Archetypen sind keine Figuren nach den rationalen Maßstäben der nüchternen Erwachsenenwelt, sie haben kein Verhältnis zu Zahlen und technischen Ursache-Wirkung-Gesetzmäßigkeiten. Sie sind von einer mythischen Aura umgeben und verhalten sich unberechenbar und spontan. Sie finden deshalb in der linkshemisphärischen Welt der Zweckrationalität und Marktökonomie keinen Platz, aber begegnen uns immer wieder an den Rändern unseres Klarbewusstseins. Allerdings sind wir zum geringen Teil in diesem Bewusstsein, das als die Norm gilt, z.B. weil wir da vor dem Gesetz zurechnungsfähig sind oder beim Schulunterricht aufpassen können.
Vermutlich widerspricht das auch unseren Selbstüberzeugungen, weil wir intuitiv annehmen, dass wir permanent präsent und direkt mit der äußeren Wirklichkeit verbunden sind. Die Wissenschaft hat dagegen herausgefunden, dass wir einen Großteil des Tages mit Gedankenschleifen, Fantasien und Tagträumen verbringen. Unsere Gedankenwelt liebt Konstruktionen und Projektionen, die sich aus Anleihen von der Außenwahrnehmung speisen und daraus eigene Süppchen kochen. Erst recht sind wir in der Nacht in Bereichen weit jenseits der Kontrolle unseres Verstandes. Wir sind also viel irrationaler aufgestellt und verhalten uns in weiten Bereichen nach den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt als wir von uns selber glauben. In all diesen Bereichen können die Archetypen eine ordnende und sinngebende Rolle einnehmen.
Das Erleben der Innen- und Außenwelt in der pränatalen Zeit bis weit in die Kindheit hinein ist von der mythisch-emotionalen Geisteshaltung bestimmt. In unseren Anfängen nutzen wir vor allem die rechte Gehirnhälfte und ihre Vorläufer zum Verständnis der Wirklichkeit und zum Erinnern und Lernen. Die linke wird nur langsam geformt und erreicht ihre volle Reife erst im frühen Erwachsenenleben.
Es kann also durchaus sein, dass die mythische Welt der Archetypen zugleich die Erlebenswelt im Mutterleib repräsentiert und dass der eigentlicher Sinn und Nutzen der Beschäftigung mit ihnen darin besteht, dass wir uns in unseren Anfängen besser verstehen lernen. Sie dienen also als Hinweise auf dem Weg zur Ganzheit, in zweifacher Weise: zeitlich im Sinn einer durchgängigen Kontinuität unserer Lebensgeschichte von den märchenhaften Anfängen bis ins vernunftgeleitete Erwachsenenleben, und holistisch im Sinn der Integration aller Seelenanteile und Wirklichkeiten in uns selbst. Denn es gehört beides zu uns: die sagenumwobenen und gefühlsdurchdrungenen Welten und die wohlstrukturierten, rational gestalteten.
König und Königin
Nehmen wir das Beispiel von zwei Archetypen: König und Königin oder: Kaiser und Kaiserin. Diese Figuren haben heutzutage nur mehr wenig Bedeutung in der sozialen Wirklichkeit. Es gibt noch ein paar Monarchien auf der Welt, die ihre ehrwürdigen Traditionen pflegen und Stoff für Klatschgazetten liefern, aber sonst wie museale Erinnerungsstücke an eine längst überkommene Vergangenheit wirken, mit der entsprechenden diffusen Verklärung. Die Leute, die noch vor einiger Zeit noch in unseren Landen mit wehmütiger Verzückung sagen konnten: „Unterm Kaiser war alles ganz anders“, sind inzwischen verstorben. Demokratische Republiken sind seit dem 19. Jahrhundert das Erfolgsmodell, und selbstaufgestellte Diktatoren, die immer wieder mal auftauchen, bringen es nur zu plumpen Imitationen ohne die Aura des Erhabenen und Ehrwürdigen, mit kurzem Verfallsdatum und meist schändlichem Nachruf.
In der pränatalen Welt gibt es diese erhabenen Gestalten noch, die alle Macht in sich vereinigen und Strenge und Güte ausstrahlen. Es sind Vater und Mutter, die Inhaber und Verwalter von Leben und Tod. Alles hängt von ihnen ab, alles ist ihnen untergeordnet. Eine Fingerbewegung genügt, und die Welt wird gut oder schrecklich. Die Allmacht, die gottgleiche Überlegenheit, das Innehaben aller Rechte und Gesetze, die Zuständigkeit für alle Lebensgrundlagen, das sind die Befugnisse der Eltern, an denen ein Kind keinen Zweifel hat. Es besteht ein Gefälle zwischen dem, was ein winziges Kind als absolut und allmächtig wahrnimmt, weil es keine Grenzen der elterlichen Gewalt erkennen kann, und der eigenen Schwäche und Hilflosigkeit, Dieses Verhältnis ist durch ein einseitiges Ausgeliefertsein gekennzeichnet, der das Kind nur seine emotionale Kraft entgegensetzen kann.
All diese Elemente finden sich in den traditionellen Rollenbildern von Monarchen und Untertanen. Der Absolutismus als letzter Höhepunkt des regierenden Königtums spiegelt die schrankenlose Hoheit der Eltern über das Wesen, das im Leib der Mutter heranwächst. Die einfach geltende Unterordnung ist dem winzigen Kind so klar wie dem Bauern im Feudalismus: Wer größer ist, hat das Sagen, wer kleiner ist, muss folgen. Das Kind muss seine Regenten nehmen, wie sie sind: gütig und wohlwollend oder streng und abweisend, genauso wie der Untertan im russischen Zarenreich den Herrscher akzeptieren musste, ob er weise oder verrückt war. Das Thema des Protests oder der Revolution, der Infragestellung der Autoritäten und des Sturzes der Denkmäler gehört zu einem anderen nachgeordneten Kapitel, sowohl in der Individual- wie in der Menschheitsgeschichte.
Der Archetyp im Inneren
Der König repräsentiert den aktiven Aspekt, die Königin den passiven. Diese Aufteilung entspricht den männlichen und weiblichen Archetypen (Animus und Anima). Natürlich haben wir alle Anteil an beiden Aspekten, und jeder/jede von uns repräsentiert eine individuelle Mischung. Das „monarchische“ Element bringt das Thema der Autorität ein. Die Ausübung von Macht und das Umgehen mit der Macht anderer ist das zentrale Thema dieses Archetyps. Der Drang der Macht besteht im Ausweiten, und in diesem Drang steckt ein Stück Aggression. Der Archetyp des Herrschers ist deshalb auch verbunden mit Wut und Aggression. Die clemencia (Milde) gilt als Tugend des Königs, sie ist jedoch nicht sein selbstverständliches Attribut, sie kann von den Untertanen nur als Gnade erwartet werden. Sie ist ein Entwicklungspotenzial, das in diesem Archetypus angelegt ist. Denn das Weiche besiegt nach taoistischer Lehre das Harte. Die Wut braucht eine Kontrolle, um das Königreich in Balance zu halten.
Die weibliche Autorität unterscheidet sich im archetypischen Prinzip auch von der männlichen Autorität. Vom Archetyp her heißt es, die männliche Macht ist härter als die weibliche. Jene gilt als entscheidungsorientiert, konfliktbetont und dominanzgerichtet. Die weibliche Form der Machtausübung kann mit Konsenssuche, Interessenausgleich und Partizipation umschrieben werden. Es gibt natürlich Frauen in der Politik, die die männliche Härte verkörpern (Beispiele: Margaret Thatcher, Golda Meir), und Männer – weniger in der Politik, wo eben die Durchsetzungskraft gefragt ist –, die die weichere Seite der Machtausübung beherrschen.
Ordnung und Struktur
Die Archetypen von König und Königin stehen auch für Ordnung und Struktur. Sie erlassen Regeln und achten auf deren Einhaltung. Damit geben sie dem Leben einen sicheren Rahmen, innerhalb dessen es sich entfalten kann. Jedes Kind braucht einen solchen Rahmen, für den schon vorgesorgt ist und fortlaufend gesorgt wird, sodass es sich auf sein eigenes Wachsen und Lernen konzentrieren kann. Es braucht auch eine vorgegebene Orientierung zu dem, was in dem Leben angemessen oder unangemessen ist, damit es seine inneren Werte aufbauen kann. Die Leitfiguren sind die Eltern, die vor allem mit der Konsistenz und Klarheit in ihrem Verhalten und weniger durch ihre verbalen Botschaften für die Ordnung sorgen und die entsprechenden Grenzen setzen und verstehbar machen.
Grenzen geben Sicherheit, und Sicherheit ermöglicht Kindern ein organisches Wachsen. Sie brauchen fraglos geltende Rahmenbedingungen. Es ist auch ein Raum für Grenzdiskussionen notwendig, damit den sich im Lauf der Entwicklung verändernden Sicherheitsbedürfnissen der Kinder Rechnung getragen werden kann. All das fällt in den Aufgabenbereich der Eltern, hinter deren Autorität die Archetypen von König und Königin stehen.
Jenseits der Typen
Ähnlich wie in dem Blogartikel zu Animus und Anima dargestellt, lassen sich auch in der westlichen Kultur die Archetypen von König/Königin nicht mehr für die Deutung des „typisch“ Männlichen oder Weiblichen gebrauchen, nach der Aufklärung und der Emanzipationsbewegung der Frauen. Vielmehr geht es um Grundprinzipien, die im Machtthema angelegt sind und die sich in der Geschichte aus bedingten historischen Gründen auf Männer und Frauen aufgeteilt haben, aber keinen übergeschichtlichen Stellenwert beanspruchen können.
Mit anderen Worten: Wir brauchen beide Pole des Führungs- und Autoritätskontinuums, die durch die Archetypen des Königs und der Königin repräsentiert werden. Je mehr wir von diesen Qualitäten in sich entwickelt haben, desto vielfältiger, offener und konstruktiver können Positionen im Rahmen der Machtausübung ausgeübt werden. In der Weite und Flexibilität, mit denen die „königlichen“ Aspekte umfangen und angewendet werden können, liegt das Potenzial für die Lösung des Machträtsels für eine nach- oder metamoderne Gesellschaft.
Aus psychodynamischer Sicht betrachtet, gelingt dieser Schritt nur, wenn die in pränataler und frühkindlicher Zeit geprägten Elternimagos, also die spezifischen Ausprägungen des König-Königin-Archetyps, aufgearbeitet sind, sodass die jedem Menschen eigene Form der Autorität in möglichst umfassendem Rahmen gebildet, entwickelt und ausgeübt werden kann. Die Nutznießer sind nicht nur die Kinder, die mit innerlich ausbalancierten Eltern aufwachsen; dazu noch alle, die von solchen integren Autoritätspersonen lernen können.
Zum Weiterlesen:
Animus und Anima im 21. Jahhundert
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