Donnerstag, 4. Dezember 2025

Migrationsmythen und die Realität

Das Thema Migration ist emotional hoch aufgeladen und beherrscht die Politik. Gerade deshalb ist es dafür geeignet, dass sich Mythen bilden. Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger hat ein Buch geschrieben, in dem sie auf der Grundlage vieler Studien Narrative und Mythen zur Migrationspanik" entkräftet. Der folgende Artikel ist aus dieser Quelle gespeist und mit eigenen Gedanken ergänzt. Die Zitate beziehen sich auf das Buch: Judith Kohlenberger: Migrationspanik. Wie Abschottungspolitik die autoritäre Wende befördert. Wien: Picus Verlag 2025

Mythos 1: Die Massenzuwanderung hat zur Ausländerfeindlichkeit und zum Aufstieg der Rechtsparteien geführt.

Realität: Die immer restriktiver werdende autoritäre bis brutale (Stichwort „Push-Backs“) Asyl- und Migrationspolitik hat die Migration als größte Gefahr für den Nationalstaat populär gemacht. Es ist also umgekehrt: Die Ausländerfeindlichkeit hat nur den Rechtsparteien genutzt, gleich ob sie von linken oder konservativen Parteien benutzt wurden. Die rechten und rechtsextremen Parteien konnten an Zulauf gewinnen, weil sie dieses Narrativ am glaubwürdigsten vertreten und in der Regel über wenig andere politische Ziele verfügen. Eine restriktive Migrationspolitik hat das Ziel einer umfassenden Abschottung („Grenzen dicht machen“), weil ja angeblich die Gefahr so groß wäre. Die Angst, von welcher Seite auch immer sie gesät wird, bedienen die rechtsradikalen Kräfte besser als die moderaten.

Mythos 2: Die Fluchtursachen haben nichts mit uns zu tun, wir sind nur die Opfer von Konflikten und Krisen irgendwo anders auf der Welt.

Realität: Durch die Klima-, Handels- und Sicherheitspolitik der europäischen (und der anderen westlichen) Staaten werden laufend Fluchtursachen in den ärmeren Ländern erzeugt. Die Politik in unseren Ländern hat vor allem die Eigeninteressen im Blick und kümmert sich nur marginal um die Interessen anderer Länder, bzw. derer Bewohner. Bekanntlich leiden die ärmeren Länder unter der Klimakrise am meisten, während die reicheren Länder umso mehr zur Erderwärmung beisteuern, sich aber am besten vor den Auswirkungen schützen können. Diese beschämenden Zusammenhänge werden tunlichst aus den Debatten und Entscheidungsfindungsprozessen herausgehalten.

Mythos 3: Wenn die Migration zurückgeht, werden auch die Rechtsparteien an Einfluss verlieren.

Realität: Die panischen Gefühle um das Thema Migration herum haben sich schon so stark in den Mentalitäten der Menschen verfestigt, dass es gar keine neue Migration mehr braucht, um den Rechtsparteien zu mehr Einfluss zu verhelfen. Die Zahlen der Einwanderungswilligen gehen seit Jahren zurück, während der Zulauf zu den Rechtsparteien in den meisten Ländern kontinuierlich ansteigt. Eine Ausnahme stellt übrigens Spanien dar, das eine liberale Migrationspolitik betreibt, mit dem zusätzlichen Resultat, dass die Wirtschaftsdaten wesentlich besser ausfallen als in den anderen EU-Ländern, die die Zuwanderung eindämmen wollen.

Mythos 3: Integration kann nur gelingen, wenn sich die Zuwanderer anpassen.

Realität: Natürlich bedarf es der Anstrengungen der Migranten, sich in das Gastland einzufügen, die Sprache zu lernen und die Regeln zu akzeptieren. Aber solange die Einheimischen die Fremden als Störung und nicht als Bereicherung erleben und nur Ihresgleichen” als vollwertig anerkennen können, wird die Integration nicht gelingen. Es sind also Anstrengungen auf beiden Seiten notwendig, und das wird von der einschlägigen Propaganda tunlichst ignoriert. Denn es widerspricht der Logik der Propaganda: Wir haben die Oberhand, weil wir zuerst hier waren, wer später kommt, muss sich unterordnen. Wir brauchen sie nicht, also sind wir in der stärkeren Position. Übersehen wird bei diesem Denkmuster, dass die westlichen Länder ohne Zuwanderung sehr schnell in wirtschaftliche Probleme geraten würden und langfristig unter einer schrumpfenden Bevölkerung mit zunehmender Überalterung leiden würden. 

Mythos 4: Wir sind schon für Zuwanderung, aber nur die Leute, die wir für die Wirtschaft brauchen. Alle anderen müssen draußen bleiben.

Realität: Die Beschränkung der Zuwanderung auf die oft zitierten qualifizierten Facharbeitskräfte ist der Wunschtraum aller gemäßigten Migrationspopulisten. Er scheitert daran, dass diejenigen, die sich aufgrund ihrer Qualifikationen die Länder aussuchen können, in die sie übersiedeln, meiden verständlicherweise Länder mit ausgeprägter Ausländerfeindlichkeit. Alle Länder, in denen die rechtsgerichtete ausländerfeindliche Propaganda stark ist, bekommen gerade die Fachkräfte nicht, die sie sich wünschen.

Das ist ein typisches Beispiel für die Widersprüchlichkeit in der Migrationspropaganda: Sie propagiert eine grundsätzliche Ausländerfeindlichkeit, will aber die Rosinen aus dem Kuchen picken, indem nur die „brauchbaren“ Zuwanderer genommen werden. Das funktioniert aber kaum oder gar nicht, weil das feindselige Klima vor allem jene Migranten abschreckt, die die Wahl haben; die anderen, die keine Wahl haben, wandern ein, auch wenn sie damit rechnen müssen, auf eine gastfeindliche Gesellschaft zu treffen. Denn sie wollen vor allem ihre Haut retten.

Mythos 5: Wir brauchen eine homogene Gesellschaft. Das geht nur, wenn sich die Zugewanderten an unsere Normen anpassen. Dazu müssen wir ihnen diese Werte eintrichtern.

Realität: Diese „unsere Normen und Werte“ sind eine Fiktion. In einer pluralen und individualisierten Gesellschaft sind Werte so unterschiedlich, dass ein gemeinsamer Nenner nur mehr abstrakte Normen beinhaltet. Manche Politiker haben zwar Wertekataloge vorgestellt, die darstellen sollen, was die heimische Identität ausmacht. Aber diese Kataloge enthalten entweder Allgemeinplätze (z.B. gegenseitiger Respekt) oder verweisen auf lokales Brauchtum bezogen (z.B. Nikolaus-Feiern), das von Region zu Region verschieden ist. 

Den meisten Einheimischen ist gar nicht klar, worin das besteht, was sie von den „Fremden“ unterscheidet. Denn die heimische Kultur ist so divers und vielschichtig, dass es sinnlos ist, sie auf eine Liste von Werten zu reduzieren. Es ist eher so, dass sich ein Autochthoner mit linker oder liberaler politischer Ausrichtung stärker von einem Autochthonen mit rechter Gesinnung unterscheidet als von einem Ausländer oder Migranten, mit dem er mehr Überscheidungspunkte seiner Ansichten hat. 

Historisch betrachtet, ist z.B. die österreichische Kultur das Produkt aus verschiedenen Migrationsbewegungen der letzten Jahrhunderte. Als Telefonbücher noch verbreitet waren, genügte ein kurzes Blättern, um festzustellen, dass die Ansammlung an Familiennamen zugleich eine Ansammlung an unterschiedlichen Herkünften zeigt, vor allem aus dem Raum der ehemaligen Habsburgermonarchie, aber auch darüber hinaus. Die heutigen Österreicher sind das Produkt vieler Migrationsbewegungen und nicht die Abkömmlinge eines genetisch homogenen Stammes oder gar einer Rasse. Fremdenfeindlich kann man nur sein, wenn man die Geschichte ausblendet, vor allem die eigene Abstammungsgeschichte. 

Dazu kommt, dass sich die Kultur durch Übernahmen aus anderen Kulturen laufend ändert. Im deutschsprachigen Raum ist z.B. ein fortgesetzter Trend zu bemerken, Wörter aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum zu adaptieren. Das Jugendwort 2025 ist „das crazy“, auf den Plätzen landeten: „goonen“ und „checkst du“, drei Anglizismen mit deutscher Grammatik. In Österreich kann bemerkt werden, wie immer mehr Wörter aus Deutschland übernommen werden, z.B. „Tschüss“ oder „lecker“ – kein Wunder, weil ja die größte Gruppe der Zuwanderer in Österreich aus der Bundesrepublik Deutschland kommt. 

Aber solche Veränderungen stören die Migrationspaniker nicht wirklich, weil es sich um Einflüsse handelt, die aus Kulturen stammen, die sie als gleichwertig oder überlegen betrachten. Was sie stört, sind kulturelle Einflüsse aus Kulturen, die sie abwerten, weil sie als minderwertig angesehen werden, z.B. moslemische Kulturen. 

Mythos 6: Eine harte Zurückweisungspolitik an den Grenzen macht die Gesellschaft sicherer.

Realität: Was sich an den Außengrenzen der EU abspielt, widerspricht in vielen Fällen dem Recht – nationalem, EU- und Völkerrecht. Trotz der massiven und kostspieligen Anstrengungen werden die erwünschten Erfolge nicht erzielt. „Weltweit gibt es sechsmal so viele Grenzmauern und -zäune wie während des Kalten Krieges.“ Und dennoch wird das Sicherheitsgefühl jener, die innerhalb der Mauern und Zäune leben, immer schwächer. „Dazu kommt, dass Grenzbefestigungen ökonomisch, sozial und politisch sehr teuer sind, dass sie aber Migration nicht regulieren.“ (S. 60) 

Ein weiteres Paradoxon besteht darin, dass der vermeintliche Schutz der Grenzen die organisierte Kriminalität befördert, die vergeblich bekämpft werden soll. Je mehr Grenzbefestigungen, desto mehr Versuche, sie zu überwinden, mit allen Mitteln, die zu Gebote stehen. Wo die Not wächst, finden sich schnell Leute, die sie auf kriminelle Weise für ihre Zwecke ausnutzen können.

Als weitere Folgewirkung der Brutalisierung, die an den Grenzen stattfindet, sinken in der öffentlichen Wahrnehmung die Standards für die Menschenrechte. Steter Tropfen höhlt jeden Stein, stetiges Ignorieren von menschenrechtlichen Standards durch offizielle Stellen untergräbt die Moral. Aggression an den Grenzen wirkt nach innen weiter, die Polizei gewöhnt sich an Unmenschlichkeiten und die Bürger nehmen Rechtsbrüche hin, weil es ja keine Konsequenzen gibt. Auf diese Weise erodiert das Regelverständnis und eine von Empathie geleitete Ethik wird an den Rand gedrängt, an dem ein paar Idealisten ausharren. Stattdessen wird auf breiter Front der Nährboden für eine Politik ohne Mitgefühl bereitet, nach der Macht des Stärkeren. Es wird also ein Rückfall auf frühere Niveaus der Menschlichkeit unterstützt. 

Die zwei Gesichter der Fremdenangst

Die Fremdenangst hat zwei Gesichter. Das erste, offensichtliche, besteht darin, dass die Fremden anders sind als wir und dass sie deshalb mit Misstrauen beäugt werden müssen. Sie sind ein Fremdkörper und werden immer einer bleiben, denn sie können ihre Fremdheit nicht ablegen. Das andere Gesicht der Angst ist verborgener und weist auf das genaue Gegenteil: Wäre es nicht viel schlimmer, wenn sich die Fremden so anpassen und die einheimische Lebensweise übernehmen, dass sie nicht mehr unterscheidbar sind? Was bleibt dann noch von uns? Geht der „Ur-Österreicher endgültig verloren? Angeblich stammt selbst „Ötzi“, die Gletschermumie, genetisch aus Anatolien, war also selbst ein Migrant.

Stattdessen wird die Angst verbreitet, dass die Fremden nie so werden “wie wir sind”. Dabei ist den meisten Menschen, die von dieser Angst betroffen sind, gar nicht klar, worin dieses Wir-Sein überhaupt besteht.

Mythos 7: Wenn wir den Nationalstaat stärken, bekommen wir die Migration in den Griff.

Realität: Die Globalisierung ist ein Trend, der über Jahrhunderte wirkt und nicht aufgehalten werden kann. Er bewirkt, dass der Nationalstaat immer mehr Kompetenzen an übergeordnete Strukturen abtreten muss. Er verliert zusehends an Kompetenzen. Der hochgezogene und hochgelobte Grenzschutz erscheint als Propagandaveranstaltung, mit dem die Bedeutung des Nationalstaats demonstrativ hochgehalten werden soll, während ihm durch die Prozesse der Globalisierung beständig das Wasser abgegraben wird. Der Nationalstaat, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, hat keine Zukunft, sosehr sie auch von rechtsgerichteten Politakteuren ersehnt wird. Sie nutzen das Migrationsthema, um die überkommene Idee des Nationalstaates als Allheilmittel anpreisen zu können.

Deshalb wirkt das Orbán-Ungarn wie ein absurder Fremdkörper in Europa, das eine abgeschottete Nationalstaatspolitik betreibt, während es von der EU reichliche Finanzmittel bekommt, bei den meisten Beschlüssen eine Außenseiterposition einnimmt und dennoch von der transnationalen Mitgliedschaft profitiert. Weil es funktioniert, rhetorisch die Rebellenposition einzunehmen und zugleich am Futtertrog mitzunaschen, findet dieses Modell Anklang und Nachahmung bei allen Rechtsparteien. Die angeheizte Migrationspanik liefert den emotionalen Untergrund für den Zulauf, den diese Gruppierungen haben.

Nicht von ungefähr haben rechte und rechtspopulistische Parteien dort die größten Zugewinne, wo gar keine Flüchtlinge leben, wie etwa in Ungarn. Dort nämlich gibt es gar keine Möglichkeit zu verifizieren, ob das, was ein Viktor Orbán über Schutz suchende Menschen aus dem Nahen Osten oder Afrika verbreitet, wirklich stimmt. (S. 114)

Mythos 8: Die Migration ist schuld an der Zunahme der Straftaten.

(Dieser Abschnitt bezieht sich nicht auf das Buch von Judith Kohlenberger, sondern auf eine Zeitungsmeldung mit Daten, die der Soziologe Soziologe Günther Ogris vom Dema Institut am 23.11.2025 präsentiert hat.)

Realität: Auch hier stoßen wir auf ein Paradoxon: Österreich ist nachgewiesen eines der sichersten Länder der Welt – und trotzdem sinkt das subjektive Sicherheitsgefühl. Seit 2001 ist die österreichische Bevölkerung um 1,13 Millionen Menschen gewachsen. Wäre die Kriminalität proportional zur Bevölkerung geblieben, müsste sie gestiegen sein. Stattdessen sank die Zahl der Verurteilten insgesamt, pro Kopf gerechnet sogar um 43 Prozent. Obwohl sich die Zahl der ausländischen Bevölkerung mehr als verdoppelt hat, ist die absolute Zahl der verurteilten Ausländer gesunken – von 14.000 auf 12.685. Hinzu kommt, dass rund 17 Prozent der „ausländischen Tatverdächtigen“ gar keinen Wohnsitz in Österreich haben. Es handelt sich um Touristen oder Durchreisende.

Eine Studie aus Deutschland hat nachgewiesen, dass eine Wahrnehmungsverzerrung stattfindet: Ausländische Tatverdächtige machen in der deutschen Kriminalstatistik rund ein Drittel der Gesamtzahl Verdächtiger aus. In Zeitungs- oder TV-Berichten über Kriminalität wird hingegen zu mehr als 90 Prozent über Menschen berichtet, die keine deutsche Herkunft haben – selbst in Medien mit linker Zielgruppe.

Wir sollten uns also immer wieder diese verzerrte Optik, der wir schnell unterliegen, klarmachen: Worin besteht die Realität und was sind die Bilder, die aufgrund des Medienkonsums in unseren Köpfen entstehen? Wie verhält sich die Realität und wo verfangen wir uns in Narrativen, die die uns plausibel erscheinen, aber einer Nachprüfung nicht Stand halten? Wachsamkeit und Urteilsfähigkeit sind Kompetenzen, die wir in diesen Zeiten brauchen, damit die Menschlichkeit und die Vernunft nicht unter die Räder kommen.

Literatur: 
Judith Kohlenberger: Migrationspanik. Wie Abschottungspolitik die autoritäre Wende befördert. Wien: Picus Verlag 2025

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