Montag, 14. April 2025

Ein Gruselkabinett an der Spitze der USA

Als Donald Trump nach seiner Wahl die Kandidaten für die neue Regierung vorstellte, haben viele Medien zum Ausdruck „Gruselkabinett“ gegriffen, angelehnt an das „Cabinet von Dr. Caligari“, einem Horror-Stummfilm aus dem Jahr 1920. Das Gruseln rief die Ansammlung von Personen hervor, die der wiedergewählte Präsident nominierte und die mittlerweile im Amt sind, denn sie treten wie die Personifizierungen der wichtigsten menschlichen Schattenseiten auf, als Verkörperungen von Lastern und Todsünden. Sie stellen die gesamte Bandbreite menschlicher Untugenden recht offensichtlich und unverblümt zur Schau, befreit von jeder Scham.

All die üblen Seiten des Menschseins sind in diesem Pandämonium vertreten: Gier (nach Macht, Geld und Ruhm), Neid (auf andere Machthaber und deren Skrupellosigkeit), Überheblichkeit (Verachtung von Andersdenkenden), Geiz, Völlerei (in Form von erpresserischen und ausbeuterischen Fantasien von Eroberungen und Bereicherungen), Zorn (als Hass auf alles, das sich dem Machtstreben nicht bedingungslos fügt), Trägheit (als stolz vor sich hergetragener geistiger Beschränktheit und Dummheit) sowie Wollust (es scheint, als gälte eine Vorgeschichte mit sexuellen Übergriffe für Männer als Eintrittskarte in ein hohes Regierungsamt, während Frauen ein hohes Maß an Verehrung für Trump und einen ausgeprägten Hass auf seine Gegner aufweisen müssen, wenn sie es zu etwas bringen wollen). Dazu gesellen sich noch Zynismus, Empathielosigkeit, Heuchelei, Irreführungen und Lügen, sowie die Anwendung von struktureller Gewalt

Jede Untugend und jeder menschfeindliche Charakterzug ist durch Abwehrstrategien geschützt, damit die Scham den Stolz, also die Selbstachtung, nicht übermannen kann. Mit diesen früh erlernten Hilfen gelingt es, sich einen Deut um die Folgen der eigenen Handlungen zu scheren und stur bei der einmal eingeschlagenen Richtung oder Charakterprägung zu bleiben, koste es, was es wolle. Es kümmert diese Leute auch nicht, was Andersgesinnte über sie denken, denn wer andere Werte und Einstellungen hat, ist nur ein verachtenswerter Idiot. Auch wenn sie sich wie Narren aufführen, vertrauen sie darauf, dass es genug Leute gibt, denen das imponiert und die ihnen zujubeln und sie verehren. 

Das einzige, was sie fürchten, ist der Verlust ihrer Akzeptanz bei den Gleichgesinnten. Deshalb versuchen sie, alle Register der Medienorgeln zu ziehen und mit lautem Dauergetöse den öffentlichen Raum zu füllen, Wechselseitig verstärken sich die Protagonisten und ihr Publikum, sodass die Verrücktheiten dauernd neue Blüten treiben – treiben müssen, da das eingeschworene Publikum nach neuen Unverschämtheiten, nach neuen Tabubrüchen, nach neuen Frechheiten lechzt. Stellvertretend agieren die Protagonisten alles aus, was sich die Applaudierenden verbieten, weil sie zu feige sind oder sich zu schwach und ohnmächtig fühlen..

Dieses Muster sorgt dafür, dass sich beide Seiten der Dynamik immer weiter von der Realität entfernen, sowohl von der naturgesetzlich bestimmten als auch von der sozialen zwischenmenschlichen. An die Stelle von Naturgesetzen treten Verschwörungstheorien und die soziale Welt wird mit dem Säen von Hass entzweit und auseinander getrieben. Je mehr Misstrauen entsteht, desto leichter ist die Machtausübung.

Allerdings ist die Lebensdauer solcher Dynamiken begrenzt, weil die Illusionen, die durch jede Realitätsferne erzeugt werden, irgendwann an der Wirklichkeit zerbrechen. Politiker können ihre Wähler für dumm verkaufen und sich an ihrer Gutgläubigkeit an Geld und Macht bereichern; die Verblendung endet spätestens dort, wo die Folgen verantwortungs- und schamloser Entscheidungen ins eigene Leben eingreifen und als Leid spürbar werden und nicht mehr übersehen oder verdrängt werden können: Arbeitslosigkeit, sinkender Wohlstand, verschlechtertes Gesundheitssystem, zunehmende soziale Spannungen, wachsende Ängste über die Zukunft.

Hier ein paar Beispiele aus dem Regierungsteam von Trump: 

Pete Hegseth, der Verteidigungsminister

Nur knapp ging seine Normierung durch, weil einige republikanische Senatoren gegen ihn wegen seiner fehlenden administrativen Erfahrungen stimmten. Diese Sorge war nicht unberechtigt, denn Hegseth ist für die „Signal-Gate“-Affäre verantwortlich (ein Journalist wurde irrtümlich zu einer hochgeheimen Kriegsplanung eingeladen). Darauf folgte gleich die nächste Affäre: Der Minister hatte seine dritte Frau an vertraulichen Gesprächen mit ausländischen Verteidigungsministern teil nehmen lassen.

Schon als Fernsehkommentator bei Fox News ist er durch radikale Positionen aufgefallen: Er hat sich kritisch gegenüber „woken“ Offizieren im Militär geäußert und die Entlassung aller Offiziere angekündigt, die sich für Diversity-programme engagiert haben. Er leugnet den Klimawandel und bezeichnet die Klimaforschung als „linke Verschwörung“. Die Genfer Konventionen zum Schutz von Zivilpersonen im Krieg sind für ihn Übereinkommen aus Zeiten, in denen Kriege anders geführt worden seien; die US-Regierung werde sich nicht an Regeln halten, die von internationalen Organisationen aufgestellt würden. Er sagte, dass es die einzige Aufgabe der US-Armee sei, zu töten. Er hat sich auch für die Begnadigung von US-Kriegsverbrechern eingesetzt. 

2017 soll er eine Frau sexuell angegriffen haben; es kam zu einer finanziellen Abgleichung mit Verschwiegenheitsklausel. Zum Vorwurf des Ehebruches (er hatte eine sexuelle Beziehung mit seiner jetzigen Frau, als er noch mit der vorigen verheiratet war) sagte er vor dem Militärausschuss, Jesus Christus habe ihm persönlich verziehen, und so sei er mit Gott und der Welt im Reinen und könne das Pentagon leiten, damit Amerika Kriege nicht nur endlos führen müsse, sondern gewinnen möge. Er trägt das Motto der Kreuzritter (Deus vult) als Tätowierung. 

Pam Bondi, die Justizministerin

Sie ist in mehrere Korruptionsverfahren verwickelt und hat schon während der Stimmauszählungen bei der Wahl von 2020 von Wahlbetrug gesprochen, ohne Beweise vorzulegen.

Robert F. Kennedy Jr., der Gesundheitsminister

Kennedy hat eine eigenartige Obsession mit Tierkadavern. Von Trump wurde er als „dümmster aller Kennedys“ bezeichnet, bevor er von den Demokraten zu den Republikaner gewechselt hatte. Seine Impfgegnerschaft hat schon nach ein paar Wochen in seinem Amt eine Reihe von Opfern gefordert. Während der schweren Grippewelle im Februar 2025 wurde die Werbung für Grippeimpfungen gestoppt. Stattdessen sollte auf die Risiken der Impfung verwiesen werden. Bei einer Masernwelle im Süden der USA verharmloste der Minister zunächst die Krankheit, die inzwischen schon einige Todesopfer unter Kindern bewirkt hat, und verbreitete dann eine Reihe von Falschaussagen und warb für Gegenmittel, die entweder nicht wirksam sind oder selber Schäden anrichten. So empfahl er Vitamin A, und in der Folge bekamen dann viele Kinder Anzeichen einer Vitamin-A-Toxizität. Er möchte die Ursache von Autismus herausfinden und hat dafür eine Studie in Auftrag gegeben, die in einem halben Jahr die Ergebnisse vorlegen soll, was bei Fachleuten nur Kopfschütteln hervorruft, weil es sich um eine äußerst komplexe Störung handelt. Vermutet wird allerdings, dass die Studie das Wunschergebnis liefern soll, dass nämlich Autismus die Folge von Impfungen wäre. Kennedy ist zum dritten Mal verheiratet.

Marco Rubio, der Außenminister

Nach seiner Amtsübernahme wurden sofort alle Pässe mit der Geschlechtsbezeichnung X annulliert, also alle transgeschlechtlichen Personen hatten plötzlich keinen gültigen Pass mehr. 

Er entschied sich, die Mittel für USAID (United States Agency for International Deveolpment) drastisch zu kürzen, obwohl er von Beamten der Behörde gewarnt worden war, die schätzten, dass bei einer Streichung der USAID-Programme in den nächsten zehn Jahren eine Million Kinder wegen schwerer Unterernährung unbehandelt bleiben würden, bis zu 166.000 Menschen an Malaria sterben würden und weitere 200.000 Kinder durch Polio gelähmt würden. Seine Meinung zu China ist: „Sie haben sich auf unsere Kosten durch Lügen, Betrug, Hacking und Diebstahl zu einer globalen Supermacht hochgearbeitet.“

Kristi Noem, die Heimatschutzministerin 

Sie ist eine Vertreterin der konservativen Tea-Party-Bewegung und tritt deshalb gegen Schwangerschaftsabbrüche und gegen die gleichgeschlechtliche Ehe sowie für ein unbeschränktes Recht auf Waffenbesitz ein. Sie leugnet den menschengemachten Klimawandel. In ihrer Autobiografie berichtet sie, dass sie mehrere Tiere erschossen hat, darunter eine Ziege, die ihren Kindern immer hinterhergejagt sei, sowie ihre Hündin, weil diese während einer Fasanenjagd nicht mehr unter Kontrolle zu bringen war.

Sie ist jetzt verantwortlich für alle Abschiebungen, ob diese nun rechtmäßig sind oder nicht. Tausende Menschen in den USA, die einer geregelten Beschäftigung nachgehen, erhalten dieser Tage ein automatisiertes Schreiben, dass sie in sieben Tagen das Land verlassen müssen. Betroffen sind Migrant:innen aus Venezuela, Haiti, Mexiko, Kuba, Afghanistan – Menschen auf der Flucht vor Diktaturen, Armut, Banden, Hunger. Menschen, die nicht illegal eingereist sind, sondern durch ein staatliches Verfahren mit einem Funken Hoffnung eingelassen wurden.

Sean Duffy, der Verkehrsminister

Er bestritt einen Zusammenhang zwischen einzelnen Gewalttaten von White-Supremacy-Anhängern und führte das Attentat von Tucson, bei dem die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords schwer verletzt wurde, auf linke Ideologie zurück. Es wird ihm deshalb vorgeworfen, rechtsgerichtete Gewalttaten zu verharmlosen.

Bei Amtsantritt beseitigte er alle Vergünstigungen beim Kauf von E-Autos und kündigte an, dass jene Gebiete, in denen mehr Eheschließungen und Geburten sind, bei Förderungen bevorzugt werden. Auch er leugnet den Klimawandel. 

Kash Patel, der FBI-Direktor

Er vertritt verschiedene Verschwörungstheorien, u.a. dass die Drahtzieher vom Angriff auf das Kapitol 2020 IFB-Leute gewesen wären. Er glaubt an einen „tiefen Staat“, dem das Handwerk gelegt werden müsse, ebenso wie an das „Russia investigation origins counter-narrative“, also an eine „Theorie“, dass sich nicht russisch gesteuerte Internettrolle in die Wahl von 2016 eingemischt hätten, sondern dass es sich um ein Komplott aus dem „tiefen Staat“ handle, das Trump schaden wolle. 

Zum Weiterlesen:
Elon Musk: "Empathie - eine Schwäche der menschlichen Zivilisation"


Freitag, 11. April 2025

Weltmacht ohne Mitgefühl

Bei einer geleiteten Meditation in der Natur, an der ich kürzlich teilgenommen habe, wurde ein Text vorgelesen, in dem neben vielen schönen und erhebenden Worten zweimal „Amerika“ erwähnt wurde. Mir wurde in dem Moment bewusst, wie sehr sich das Wort „Amerika“ in wenigen Wochen in meiner Gefühlswahrnehmung von neutral bis leicht positiv in einen extrem schlechten Bereich verschoben hat. Es löst Gefühle von Ekel bis Abscheu, Ärger und Unsicherheit aus.

Mir ist klar, dass Amerika viel, viel mehr als die USA ist und auch, dass das, was gegenwärtig in diesem Land geschieht, von vielen US-Bürgern abgelehnt wird. Aber die Mächtigsten im Land zählen auch zu den Mächtigsten auf dieser Welt, und ihre Einstellungen und die daraus folgenden Handlungen haben zum Teil massive Auswirkungen auf große Teile der Weltbevölkerung. Darum kann es uns nicht egal sein, was in den Machtzentren der USA abläuft und welche Absichten jene haben, die an den Schalthebeln sitzen.

Mein erstes Amerikabild war geprägt von den Erzählungen der Erwachsenen in meiner Kindheit, und das war überwiegend positiv, vor allem im Gegensatz zu den Russen, die als barbarisch und bedrohlich geschildert wurden – eine Mischung aus realen Erfahrungen mit vergewaltigenden russischen Soldaten und solchen, die die Armbanduhren in der Bevölkerung abkassierten und aus der Nazi-Propaganda, die viel Hass und Angst auf die „bolschewistischen Untermenschen“ schürte.

Über das Bild der zuckerlverteilenden amerikanischen Besatzungssoldaten legte sich später das des „hässlichen Amerikaners“, gespeist aus den Bildern und Debatten um den Vietnamkrieg. Der US-General, der damals drohte, ganz Vietnam „zurück in die Steinzeit“ zu bomben, steht als Symbolfigur für ein rücksichtsloses und gewaltbereites Land, dem viele damals wünschten, mit ihrer überheblichen und menschenverachtenden Politik zu scheitern, was auch in Vietnam geschah und als kollektives Trauma bis heute im Selbstbild der US-Amerikaner nachwirkt. Auch weltweit hat dieser Krieg zu einem Prestigeverlust für die Staaten geführt. Das Misstrauen gegen die machtgierigen Amerikaner ist bei vielen Linksgerichteten weit verbreitet und tief verwurzelt. Es spielt beispielsweise bei der Beurteilung der Ursachen des Ukrainekrieges mit. Die Sichtweise, dass in diesem Fall Russland als Angreifer die alleinige Verantwortung und Schuld am Kriegsausbruch trägt, wird von vielen Linken, auf der Grundlage eines notorischen Misstrauens in die Machtambitionen der USA, in Frage gestellt. Es gibt aus diesem Blickwinkel verschiedene Narrative, die in den USA und der von ihr dominierten NATO die Hauptverursacher dieses blutigen Konflikts sehen.

Die Ambivalenz, Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit des Amerikabildes, die sich in meiner Beurteilung im Lauf der wechselhaften Geschichte der letzten Jahrzehnte niedergeschlagen hat, ist nun durch die jüngsten Ereignisse übertönt worden. Es scheint kaum zu glauben, wie schnell die Demokratie in den USA kollabieren kann, wenn ein selbstbesessener Präsident skrupellos sein autoritäres Programm durchzieht. Es ist viel die Rede von einer Schockstarre, in die die nunmehrige Opposition und die Zivilgesellschaft gefallen wären, überrollt vom Dauerfeuer aus dem Weißen Haus. Aber nun mehren sich die Anzeichen von Widerstand – mit wenig Aussicht auf Erfolg.

Für viele Generationen von Menschen auf der Welt galten die USA über lange Zeit als Symbol einer Freiheitsverheißung. Doch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat zur Zeit nur eine etwas weniger brutale Kopie von Hitlerdeutschland zu bieten: Militärische Hochrüstung, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Machtlosigkeit des Parlaments, Gängelung der Justiz, aggressive Außenpolitik, Rassismus und Ausgrenzung von Minderheiten.

Macht ohne Verantwortungsübernahme

Die USA sind aus der Menschheitsgemeinschaft ausgeschert, weil sie laut gegenwärtiger Regierung auf keinen Fall mehr Verantwortung tragen wollen außer für die von der eigenen Ideologie diktierten engstirnigen Maßnahmen, die angeblich Amerika groß machen sollen. Bei der Erdbebenkatastrophe in Myanmar sind die amerikanischen Hilfsteams ausgeblieben, vor Ort waren die Chinesen und Russen, die in dieser Hinsicht die USA an gelebter Empathie weit in den Schatten gestellt haben.

Der US-Regierung ist der Preis egal, der durch ihre Maßnahmen bezahlt werden muss – in der eigenen Bevölkerung, die unter dem Kahlschlag in der Verwaltung und im Gesundheitssystem sowie unter den Folgen der Zollpolitik leiden muss. Noch weniger schert man sich darum, wie es dem Rest der Welt mit den willkürlichen Maßnahmen geht (das bettelarme Bangla-Desh wird mit 74% „Strafzöllen“ belegt, weil es mehr Waren nach den USA liefert als umgekehrt, denn dort können sich nur wenige einen Tesla oder einen Whiskey kaufen. Tausende werden dort um ihre Arbeit und ihre Existenz gebracht). Soviel offensichtliche Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit haben in der Geschichte der Menschheit nur skrupellose Diktatoren gezeigt, die allesamt letztlich katastrophal gescheitert sind, eine Spur der Zerstörung hinterlassend.

Macht ist in der Regel mit Verantwortung verbunden, viel Macht mit viel Verantwortung. Diese einfache Gleichung war den bisherigen Präsidenten der USA zumindest ansatzweise bewusst. Der jetzige Präsident fühlt sich offenbar nicht mehr daran gebunden und kehrt sie um: Je mehr Macht, desto weniger wird die Verantwortung für die Folgen der Machtausübung wahrgenommen, sowohl im eigenen Land als auch auf der ganzen Welt. Die Folgen sind bei weitem nicht abschätzbar, aber nach dem, was sich jetzt schon abzeichnet, sind die Aussichten trübe. Die Ökonomen sagen einhellig, dass es bei dem entfachten Zollkrieg nur Verlierer gibt; diese Erkenntnis gilt vermutlich für all die anderen Politikbereiche ebenso, in denen sich die Zerstörungswut des Präsidenten und seiner Gefolgsleute austobt.

Aus Katastrophen lernen

Die Erfahrung mit Rückschritten und Rückfällen in vormoderne, um nicht zu sagen primitiv barbarische Formen der Politik im Lauf der neueren Geschichte zeigt, dass nach der Überwindung der dadurch ausgelösten Katastrophen neue Anläufe zu mehr Menschlichkeit und zur Übernahme von globaler Verantwortung unternommen wurden. Jede Katastrophe löst unweigerlich Lernprozesse aus; mit mehr Vernunft und Bewusstheit könnte oder sollte es freilich die Menschheit schaffen, auch ohne Katastrophen die notwendigen Lernschritte zu setzen.

Die Beseitigung der Empathie, also der Mitmenschlichkeit im Bewusstsein der gegenseitigen Verantwortung für das Wohlbefinden der jeweils anderen, schlägt irgendwann hart auf dem Boden der Realität auf. An diesem Punkt wird plötzlich in aller Deutlichkeit bewusst, worum es eigentlich geht in den menschlichen Angelegenheiten. Wie ein Verbrecher, der im Gefängnis versteht, dass ihn das Ausleben des Bösen nicht glücklich gemacht hat, erkennen viele Menschen im Scheitern, dass sie sich im verantwortungslosen Verfolgen der Selbstsucht nur tiefer in die Selbstbezogenheit verstricken, die irgendwann unweigerlich in Verzweiflung und Sinnlosigkeit endet. Die Tragik der menschlichen Geschichte liegt darin, dass diese Erkenntnis oft erst zugänglich wird, wenn alles, was das Ziel der egoistischen Bestrebungen war, in Trümmer zerfallen ist. Das Ego will sich erst verabschieden, wenn es alles ruiniert hat, was es sich erträumte. Wo die Identifikation mit dem Ego so mächtig ist, gelingt ein Ausbruch aus seinen Fängen nur im Scheitern, im Zusammenbruch; tragisch wird es dann, wenn viele andere in diesen Strudel hineingezogen werden, wie z.B. im Ende des Großdeutschen Reiches in den Ruinen und Schuttbergen der deutschen Städte.

Mit unserer genetischen Grundausstattung kommen wir nicht über unser Ego hinaus, das sich höchstens auf ein Gruppenego ausweitet: Das Bindungshormon Oxytocin wirkt nur im vertrauten Umkreis und schürt Misstrauen gegen alles Fremde. Studien haben herausgefunden, dass die Empathie mit Machtgewinn schwächer wird. Je mehr Geld, desto mehr Macht, desto weniger Empathie – so will uns offenbar die Natur. Sie hat allerdings nicht mit den riesigen Anhäufungen von Geld und Macht gerechnet, die in der modernen Zeit durch den Kapitalismus möglich wurden. Die Natur hat uns allerdings auch eine enorme Lernfähigkeit mitgegeben, die wir nutzen können, um unsere Vernunft auszubilden. Sie ist in der Lage, das Ego und seine selbstdestruktiven Impulse zu durchschauen und zu überwinden.

Erst wo die Vernunft das Ego einzuschränken vermag, wird ein Handeln möglich, das von Verantwortung getragen ist. Die Vernunft vermag über den Tellerrand der eigenen individuellen und kollektiven Bedürfnisse schauen und ist offen für ein universelles Mitgefühl, also für ein Verständnis des Leides der gesamten Menschheit.

Zur Universalität des Mitgefühls:
Natan Sznaider: Politik des Mitgefühls. Die Vermarktung der Gefühle in der Demokratie. 
Weinheim: Beltz Juventa, 2021

Zum Weiterlesen:
Musk: "Empathie - eine Schwäche der westlichen Zivilisation"
Der heroisierte Verzicht auf Empathie
Der Propagandatrick der Umkehrung
Taktiken zur Machtergreifung
Muster der rechtsorientierten Propaganda