Montag, 27. April 2020

Sieger ohne Besiegte

In diesen Tagen ist viel die Rede vom Kämpfen und Besiegen. Es geht bekanntlich gegen ein Virus. Die kriegerischen Parolen sind offenbar den Menschen so vertraut, dass sie mit entsprechendem Verhalten reagieren. Sind wir also programmiert auf das Muster von „Kampf bis zum glorreichen Sieg oder zur bitteren Niederlage?“

Hanzi Freinacht hat in einem Artikel über das Siegen, der mit der Nazi-Parole „Sieg Heil!“ beginnt, geschrieben: „Ja, es gibt wenig Dinge, die süßer sind als ein Sieg; tatsächlich braucht jeder von uns zumindest ein gewisses siegreiches Gefühl, um sich ganz und glücklich zu fühlen; um mental gesund zu sein. Gebrochen zu sein bedeutet oft, besiegt zu sein.“ 

Die Dynamik von Kampf und Sieg ist die Stressdynamik, die Angstdynamik. Sie ist von einer drohenden Gefahr angetrieben, die in fast allen Fällen in unseren Leben Einbildungen unseres Verstandes entspringt, also selbstproduziert ist. Es ist ja nicht das Virus, das die Angst erzeugt, sondern unsere Vorstellung, dass wir krank werden und elendiglich zugrunde gehen. 

Selbst wenn eine reale Gefahr besteht, ist das Kämpfen in den wenigsten Fällen die erfolgversprechende Strategie. Denn die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sind äußerst komplex; im Stressmodus können wir nur simpel denken und simpel handeln. Wir sind von jeder Komplexität sofort überfordert und neigen dazu, einfach dreinzuhauen, ohne nachzudenken, mit der Hoffnung, dass mit Gewalt etwas besser wird. Ziemlich sicher machen wir auf diese Weise mehr kaputt und verschlimmern das Problem.

Das Kämpfen sollten wir also vermeiden und durch andere Strategien ersetzen, so gut es geht. Wie ist es dann mit dem Siegen? Wenn wir einen Kampf erfolgreich bestehen, bereitet der Sieg ein kurzes Hochgefühl. Wir haben ein Tennis- oder Schachmatch gewonnen und freuen uns. Im Spiel dient zweierlei als Motivator: Die Spannung im kontrollierten Rahmen und das Resultat. Das Spiel können wir nur genießen, wenn uns die Spannung während des Spieles wichtiger ist als der Sieg, im Sinn von „Mensch ärgere dich nicht“. Denn zum Spiel gehört auch die Fähigkeit zum Verlieren. Die Abhängigkeit vom Siegen vernichtet die Lust am Spielen.

Der Unterschied zwischen Spiel und „Ernst“ ist gravierend, denn im Spiel geht es um Vergnügen und im anderen Fall ums Überleben. Es wirken zwei sehr verschiedene Stressmechanismen mit unterschiedlichen Auswirkungen auf unser Innenleben. Der sogenannte Eu-Stress z.B. beim Spielen wirkt sich gesundheitsförderlich aus, während der Di-Stress, der mit Überlebensangst verbunden ist, gesundheitsschädlich und leistungsmindernd ist – das Immunsystem wird geschwächt, das Herz-Kreislaufsystem belastet und die Denkfähigkeit minimiert. 

Wenn es „ernst“ wird, brauchen wir die Fähigkeit, einen Schritt zurück zu machen, um die Gefahr voll in den Blick zu bekommen und zu entscheiden, was zu tun ist, statt die Zähne zusammenzubeißen und uns ins Getümmel zu werfen. Diese Taktik erinnert an die „schneidigen“ Husaren der K.u.k.-Armee zu Beginn des 1. Weltkriegs, die mit „tollkühnem“ Hurra gegen die russischen Linien galoppierten und auf halbem Weg von den Maschinengewehren auf der anderen Seite niedergemäht wurden. Tollkühn kann hier und auch in vielen anderen Zusammenhängen mit dumm und verantwortungslos übersetzt werden. 

Der Kampfstress macht uns also verbissen und beschränkt unsere Fähigkeiten, von Kreativität ganz zu schweigen. Aus dieser Reduktion stammt die Fixierung auf das Siegen. Die ganze Anstrengung hat nur einen Sinn: den Sieg. Damit sollte die Mühsal des Kampfes gerechtfertigt sein, damit sollten die Gefahren gebannt werden und die Probleme endgültig gelöst. 

Der Sieg hat dabei gar keinen Inhalt: „Aber Sieg zu welchem Ergebnis? Für eine bessere Welt? Für Fairness? Für Fortschritt? Für Wahrheit? An diesem Punkt zeigt sich die Leere des Faschisten: Nein, Sieg um des Siegens willen.“ (Hanzi Freinacht)

Es ist nicht nur die Leere des besessenen faschistischen Kampfes; es ist die Leere in jedem Kampf gegen ein imaginiertes Böses. Denn die eigene Fantasie kann nicht besiegt werden, sie wird nach jedem Erfolg die nächste Bedrohung und das nächste Angstszenario produzieren. Hinter jeder Windmühle, die besiegt wurde, taucht die nächste auf. Nichts kann den Wiederholungszwang aufhalten, der die weltweite Kriegsmaschinerie am Laufen hält, solange die innere Angstproduktion ungehindert arbeitet. Deshalb ist die Ideologisierung das wichtigste Schmiermittel in dieser Maschine: Sie infiziert und infiltriert die Menschen, sodass ihre Bedrohungsbilder gefüttert und laufend aktualisiert werden. Sie erzeugt fortwährend Bilder von drohenden Niederlagen und notwendigen Siegen, damit das Kämpfen weitergeht.

Menschen, die sich die Verletzungen und Demütigungen in ihrer Lebensgeschichte nicht bewusst gemacht haben, sind offen für solche Ideologien, die sie wie ein Schwamm aufsaugen, weil sie genau in das eigene angstdurchtränkte Bewusstsein passen. Sie verwechseln bereitwillig die innere mit der äußeren Realität und verlieren sich im endlosen Kämpfen immer mehr.

Der Sieg der Geburt


Aus der Sicht der perinatalen Psychologie handelt es sich beim Kampf-Sieg-Muster um eine Wiederholung des Geburtstraumas. Das Baby, das sich durch den Geburtskanal zwängen muss, erlebt diesen Vorgang als Kampf ums Überleben und den Ausgang ans Licht als Sieg über die bedrohlichen Kräfte der Wehen. Der Siegespreis ist das eigene selbständige Leben, das mit dem ersten Atemzug bekräftigt wird.

Ist dieses Trauma nicht aufgearbeitet, so wird es im Leben immer wieder mit der gleichen Dynamik aktiviert werden: Jeder Konflikt artet in einen Kampf aus, bei dem es ums Überleben geht und der deshalb mit einem Sieg enden muss. Das Schlimmste wäre es, zu unterliegen. Die Außenwelt wird als feindselige Bedrohung erlebt, die überwunden und bezwungen werden muss.

Die Spielregeln des Lebens ändern


Hanzi Freinacht propagiert als Alternative zur Kampf-Sieg-Dynamik ein Leben, in dem die Menschen grundsätzlich Sieger werden – in sinnvollen Spielen. „Also ist es ein Ziel der Gesellschaft, Bedingungen für uns alle zu schaffen, dass wir uns siegreich fühlen können – aus guten Gründen. Wenn wir damit scheitern, können wir wohl bald neue autoritäre Führer hören, die uns zum Sieg-Heil-Schreien drängen.“

Siegreich können wir uns dann fühlen, wenn wir einen inneren Widerstand überwunden haben. Der Begriff des „Heiligen Krieges“ im Islam (dschihad) meint in manchen Auslegungen die kompromisslose Auseinandersetzung mit den inneren Feinden, den schlechten Gewohnheiten (nafs), die der Entwicklung des Selbst im Weg stehen. Siegreich können wir uns auch fühlen, wenn wir etwas zur Verbesserung der Lebensbedingungen und der gesellschaftlichen Ordnung erreicht haben. Siegreich können wir uns fühlen, wenn wir einen Streit friedlich beilegen konnten und uns für Ärmere und Benachteiligte eingesetzt haben. 

Es gibt also viele Anlässe für Siege, die andere miteinschließen und die nicht auf der Schädigung anderer beruhen. Ich denke, dass in einer besseren Gesellschaft nur mehr solche Siege salonfähig sein sollten: Da hat jemand eine Erfindung gemacht, die ein Umweltproblem löst. Da hat jemand ein Musikstück komponiert, das Leidende aus der Depression führt. Da hat jemand einen liebevollen Blick auf das Kind geworfen, das ganz verschüchtert vorbeigeht. Da hat jemand Geld für einen guten Zweck gespendet, da hat jemand seine Zeit für jemanden aufgewendet, der Not leidet usw.

Siege hingegen, die als Triumph über die Unterlegenen gefeiert werden, sollten verpönt sein und mit Scham belegt werden. Wie kann sich jemand eines Erfolges brüsten, der anderen Menschen Demütigung und Leiden bereitet? Das wäre ein Ausdruck von Arroganz und Menschenverachtung. Wer kann jemand anderen bewundern und beneiden, der viel Geld mit der Erzeugung sinnloser oder schädlicher Produkten gemacht hat? Das wäre ein Ausdruck von Neid und versteckter Gier. Was hat gesiegt, wenn jemand durch Kinderarbeit, Waffenproduktion oder Umweltzerstörung reich wird? Dahinter steckt wohl der neoliberale Drang nach Geldvermögen, motiviert durch Gier.

Ein Sieger in dieser Zukunft ist einer ohne Besiegte, und einer, der möglichst viele andere Sieger durch seinen Sieg beflügelt. Eine Siegerin ist eine, die den Konkurrenzgedanken mitsamt den Gier- und Neidantrieben überwunden hat und mit ihren Erfolgen ihre Mitmenschen zu ihren eigenen Errungenschaften und Erfolgen anregen und anspornen will.

Eine menschenwürdige Gesellschaft – der Metamodernismus nach Hanzi Freinacht – kann nur auf der Grundlage von sozialer Gerechtigkeit wachsen und gedeihen. Dafür sind Werte notwendig, die jeden Erfolg nach den Maßstäben des Gemeinwohls und der Naturverträglichkeit messen. Wenn diese Maßstäbe in die Einstellungen vieler Menschen Eingang finden, können wir eine Gesellschaft mit einem neuen, friedlichen und sozial ausgerichtetem Verständnis von Kampf und Sieg bilden. Und wir sollten alles in unserer Macht Stehende in Gang setzen, damit das menschliche Maß zum Mainstream wird.

Zum Weiterlesen:
Metamodernismus - eine Übersicht
Tiefe - eine Dimension des Menschlichen
Komplexe Themen und komplexes Denken
Warum die Geburt im Krankenhaus gelandet ist

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