Das Jahr 2011 hat überraschende Entwicklungen im arabischen Raum gebracht. Niemand hätte vor einem Jahr damit gerechnet, dass die Regime von Tunesien bis Ägypten weggefegt werden, und zwar nicht von einer konkurrierenden Machtelite, sondern von einer zornigen Bevölkerung. Auffällig ist, dass die ökonomische Unzufriedenheit, also das Leiden an den unzureichenden Lebensbedingungen, stets mit dem Ruf nach Freiheit verknüpft ist. Die Menschen wollen nicht nur mehr zu essen oder sauberes Trinkwasser, sie wollen auch einen Staat, in dem sie ihre Meinung sagen können und in dem verschiedene Interessensgruppen die Macht teilen. Sie wollen die Kontrolle der Macht und die Eindämmung der Willkür. Sie kämpfen gegen ein hierarchisches und autokratisches System, wie einst die Bürger in den englischen Revolutionen des 17. und in der französischen Revolution des 18. Jahrhunderts.
Es scheint, dass die Menschheit diesen Schritt vollziehen muss, dass sich die Menschen einfach nicht damit begnügen können, in einem hierarchisch geordneten Staatswesen ein bescheidenes und anspruchsloses Leben zu führen. Sie wollen wachsen, sich aus der Enge und Unfreiheit befreien, sie wollen mehr Raum in der Öffentlichkeit einnehmen, sie wollen mehr gelten und für wichtiger genommen werden.
In vielen, vor allem westlichen Ländern ist der Schritt in eine Gesellschaftsform und ein politisches System, das mehr von diesen Anliegen verwirklicht, im Prinzip schon vollzogen, muss aber überall beständig nachgebessert und neu formuliert werden. In anderen Staaten wurden solche Bestrebungen zumindest bis jetzt erfolgreich unterdrückt wie z.B. in Myanmar, Persien und China. In anderen Staaten wie in Syrien und im Jemen ist die Entscheidung noch nicht gefallen. Wie auch immer, im langen Atem der Geschichte sind das nur Verzögerungen. Gerade die Macht der Wut der Bevölkerungen der nordafrikanischen Staaten kann man so verstehen, dass sich ein neues Bewusstsein Raum schaffen muss, um welchen Preis auch immer. Unzählige Menschen sind bereit, ihr Leben dafür aufs Spiel zu setzen. Deshalb können wir davon ausgehen, dass alle Länder dieser Erde zu irgendeinem Zeitpunkt diesen Schritt vollziehen werden und den Widerstand überwinden werden, den die herrschenden Eliten mit ihrem Gewaltmonopol entgegensetzen. Die Kraft der Bewusstseinsevolution, die hinter diesem Freiheitsdrang der Menschen steckt, ist unaufhaltsam, und sie wirkt in langen Zyklen und Zeiträumen.
Gerne würden wir sehen, dass es schneller und einfacher geht, die Verhältnisse zu ändern, überall dort, wo sich der Zorn der Unterdrückten regt. Wir fühlen uns solidarisch, weil wir spüren, dass wir selber nur in Freiheit gedeihen können und weil wir nicht verstehen können, wie Regierungen die eigene Bevölkerung unterdrücken und niederknüppeln können.
Wenn wir die Aufstände und revolutionären Umbrüche mit unseren Herzen mitverfolgen und im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützen, brauchen wir damit nicht naiv glauben, dass nach dem Sturz der alten Regime „alles gut“ wird. Manchmal scheint es sogar, als kehrte die Fratze der alten Macht im neuen Gewand wieder. Doch wo immer die Bevölkerung auf den Geschmack der Freiheit und der Fähigkeit, die eigenen Verhältnisse selbst zu gestalten, gekommen ist, wird sie nicht ablassen von diesem Weg und an der Verbesserung und Befreiung der Institutionen arbeiten. Wie gesagt, der Atem der Geschichte ist lang, und der unserer Leidensfähigkeit kurz. Mit dieser Spannung zu leben, ist eine der Herausforderungen, die uns das Leben stellt. Vertrauen wir auf die unaufhaltsame Kraft der Evolution des Bewusstseins und üben wir uns im Mitgefühl mit den Opfern, die dieser Weg oft so sinnlos fordert.
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