörper stark ausgebildet ist. Wie auch immer wir es bezeichnen wollen: Es sieht so aus, als seien manche Menschen nicht so gesegnet bei ihrer Geburt wie andere.“ (Thomas Hübl, Sharing the Presence. Bielefeld: Kamphausen 2009, S. 267)
Bei diesem Zitat aus dem schönen, tiefgehenden und umfangreichen Buch von Thomas Hübl bin ich hängengeblieben. Viele Fragen finden in diesem Buch eine verständliche Antwort, diese jedoch nicht. Der Absatz endet mit dem Zitat und im nächsten wird ein anderes Thema besprochen. Und es ist keine unwichtige Frage: Wieso haben es manche Menschen schwerer als andere? Weshalb ist Gott offensichtlich so ungerecht? Wieso werden die Lasten und Leiden so ungleich verteilt und kriegen die einen so viel zu tragen, während es die anderen um soviel leichter haben?
Die Erklärungsversuche mit dem Karma, mit dem Schmerzkörper oder mit dem Segen, liefern keine Antwort auf die Frage, sondern verschieben sie nur weiter: Warum haben die einen mehr behinderndes Karma als andere? Weil sie in einem Vorleben Schlechtes getan haben. Warum tun die einen Schlechtes und kriegen deshalb ein schlechtes Karma und die anderen nicht? Weil sie im Vorleben.... Und schon dreht sich die Scheinantwort im Kreis.
Der Schmerzkörper ist bei den einen stark ausgebildet und bei den anderen schwach. Die einen sind nicht so gesegnet wie die anderen. Die einen fahren nach Paris und die anderen nach Schruns-Tschagguns, so Josef Hader. Das ist die Bestandsaufnahme und Situationsbeschreibung. Was hilft zu mehr Verständnis? Wie können wir menschlicher werden, wenn wir diese Befunde kontemplieren?
Schauen wir uns an ein paar Beispielen an, was gemeint ist. Ein beliebtes Beispiel für einen begnadeten Menschen ist Wolfgang Amadeus Mozart, der einen großen Schatz in seine Wiege gelegt bekommen hat, hochbegabt und enorm kreativ, von Kindesbeinen an ein Kanal für wunderbare Musik, dem auf diesem Gebiet alles leicht fiel, wofür andere unendliche Mühen auf sich nehmen und doch nie dorthin kommen, wo er schon als Zehnjähriger war.
Nun ist die Frage, wie er selber sein Leben erlebt hat. Wir wissen ja, dass alles, was wir gut können, zur Selbstverständlichkeit wird und nicht genug für unsere Zufriedenheit ist. Es gibt immer noch andere Bereiche, die wir nicht gemeistert haben und wo wir auf Mängel stoßen, die uns zu schaffen machen. Offenbar war es im Leben von Mozart nicht anders, sein Umgang mit Geld z.B. war alles andere als meisterhaft, und seine Spielsucht nicht gerade ein Zeichen seiner Begnadung. Im Alter von 34 sterben zu müssen, stellen wir uns nicht als erfülltes Leben vor.
Stellen wir uns ein Gegenbeispiel vor, ein Straßenkind in einem afrikanischen Bürgerkriegsgebiet, geboren in einem Elendsviertel, die Eltern und Geschwister in einem Massaker umgekommen, alle Verwandten tot, jeder Tag eine Herausforderung zu überleben. Die Wahrscheinlichkeit, bald zu verhungern oder einer Krankheit zu erliegen, ist sehr hoch, und im besten Fall gelingt es vielleicht, irgendeine mühselige Arbeit zu finden, die gerade ein ärmliches Überleben sichert, oder in der Kriminalität oder Prostitution zu landen. Ein Leben ohne Begnadung, Aussicht, Hoffnung. Nichts, was wir daran bewundern könnten, nichts, was uns als Vorbild dienen würde, nichts, was anderen Freude schenkt – ein sinnlos gefristetes Leben? Ein winziges Flämmchen, das kurz aufflackert und wieder verlischt?
Und unser Leben irgendwo dazwischen, bei weitem nicht so armselig wie das von vielen Millionen anderen Menschen auf dieser Erde, bei weitem nicht so genial wie das von einigen wenigen. In diesem Dazwischen bewegen wir uns, mal ein Stückchen rauf, mal ein Stückchen runter. Wir vergleichen uns gerne und, je nachdem, ob wir gerade gut drauf sind oder frustriert, fühlen wir uns besser als andere oder werden leicht grünlich vor Neid. Da gibt es immer noch jemanden, der ein größeres Stück vom Kuchen erwischt hat und sich vor unseren Augen daran genüsslich sättigt.
Was passiert, wenn wir dieses Szenario von etwas oberhalb betrachten, von einem Standpunkt der Desidentifikation, d.h. wo wir so tun, als hätte das alles gleichermaßen mit uns selbst zu tun, ohne dass wir an dem bestimmten, unseren Lebensschicksal festkleben. Wir sind also gleichzeitig ein Genie, ein Straßenkind, ein Durchschnittsmensch westlichen Zuschnitts. Gefragt, welches Leben wir wählen würden, wäre die Entscheidung wohl nur zwischen Genie und Durchschnittsmensch. Also müssen wir eine andere Frage suchen. Welches dieser Leben ist menschlicher? Können wir da anders antworten, als zu sagen, dass alle diese und auch noch die Milliarden anderen gleich menschlich sind? Menschen, die geboren wurden und aus ihrem Leben das Beste machen, was ihnen möglich ist, bis sie sterben, so gut es ihnen möglich ist? Welchen Sinn hat es da noch, das eine Leben als wertvoller als irgend ein anderes zu klassifizieren?
Aus unserer Durchschnittsperspektive ist es klar, dass ein Leben wie das von Mozart wertvoller und wichtiger ist als das eines Bettlers zu seiner Zeit. Sobald wir uns aber aus dieser Ebene lösen, wird offensichtlich, dass all die Bewertungsmaßstäbe, die wir ansetzen können, um den Wert menschlichen Lebens abzuschätzen, furchtbar relativ und willkürlich sind. Es gibt eine Perspektive, aus der alle diese Wertzuschreibungen selbst wertlos werden. Wenn wir dort angekommen sind, gilt uns alles gleich, und wir sehen nur Menschen, die auf ihrem Lebensweg fortschreiten, die einen schneller, die anderen langsamer, die einen zielstrebiger, die anderen ausschweifender, die einen kraftvoller, die anderen schwächer, die einen intelligenter und die anderen naiver usw. Was dabei gelingt, was misslingt, was zur Freude beiträgt und was zum Leiden, ist uns aus dieser Sicht gleich-gültig.
Stellen wir uns Gott als voll von Liebe vor und nicht als moralischen Zumesser von Glücksquanten je nach „Verdienst“, also eher wie eine Mutter, die viele verschiedene Kinder und alle gleich gern hat, dann kann die obige Perspektive der göttlichen nahe kommen. Jedes Leben hat die Gnade, die es mit der Geburt bekommt, ein Leben zu sein, und es enthält darin einen unschätzbaren Wert, der weit über das hinausreicht, was einzelne Gnaden ausmachen können. Jedes Leben ist also begnadet. Insoferne lenkt der Blick auf das Karma und auf andere Konzepte von einer universalen Gerechtigkeit nur davon ab, dass wir die unermessliche Liebeskraft des Göttlichen erahnen. Die Schöpferkraft, die wir darin sehen können, ist frei von Bewertungen, wie sie aus unserem menschlichen Verstand entspringen. Sie sorgt für eine unermesslich große Variabilität an Formen der Natur und der Menschenwesen.
In jedem dieser Wesen gibt es ein Quantum oder Quäntchen des Guten und des Schlechten, wenn wir es durch unsere Bewertungsbrille betrachten. Doch kann das nicht der Weisheit letzter Schluss sein, denn unsere Bewertungen können sich schnell ändern, z.B. wir begegnen dem Straßenkind und sehen ein ganz besonderes Leuchten in seinen Augen und fühlen uns tief berührt. In diesem Moment ist der Bewertungsraum verschwunden und wir befinden uns auf einer anderen Ebene. Sobald wir wieder zurück in unserer Alltagsmentalität sind, kann sich unser Maßstab verändert haben, und wir haben einen neuen Blick auf Armut, Benachteiligung und Ungerechtigkeit und unser Potenzial für Mitgefühl hat sich erweitert. Wir sind noch ein Stück menschlicher geworden, was soviel heißt, dass wir uns ein Stück mehr der Göttlichkeit genähert haben.
Dienstag, 23. August 2011
Die Ereignisse in Nordafrika aus der Sicht der Bewusstseinsevolution
Das Jahr 2011 hat überraschende Entwicklungen im arabischen Raum gebracht. Niemand hätte vor einem Jahr damit gerechnet, dass die Regime von Tunesien bis Ägypten weggefegt werden, und zwar nicht von einer konkurrierenden Machtelite, sondern von einer zornigen Bevölkerung. Auffällig ist, dass die ökonomische Unzufriedenheit, also das Leiden an den unzureichenden Lebensbedingungen, stets mit dem Ruf nach Freiheit verknüpft ist. Die Menschen wollen nicht nur mehr zu essen oder sauberes Trinkwasser, sie wollen auch einen Staat, in dem sie ihre Meinung sagen können und in dem verschiedene Interessensgruppen die Macht teilen. Sie wollen die Kontrolle der Macht und die Eindämmung der Willkür. Sie kämpfen gegen ein hierarchisches und autokratisches System, wie einst die Bürger in den englischen Revolutionen des 17. und in der französischen Revolution des 18. Jahrhunderts.
Es scheint, dass die Menschheit diesen Schritt vollziehen muss, dass sich die Menschen einfach nicht damit begnügen können, in einem hierarchisch geordneten Staatswesen ein bescheidenes und anspruchsloses Leben zu führen. Sie wollen wachsen, sich aus der Enge und Unfreiheit befreien, sie wollen mehr Raum in der Öffentlichkeit einnehmen, sie wollen mehr gelten und für wichtiger genommen werden.
In vielen, vor allem westlichen Ländern ist der Schritt in eine Gesellschaftsform und ein politisches System, das mehr von diesen Anliegen verwirklicht, im Prinzip schon vollzogen, muss aber überall beständig nachgebessert und neu formuliert werden. In anderen Staaten wurden solche Bestrebungen zumindest bis jetzt erfolgreich unterdrückt wie z.B. in Myanmar, Persien und China. In anderen Staaten wie in Syrien und im Jemen ist die Entscheidung noch nicht gefallen. Wie auch immer, im langen Atem der Geschichte sind das nur Verzögerungen. Gerade die Macht der Wut der Bevölkerungen der nordafrikanischen Staaten kann man so verstehen, dass sich ein neues Bewusstsein Raum schaffen muss, um welchen Preis auch immer. Unzählige Menschen sind bereit, ihr Leben dafür aufs Spiel zu setzen. Deshalb können wir davon ausgehen, dass alle Länder dieser Erde zu irgendeinem Zeitpunkt diesen Schritt vollziehen werden und den Widerstand überwinden werden, den die herrschenden Eliten mit ihrem Gewaltmonopol entgegensetzen. Die Kraft der Bewusstseinsevolution, die hinter diesem Freiheitsdrang der Menschen steckt, ist unaufhaltsam, und sie wirkt in langen Zyklen und Zeiträumen.
Gerne würden wir sehen, dass es schneller und einfacher geht, die Verhältnisse zu ändern, überall dort, wo sich der Zorn der Unterdrückten regt. Wir fühlen uns solidarisch, weil wir spüren, dass wir selber nur in Freiheit gedeihen können und weil wir nicht verstehen können, wie Regierungen die eigene Bevölkerung unterdrücken und niederknüppeln können.
Wenn wir die Aufstände und revolutionären Umbrüche mit unseren Herzen mitverfolgen und im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützen, brauchen wir damit nicht naiv glauben, dass nach dem Sturz der alten Regime „alles gut“ wird. Manchmal scheint es sogar, als kehrte die Fratze der alten Macht im neuen Gewand wieder. Doch wo immer die Bevölkerung auf den Geschmack der Freiheit und der Fähigkeit, die eigenen Verhältnisse selbst zu gestalten, gekommen ist, wird sie nicht ablassen von diesem Weg und an der Verbesserung und Befreiung der Institutionen arbeiten. Wie gesagt, der Atem der Geschichte ist lang, und der unserer Leidensfähigkeit kurz. Mit dieser Spannung zu leben, ist eine der Herausforderungen, die uns das Leben stellt. Vertrauen wir auf die unaufhaltsame Kraft der Evolution des Bewusstseins und üben wir uns im Mitgefühl mit den Opfern, die dieser Weg oft so sinnlos fordert.
Donnerstag, 28. Juli 2011
Rechtsterror braucht Geschichtstherapie
Die paranoiden Selbstrechtfertigungen von Terroristen enthalten praktisch immer historische Bezüge mit schrägen Interpretationen. Das eigene Bild der Geschichte wird benutzt, um die Motive des eigenen Verhaltens abzusichern. So bezieht sich der norwegische Attentäter unter anderem auf die 2. Türkenbelagerung Wiens im Jahr 1683 und sieht sich in der Tradition der Abwehr des Islams. Wie damals das Vordringen der fremden Religion aufgehalten wurde, will er heute mit seinen Massakern das Gleiche erreichen.
Geschichtstherapie besteht darin, dass eigene Ansichten und Interpretationen der Geschichte mit der „Wirklichkeit“ verglichen werden, ähnlich wie bei einer Therapie die eigenen Gefühle und Gedanken mit der „Wirklichkeit“ in Kontakt gebracht werden, z.B. kann nachgeforscht werden, welche Gefahren bestehen wirklich, wenn jemand viele Ängste hat.
Die Wirklichkeit steht in Anführungszeichen, weil wir nicht davon ausgehen sollten, dass sie objekt besteht und dass die Aufgabe nur darin besteht, sich diese Objektivität anzueignen. Die Wirklichkeit ist nichts statisch Verfügbares wie der Großglockner oder der Neusiedler See. Solche Gegebenheiten sind „immer“ da, zumindest in der Zeitspanne, die wir überblicken. Wir können davon ausgehen, dass wir auf einen See stoßen, wenn wir uns von Rust aus ostwärts bewegen oder dass wir den Großglockner sehen, wenn wir die Hochalpenstraße entlang fahren. Aber selbst an diesen Beispielen wird deutlich, wie relativ die Wirklichkeit ist. Beide Naturvorkommnisse sind irgendwann entstanden und waren vorher nicht da, und es ist nicht gesagt, dass sie von nun an ewig und schon gar nicht unverändert weiterbestehen.
Ähnlich verhält es sich mit der Geschichte. Sie ist ja schon vergangen und nur über eine Rekonstruktion, genannt Erinnerung zugänglich. Wir wissen, dass 1683 Wien von den Türken erfolglos belagert wurde, daran zweifelt niemand, weil es eine erdrückende Zahl von Berichten und Quellen gibt, und nichts, was dem widerspricht. Es geht jedoch in der Geschichte nie nur um ein Faktum, sondern vor allem um die Bedeutung dessen, was geschehen ist, und da gibt es sofort mehrere Wirklichkeiten, z.B. die Wirklichkeit der Verteidiger der Stadt und die der Angreifer, die der Befreier und die der Unbeteiligten usw.
Geschichtstherapie bedeutet, dass ich mir eingestehen muss, dass alles, was schon passiert ist, unendlich viele Bedeutungen enthält und dass die Bedeutung, die ich einem Ereignis gebe, nur eine von vielen und keinesfalls die einzig richtige ist. Damit löse ich eine Fixierung und mache mich frei, verschiedene Perspektiven einzunehmen – ähnlich wie eine Klientin in der Therapie erkennen kann, dass ein Ereignis, das ihr widerfahren ist, nicht nur schlimme Seiten, sondern auch gute haben kann. Dadurch wird sie frei zu wählen, welches Bild ihrer eigenen Geschichte ihr am besten hilft, nach dem Motto: „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.“
Paranoide Geschichtsbilder zeichnen sich durch ihre Einfachheit aus: Hier sind die Guten, dort die Bösen. Wir haben einen Drang zur Einfachheit, der von inneren Ängsten gesteuert ist: Unübersichtliche Situationen wirken bedrohlich. Rechtsparteien nutzen diesen Drang und bieten die einfachen Lösungen zu komplexen Themen an. Die Menschen fallen immer wieder darauf herein, weil sie ein kindliches Vertrauen zu den Vereinfachern entwickeln, die alle verwirrenden Fragen scheinbar so selbstsicher beantworten und für alle komplizierten Probleme die richtigen Taten wissen: Die Guten gehören belohnt, die Bösen bestraft oder ausgerottet.
Was heißt Geschichtstherapie im konkreten Fall? Die paranoide Ausgangsannahme: Die Ereignisse von 1683 werden mit religiösen und nationalen Bedeutungen identifiziert: In diesem Jahr sei das „christliche Abendland“ vor dem Islam gerettet worden. Wäre die Belagerung erfolgreich gewesen, gäbe es dieses Abendland nicht mehr, und alles wäre moslemisch. Daher dient diese Jahreszahl als Symbol für den Widerstand gegen Islamisierung und Überfremdung. So wie damals die Bedrohung abgewehrt wurde, muss ihr heute entgegen getreten werden, „notfalls“ mit Waffengewalt.
In der Geschichtstherapie wird die vereinfachte Deutung relativiert. Sicher gab es einen Bedeutungsstrang, der in der damaligen Propaganda ausgenutzt wurde, der die „Türkengefahr“ ins Zentrum stellte. Wegen der über 150 Jahre andauernden Bedrohung stellte dieses Szenario eine Konstante im Bewusstsein der Menschen im Osten Österreichs zur damaligen Zeit dar. Es wurde mit religiösen Bedeutungen zusätzlich aufgeladen: Die christlichen Österreicher gegen die moslemischen (heidnischen) Türken. Mit der propagandistischen Aufladung der Bedrohung sollte der innere Zusammenhalt einer ebensolang durch konfessionelle Streitigkeiten (Katholiken gegen Protestanten) entzweiten Bevölkerung gefestigt werden.
Tatsächlich war das Christentum keineswegs in Gefahr. Selbst in den über lange Zeit von den Türken beherrschten Gebieten wie z.B. Ungarn, Kroatien und Serbien blieb das Christentum bestehen und hielten sich keine Reste von islamischer Kultur. Die Türken pflegten eine sehr tolerante Religionspolitik in den von ihnen eroberten Gebieten.
Die türkische Expansion, die im Jahr 1683 ihren Höhepunkt überschritt, war eine Etappe in der Hegemonialpolitik der damaligen Großmächte, die ihre Gebiete soweit vergrößerten, soweit es der gegnerische Widerstand erlaubte. Türken gegen Österreicher hieß also, zwei Großmächte, die um die Macht im Raum Ungarn – Balkan kämpften. Die Kriege wären nicht anders verlaufen, wenn die Türken christlich oder die Habsburger moslemisch gewesen wären.
Selbst wenn den Türken die Eroberung Wiens gelungen wäre, ist es kaum vorstellbar, dass diese einen längeren Bestand gehabt hätte. Als die westlichen Truppen nach der Befreiung von Wien zum Gegenstoß ansetzten, zeigten sich die organisatorischen Schwächen der türkischen Seite, sodass in relativ kurzer Zeit große Teile der türkischen Eroberungen von den Habsburgern zurück gewonnen werden konnten. Diese konnten darauf ihre Großmachtstellung im Balkanraum aufbauen, die zwar viel zum wirtschaftlichen Aufschwung und zur Modernisierung Österreichs beitrug, schließlich aber zum auslösenden Faktor für die Katastrophe des 1. Weltkriegs wurde.
Eine weitere Betrachtungsweise kann die Erlebniswelt der Menschen der damaligen Zeit ins Auge fassen. Für den Großteil der damals lebenden Menschen (damit unserer direkter Vorfahren) bestimmten Überlebensängste den Alltag – die Sicherstellung der Ernährung, der Gesundheit und des Überlebens. Im 17. Jahrhundert gab es noch Pestepidemien und Hungersnöte, und der 30-jährige Krieg in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts war nicht nur der prozentuell verlustreichste Krieg aller Zeiten, sondern hinterließ auch eine enorme wirtschaftliche Verwüstung, die viele Jahrzehnte des Wiederaufbaues nach sich zog. Die Machtfragen der großen Politik, in der nach der Logik des Krieges die Grenzen gezogen wurden, betraf die Bevölkerung nur dort, wo der Krieg in den eigenen Landen wütete. Das Leben war ansonsten kaum dadurch verändert, wer die jeweiligen Machthaber waren, die Habsburger oder die Ottomanen oder sonst wer. Macht zu haben, hieß, aus der Bevölkerung an Abgaben und Steuern herauszupressen, was nur möglich war, um die nächsten Kriege finanzieren zu können, zur Absicherung oder Vergrößerung dieser Macht. Der Aufschwung, der die Zeit nach 1683 in Ostösterreich wirksam wurde, lag nicht daran, wer die Herrscher waren, sondern daran, dass sich die Konfliktlinien nach Osten und Süden verlagerten und jetzt die dortigen Gebiete im Kriegszustand waren.
In dieser Weise entfaltet sich ein differenziertes Geschichtsbild, das offen ist für weitere Sichtweisen, Ergänzungen und Erweiterungen. Es ist nie fertig und wächst mit neuen Fragestellungen, die nachgeborene Generationen stellen. Ein solches Geschichtsbild ist nicht für Ideologien oder paranoide Vereinfachungen tauglich. Im Gegenteil, es dient als Gegengift gegen jede Simplifizierung und Indienstnahme der Geschichte für den Stimmenfang, indem alte Ängste in neue hineingefüllt werden. Wir brauchen keine Angstmacher, sondern Mut- und Vertrauensmacher, wenn wir unsere Zukunft offener und freier gestalten wollen. Dazu braucht es die Bereitschaft, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, statt sie zu kopieren.
Vgl. Erzählend sind wir und erzählt
Vgl. Erzählend sind wir und erzählt
Dienstag, 26. Juli 2011
Der Dalai Lama - Zitat und Joke
Der Dalai Lama wurde gefragt, was ihn am meisten überrascht; er sagte: „Der Mensch, denn er opfert seine Gesundheit, um Geld zu machen. Dann opfert er sein Geld, um seine Gesundheit wiederzuerlangen. Und dann ist er so ängstlich wegen der Zukunft, dass er die Gegenwart nicht genießt; das Resultat ist, dass er nicht in der Gegenwart oder in der Zukunft lebt; er lebt, als würde er nie sterben, und dann stirbt er und hat nie wirklich gelebt.“
***
The Dalai Lama walks into a pizza shop. The waiter asks, “You want it with cheese, tomato, pineapple, anchovies …“ and lists everything he has. The Dalai Lama says, “Can you make me one with everything?”
He gets the pizza and gives 20 Dollars to the waiter. He waits for the change, but as it does not come, he asks the waiter, “What about the change?” The waiter takes a deep look at the Dalai Lama and says, “Change comes from within.”
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