Die paranoiden Selbstrechtfertigungen von Terroristen enthalten praktisch immer historische Bezüge mit schrägen Interpretationen. Das eigene Bild der Geschichte wird benutzt, um die Motive des eigenen Verhaltens abzusichern. So bezieht sich der norwegische Attentäter unter anderem auf die 2. Türkenbelagerung Wiens im Jahr 1683 und sieht sich in der Tradition der Abwehr des Islams. Wie damals das Vordringen der fremden Religion aufgehalten wurde, will er heute mit seinen Massakern das Gleiche erreichen.
Geschichtstherapie besteht darin, dass eigene Ansichten und Interpretationen der Geschichte mit der „Wirklichkeit“ verglichen werden, ähnlich wie bei einer Therapie die eigenen Gefühle und Gedanken mit der „Wirklichkeit“ in Kontakt gebracht werden, z.B. kann nachgeforscht werden, welche Gefahren bestehen wirklich, wenn jemand viele Ängste hat.
Die Wirklichkeit steht in Anführungszeichen, weil wir nicht davon ausgehen sollten, dass sie objekt besteht und dass die Aufgabe nur darin besteht, sich diese Objektivität anzueignen. Die Wirklichkeit ist nichts statisch Verfügbares wie der Großglockner oder der Neusiedler See. Solche Gegebenheiten sind „immer“ da, zumindest in der Zeitspanne, die wir überblicken. Wir können davon ausgehen, dass wir auf einen See stoßen, wenn wir uns von Rust aus ostwärts bewegen oder dass wir den Großglockner sehen, wenn wir die Hochalpenstraße entlang fahren. Aber selbst an diesen Beispielen wird deutlich, wie relativ die Wirklichkeit ist. Beide Naturvorkommnisse sind irgendwann entstanden und waren vorher nicht da, und es ist nicht gesagt, dass sie von nun an ewig und schon gar nicht unverändert weiterbestehen.
Ähnlich verhält es sich mit der Geschichte. Sie ist ja schon vergangen und nur über eine Rekonstruktion, genannt Erinnerung zugänglich. Wir wissen, dass 1683 Wien von den Türken erfolglos belagert wurde, daran zweifelt niemand, weil es eine erdrückende Zahl von Berichten und Quellen gibt, und nichts, was dem widerspricht. Es geht jedoch in der Geschichte nie nur um ein Faktum, sondern vor allem um die Bedeutung dessen, was geschehen ist, und da gibt es sofort mehrere Wirklichkeiten, z.B. die Wirklichkeit der Verteidiger der Stadt und die der Angreifer, die der Befreier und die der Unbeteiligten usw.
Geschichtstherapie bedeutet, dass ich mir eingestehen muss, dass alles, was schon passiert ist, unendlich viele Bedeutungen enthält und dass die Bedeutung, die ich einem Ereignis gebe, nur eine von vielen und keinesfalls die einzig richtige ist. Damit löse ich eine Fixierung und mache mich frei, verschiedene Perspektiven einzunehmen – ähnlich wie eine Klientin in der Therapie erkennen kann, dass ein Ereignis, das ihr widerfahren ist, nicht nur schlimme Seiten, sondern auch gute haben kann. Dadurch wird sie frei zu wählen, welches Bild ihrer eigenen Geschichte ihr am besten hilft, nach dem Motto: „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.“
Paranoide Geschichtsbilder zeichnen sich durch ihre Einfachheit aus: Hier sind die Guten, dort die Bösen. Wir haben einen Drang zur Einfachheit, der von inneren Ängsten gesteuert ist: Unübersichtliche Situationen wirken bedrohlich. Rechtsparteien nutzen diesen Drang und bieten die einfachen Lösungen zu komplexen Themen an. Die Menschen fallen immer wieder darauf herein, weil sie ein kindliches Vertrauen zu den Vereinfachern entwickeln, die alle verwirrenden Fragen scheinbar so selbstsicher beantworten und für alle komplizierten Probleme die richtigen Taten wissen: Die Guten gehören belohnt, die Bösen bestraft oder ausgerottet.
Was heißt Geschichtstherapie im konkreten Fall? Die paranoide Ausgangsannahme: Die Ereignisse von 1683 werden mit religiösen und nationalen Bedeutungen identifiziert: In diesem Jahr sei das „christliche Abendland“ vor dem Islam gerettet worden. Wäre die Belagerung erfolgreich gewesen, gäbe es dieses Abendland nicht mehr, und alles wäre moslemisch. Daher dient diese Jahreszahl als Symbol für den Widerstand gegen Islamisierung und Überfremdung. So wie damals die Bedrohung abgewehrt wurde, muss ihr heute entgegen getreten werden, „notfalls“ mit Waffengewalt.
In der Geschichtstherapie wird die vereinfachte Deutung relativiert. Sicher gab es einen Bedeutungsstrang, der in der damaligen Propaganda ausgenutzt wurde, der die „Türkengefahr“ ins Zentrum stellte. Wegen der über 150 Jahre andauernden Bedrohung stellte dieses Szenario eine Konstante im Bewusstsein der Menschen im Osten Österreichs zur damaligen Zeit dar. Es wurde mit religiösen Bedeutungen zusätzlich aufgeladen: Die christlichen Österreicher gegen die moslemischen (heidnischen) Türken. Mit der propagandistischen Aufladung der Bedrohung sollte der innere Zusammenhalt einer ebensolang durch konfessionelle Streitigkeiten (Katholiken gegen Protestanten) entzweiten Bevölkerung gefestigt werden.
Tatsächlich war das Christentum keineswegs in Gefahr. Selbst in den über lange Zeit von den Türken beherrschten Gebieten wie z.B. Ungarn, Kroatien und Serbien blieb das Christentum bestehen und hielten sich keine Reste von islamischer Kultur. Die Türken pflegten eine sehr tolerante Religionspolitik in den von ihnen eroberten Gebieten.
Die türkische Expansion, die im Jahr 1683 ihren Höhepunkt überschritt, war eine Etappe in der Hegemonialpolitik der damaligen Großmächte, die ihre Gebiete soweit vergrößerten, soweit es der gegnerische Widerstand erlaubte. Türken gegen Österreicher hieß also, zwei Großmächte, die um die Macht im Raum Ungarn – Balkan kämpften. Die Kriege wären nicht anders verlaufen, wenn die Türken christlich oder die Habsburger moslemisch gewesen wären.
Selbst wenn den Türken die Eroberung Wiens gelungen wäre, ist es kaum vorstellbar, dass diese einen längeren Bestand gehabt hätte. Als die westlichen Truppen nach der Befreiung von Wien zum Gegenstoß ansetzten, zeigten sich die organisatorischen Schwächen der türkischen Seite, sodass in relativ kurzer Zeit große Teile der türkischen Eroberungen von den Habsburgern zurück gewonnen werden konnten. Diese konnten darauf ihre Großmachtstellung im Balkanraum aufbauen, die zwar viel zum wirtschaftlichen Aufschwung und zur Modernisierung Österreichs beitrug, schließlich aber zum auslösenden Faktor für die Katastrophe des 1. Weltkriegs wurde.
Eine weitere Betrachtungsweise kann die Erlebniswelt der Menschen der damaligen Zeit ins Auge fassen. Für den Großteil der damals lebenden Menschen (damit unserer direkter Vorfahren) bestimmten Überlebensängste den Alltag – die Sicherstellung der Ernährung, der Gesundheit und des Überlebens. Im 17. Jahrhundert gab es noch Pestepidemien und Hungersnöte, und der 30-jährige Krieg in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts war nicht nur der prozentuell verlustreichste Krieg aller Zeiten, sondern hinterließ auch eine enorme wirtschaftliche Verwüstung, die viele Jahrzehnte des Wiederaufbaues nach sich zog. Die Machtfragen der großen Politik, in der nach der Logik des Krieges die Grenzen gezogen wurden, betraf die Bevölkerung nur dort, wo der Krieg in den eigenen Landen wütete. Das Leben war ansonsten kaum dadurch verändert, wer die jeweiligen Machthaber waren, die Habsburger oder die Ottomanen oder sonst wer. Macht zu haben, hieß, aus der Bevölkerung an Abgaben und Steuern herauszupressen, was nur möglich war, um die nächsten Kriege finanzieren zu können, zur Absicherung oder Vergrößerung dieser Macht. Der Aufschwung, der die Zeit nach 1683 in Ostösterreich wirksam wurde, lag nicht daran, wer die Herrscher waren, sondern daran, dass sich die Konfliktlinien nach Osten und Süden verlagerten und jetzt die dortigen Gebiete im Kriegszustand waren.
In dieser Weise entfaltet sich ein differenziertes Geschichtsbild, das offen ist für weitere Sichtweisen, Ergänzungen und Erweiterungen. Es ist nie fertig und wächst mit neuen Fragestellungen, die nachgeborene Generationen stellen. Ein solches Geschichtsbild ist nicht für Ideologien oder paranoide Vereinfachungen tauglich. Im Gegenteil, es dient als Gegengift gegen jede Simplifizierung und Indienstnahme der Geschichte für den Stimmenfang, indem alte Ängste in neue hineingefüllt werden. Wir brauchen keine Angstmacher, sondern Mut- und Vertrauensmacher, wenn wir unsere Zukunft offener und freier gestalten wollen. Dazu braucht es die Bereitschaft, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, statt sie zu kopieren.
Vgl. Erzählend sind wir und erzählt
Vgl. Erzählend sind wir und erzählt
Guter Artikel!
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