Unter Normalität verstehen wir oft das, was unseren Gewohnheiten entspricht. Passiert etwas, das wir nicht erwartet haben, erscheint es als abnormal, gleich ob es sich um eine positive oder eine negative Überraschung handelt. Werden Erwartungen enttäuscht oder unterbrochen, so entsteht ein Raum für neue Perspektiven, ein Gewinn an Freiheit.
Die Hilfsfunktion der Gewohnheiten und ihre hindernde Rolle
Die Gewohnheiten der Normalität erleichtern uns die Verrichtung von Alltagsgeschäften. Gewohnheiten nützen uns, um im Fluss bleiben zu können, wenn es darum geht, Entscheidungen einsparen zu können. Denkgewohnheiten können allerdings hinderlich werden, wenn sie nicht zu neuen Ideen weiterführen, sondern im Kreis laufen.
Am deutlichsten und eindringlichsten kann dieses Phänomen bei Zwangsneurotikern beobachtet werden. Ihr Denken produziert ständig Zweifel und Selbstzweifel, die den Geist und das Handeln gefangen halten. Es sind Gedanken, die von Ängsten dirigiert werden, die aus dem Unterbewusstsein kommen. Zwanghaft ablaufende Gedanken sollen Sicherheit geben, aber es kann sich nur um eine scheinbare Sicherheit handeln. Denn dieses Denken kann keine Sicherheit geben, weil es ein Sklave der Angst ist. Die Angst diktiert und das Denken erzeugt Rituale, damit die Angst gebannt wird. Aber das Zwangsritual beruhigt die Angst nur kurz. Sobald das Ritual beendet ist, ist die Angst wieder da, und oft muss dann das Ritual immer wieder von neuem begonnen werden.
An der Unfreiheit, unter der Zwangserkrankte leiden, können wir ablesen, was uns zu mehr Freiheit verhilft. Wenn wir gewohnte Routinehandlungen durchbrechen oder Grenzen überwinden, die uns durch Normen diktiert sind, geraten wir in den Bereich der Verrücktheit – vielleicht in den Augen der anderen, die uns nur in der Schablone unserer Gewohnheiten kennen, aber auch im wörtlichen Sinn: Wir haben etwas in uns von seinem angestammten Platz auf einen neuen Platz verrückt, verschoben und damit eine neue Ordnung erschaffen. Freiheit besteht auch darin, alte Muster abzulegen und neue zu erwerben. Jedes neue Muster, jede neue Gewohnheit steht im Dienst der Erweiterung unserer Freiheitsräume, innerlich und äußerlich. Wenn wir beispielsweise neue Bewegungen über Routinehandlungen wie dem Gehen oder Händewaschen ausprobieren, fördern wir die Flexibilität unseres Körpers und auch unseres Denkens. Wir werden für neue Impulse offen.
Die Huu-Atmung
Eine gute Übung zum Erwerben dieser Flexibilität stellt der Huu-Breath dar. Es handelt sich um eine Bewegungsübung, die mit der bewussten Wahrnehmung der Atmung beginnt. Die Aufgabe dabei lautet, sobald man merkt, dass ein Bewegungsablauf stereotyp wird, etwas daran zu ändern. Es soll also jede Routine sofort im Keim erstickt und jeder Moment neu gestaltet werden. Begonnen wird mit der Atmung, die in jeder beliebigen Weise variiert wird. Dann kommt nach und nach der Körper mit all seinen Bewegungselementen dazu. Gegen Ende der Übung werden die Bewegungen immer kleiner, bis sie von außen gar nicht mehr wahrnehmbar sind. Das Prinzip bleibt aber gleich: Variationen einführen, sobald etwas zur Routine wird. Natürlich gelingt es nicht immer sofort, die ablaufende Bewegung zu variieren, aber mit jeder Variation gewinnt die Freiheit immer mehr Raum. Ein beweglicher und variantenreicher Körper bildet sich in einem beweglichen und variantenreichen Kopf ab, der die unterschiedlichsten Perspektiven und Sichtweisen einnehmen kann.
Atemsitzungen und neuronale Plastizität
Intensives Atmen wie bei Atemsitzungen stellt ebenso ein Training in der Flexibilität dar. Wenn wir über einen längeren Zeitraum unsere Atmung aus der Gewohnheitszone herausführen und tiefer und schneller atmen, ändern sich viele Parameter in unserem Nervensystem. Unser Körper lernt dabei, seine Mechanismen variabler einzusetzen und an die Erfordernisse der Außenwelt anpassen. Es sinkt der Kortisolspiegel im Allgemeinen, während er bei akuten Herausforderungen an das Immunsystem schneller aktiviert wird. Sympathikus und Parasympathikus werden in der Abstimmung aufeinander und dem harmonischen Wechsel ihrer Aktivitäten trainiert. Die Steigerung der Herzratenvariabilität, die als Folge einer kontinuierlichen Atempraxis gemessen wurde, ist ein Hinweis darauf, dass das Herz lernt, sich flexibler an die jeweiligen Gegebenheiten anzupassen.
Aus Forschungen über die Wirkung von psychedelischen Substanzen weiß man, dass sie die Fähigkeit des Gehirns drastisch verbessern, sich neu zu verdrahten, also neue Verbindungen aufzubauen, sprich Kreativität zu ermöglichen. Der Hauptgrund liegt anscheinend in der Aktivierung des Serotoninsystems im Gehirn. Es gibt bezüglich der Atemarbeit noch keine vergleichbaren Studien, doch belegen andere Studien, dass es in Atemsitzungen zu ähnlichen Bewusstseinszuständen und Gehirnveränderungen kommt wie bei psychedelischen Erfahrungen.
Durch vertieftes Atmen werden die Gehirnzentren, die das von Gewohnheiten gesteuerte Alltagsverhalten aufrechterhalten, in ihrer Aktivität reduziert. Es entstehen chaotische Zustände mit unvorhersehbaren neuen Impulsen. Neuronen verdrahten sich miteinander in neuer Weise, und das bis zu einem Level, das man normalerweise nur bei Kindern beobachten kann. Es wird also viel Raum für Kreativität geschaffen, neue Sichtweisen können leichter übernommen werden und die Identifikation mit der eigenen Persönlichkeit und ihren Gewohnheiten wird schwächer.
Innere Freiheit durch konstantes Variieren
Je weiter die Grenzen unserer Normalität gesteckt sind, desto mehr Phänomene der Wirklichkeit können wir akzeptieren und wertschätzen. Je freier unser Geist ist, desto besser können wir mit der Wirklichkeit und ihren Herausforderungen umgehen. Jeder Gewinn an freier Bewegung ist ein Gewinn an freiem Denken. Wir lösen uns auch von den Gewohnheiten unserer Wahrnehmung, indem wir die Welt um uns herum auf neue Weise anschauen und ihr auf neue Weise zuhören. Wir gewinnen durch diese Flexibilität mehr Zugänge zur Schönheit des Universums und zum Reichtum der Innenwelt in uns und in allen anderen.
Zum Weiterlesen:
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Flexibilität und Ego-Entmachtung
Die Neugier und die Kreativität
Über das Verrückte und das Verrücken
Atembewusstheit und Flexibilität
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