Sonntag, 4. September 2022

Gendern und die Wunden des Patriarchats

Die Genderdebatte ist zu einer Konstante in den öffentlichen Diskursen geworden. Die Emanzipationsbewegung dringt immer mehr in alle Teilbereiche und Seitenaspekte der Gesellschaft ein, für manche überspannt sie den Bogen, für andere steckt sie noch in den Kinderschuhen. Faktum ist, dass auch die fortschrittlichste westliche Gesellschaft noch weit von dem Ziel der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen entfernt ist, was den Arbeitsmarkt, die Entlohnung und die häusliche Arbeit anbetrifft. Jedenfalls können wir uns nicht mehr um das Thema herumschwindeln. Die Altlasten aus der Geschichte des Patriarchats ragen wie mächtige ungeschliffene Klumpen in die Gegenwart und bewirken Ungerechtigkeiten und lähmen Potenziale bei Frauen wie bei Männern.

Die Debatte hat die Linien und Gewichte der Scham in der Gesellschaft verschoben. Das voremanzipatorische Geschlechterverhältnis war bekanntlich von der offiziellen Überordnung der Männer über die Frauen geprägt. Die Scham wirkte wie ein Kitt für diese Verhältnisse: Männer wie Frauen hatten sich zu schämen, wenn sie sich nicht an die geltenden Normen hielten. Sie hatten sich sogar zu schämen, wenn sie diese Normen nicht verteidigten. Wegen der Ungleichheit bestanden auch unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen. Vieles war den Frauen verboten, was den Männern erlaubt war. Inzwischen sind die ökonomischen Grundlagen für die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, die in agrarischen Arbeitsformen aus Notwendigkeiten der Arbeitsteilung entstanden sind, weggefallen. Seit die Wirtschaft im Kern nicht mehr auf menschlicher Muskelkraft, sondern auf kognitiven Leistungen beruht, gibt es keine Begründung mehr, Frauen in irgendeiner Hinsicht in der Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur zu benachteiligen. Viele diskriminierende Regeln und Normen sind auch weggefallen.

Doch hat der Patriarchalismus seine Spuren bis in die feinsten Ritzen der Gesellschaft hinterlassen. Alle unsere Sprachen sind im Patriarchat entstanden und von dessen Geschlechterkonzepten geprägt, sodass eine gendergerechte Sprache häufig plump und grotesk wirkt. Auch fehlen die Begrifflichkeiten und Worte, die die geänderten Sichtweisen stimmig und geschmeidig ausdrücken könnten. Im Deutschen sind neue Begriffe entstanden, an die wir uns erst gewöhnen müssen, ebenso wie an die gendergerechten Formulierungen mit oder ohne Binnen-I, *, :, _, Paarformen (=vollständige Beidnennung) usw. Die Sprache wandelt sich beständig, und mit ihr müssen sich auch unsere Sprachgewohnheiten beim Reden, Lesen und Schreiben ändern. Mit der Berücksichtigung geschlechtsgerechter Ausdrucksformen zollen wir den Wunden aus der Geschichte des Patriarchats unseren Respekt.

Denn es weist jede noch so ungelenk und leseunfreundlich wirkende Genderung auf Schamwunden hin: Hinter der Sperrigkeit des Ausdrucks verbergen sich Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten, die über Jahrhunderte geschehen sind und noch immer geschehen. Deshalb braucht es den Ausgleich, bei dem es darum geht, die Verletzungsserie aus der Geschichte des Patriarchats anzuerkennen und ihr den Vorrang zu geben vor der Ästhetik des sprachlichen Gewands. Wie hässlich ein von exakter Genderung durchtränkter Text auch erscheint, spiegelt er doch nur die Hässlichkeit der patriarchalen Tradition. 

Jeder Verstoß gegen die grundsätzliche Gleichheit der Menschen hat eine Schamreaktion zur Folge, die individuell und kollektiv wirkt. Denn die Scham ist die internalisierte Wächterin über Fairness, Gerechtigkeit und Gleichrangigkeit und meldet sich bei jeder willkürlichen Zurückstufung und Abwertung von Menschen. Allerdings gibt es sowohl auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene etablierte Formen der Schamabwehr, die dazu dienen, die Augen vor der Notwendigkeit der Neudefinition des Geschlechterverhältnisses zu verschließen oder eine emanzipationskritische Gegenposition zu vertreten und damit die Wunden, die das patriarchale System in die Seelen der Männer wie der Frauen geschlagen hat, zu ignorieren.

Nicht besonders verwunderlich ist zu beobachten, dass sich jene politischen Kräfte gegen diese Entwicklung der Gesellschaft sperren, die auch sonst alle Änderungen der bestehenden Verhältnisse ablehnen, soweit sie nicht die eigene politische oder ökonomische Position stärken, also zu mehr Macht, Einkommen oder Vermögen verhelfen. Es sind die von der subjektiven Überlebensangst getriebenen Gruppierungen, die vor jeder Neuerung zurückschrecken, weil sie es sich im jeweiligen Status Quo behaglich „gerichtet“ haben, also ihre Schäfchen ins Trockene gebracht haben. Doch der Zahn der Zeit nagt unerbittlich und zieht mit stetiger Kraft hin zum Weiterbau am gesellschaftlichen Ausgleich. Nur in Krisenzeiten haben die Beharrer am Alten die Oberhand, weil mehr Menschen ihre Überlebensängste spüren und die Schamgefühle in den Hintergrund treten. 

Denn es ist die Scham, die über die Richtschnur für die gesellschaftliche Weiterentwicklung auch in dieser Hinsicht verfügt: Niemand soll sich mehr für das eigene Geschlecht schämen müssen, und kein Geschlecht darf in irgendeiner Hinsicht mehr zählen oder mehr wert sein als das andere. Darüber hinaus soll sich niemand mehr für die eigene sexuelle Orientierung schämen müssen, ebenso niemand, der ein anderes Geschlecht will oder sich keinem der Geschlechter zugehörig fühlt. An die Stelle der durch überkommene Schamprägung etablierten Ungerechtigkeiten und menschenfeindlichen Normierungen tritt in einer emanzipierten Gesellschaft die Wertschätzung und Achtung der Unterschiede, Variationen und Erlebensweisen der Menschen. Solange das Menschsein in seiner jeweils individuellen Form nicht die volle gesellschaftliche Anerkennung genießt, ruht die Scham nicht und erzeugt ein schlechtes Gewissen. Das ist der Stachel, der solange schmerzt, solange die Ungerechtigkeiten weiter bestehen. Jede Genderung, ob sie uns gefällt oder nicht, weist auf die alten Wunden und die ungelösten Gleichstellungsprobleme hin – Anlass dafür, die Ärmel hochzukrempeln und sich aktiv für die Verbesserung und Vermenschlichung der Geschlechterverhältnisse einzusetzen.


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