Mittwoch, 27. April 2016

Unsere Identität und die Mikrobiome

In gewisser Hinsicht sind wir keine Voll-Menschen, sondern Minderheiten in uns selbst: Wir beherbergen ca. 100 Billionen nicht-menschliche Bakterienzellen, zehnmal mehr als unsere "eigenen" menschlichen Zellen und mit 150-mal mehr Genen als jene, die wir ererbt haben. Diese Bakterien machen zwar nur 1 – 3 % unserer Körpermasse aus, haben aber viel mitzureden bei all den Prozessen, die in uns ablaufen. Sie führen ein interessantes Sozialleben: sie organisieren sich untereinander, stehen in Konkurrenz, bilden Gemeinschaften, tauschen Gene aus usw. Sie führen also ein vielfältiges Eigenleben in ihren Mikrobiomen, im Mund, auf der Haut, in den Schleimhäuten und vor allem im Darm. Für unser Leben und unsere Gesundheit sind sie von zentraler Bedeutung.

Wir wissen heute, dass Babys die Muttermilch nur dann gut verdauen können, wenn sie die Bakterienkultur von der Mutter beim Durchgang durch den Geburtsgang mitbekommen. Deshalb haben Kaiserschnitt-Babys häufiger Verdauungsbeschwerden als natürlich geborene. Und deshalb wird bei fortschrittlicheren Kaiserschnittgeburten die Bakterienkultur aus der mütterlichen Scheide auf das Baby übertragen.

Die Enzyme, die wir benötigen, um Kohlenhydrate zu verdauen, entstehen aus Genen, die gar nicht unsere eigenen sind. Einige der Mikro-Arten stellen Hormone als Stoffwechselprodukte her, darunter das als Glückshormon bekannte Dopamin.

Schließlich wirkt sich das gastrointestinale Mikrobiom über unser Gehirn auf unsere Befindlichkeit aus: Moleküle aus diesem Bereich können die Blut-Hirn-Schranke überwinden und modifizieren dort die Regulation von bestimmten Neurotransmittern, sodass möglicherweise Depressionen, bipolare Störungen und Autismus durch Mikroorganismen behandelt werden können.

Wie es ein Forscher ausgedrückt hat, wird das Immunsystem der Säugetiere, das scheinbar zur Kontrolle von Mikroorganismen geschaffen ist, in Wirklichkeit von den Mikroorganismen kontrolliert. Die Evolutionsgeschichte ist eine gemeinsame Entwicklung zwischen Mikrobiomen und Wirt, als Prozess der fortschreitenden Integration.

Die Mikrobenwelt beschränkt sich nicht auf unser Innenleben, sondern breitet sich auf unser Wohnumfeld aus. Eine Studie konnte zeigen, dass Familien ein gemeinsames interaktives Feld zwischen den Personen und ihrer häuslichen Umgebung aufbauen. Wenn die Familie umzieht, braucht es nur 24 Stunden, bis die alte mikrobiologische Besiedlung erfolgt ist und nicht mehr von der alten Wohnung unterscheidbar ist.


Das Darm-Mikrobiom


Die Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms, in dem sich etwa 1400 Bakterienarten zusammenfinden, wird beeinflusst durch
•    Ernährung
•    Darminfektionen, Darmentzündungen und Reizdarmsyndrom
•    Fettleibigkeit und Mangelernährung
•    Stress.
Andererseits hat das Darm-Mikrobiom Auswirkungen auf
•    Ernährung, Verdauung, Stoffwechsel und Körpergewicht
•    Immunsystem
•    Schmerz und Stressanfälligkeit
•    Emotionalität, Stimmungslage, Lernen und Gedächtnis.

(Quelle)

Es gilt als sicher, dass die persönliche Ausprägung der Darmflora mit 18 Jahren abgeschlossen ist. Dabei gibt es eine bestimmte Gruppe von Bakterien, die bei fast allen Menschen gefunden wird – eine Art biologische Grundausstattung. Dazu kommen dann bestimmte Spezialisten, die vermutlich die Ernährung und andere Lebensumstände widerspiegeln und eine große Vielfalt in den Darm bringen. 


Wir sind Billionen von Identitäten in dauernder Veränderung


Wir beherbergen also ein riesiges Reservoir aus vielfältigen Kulturen in uns, die eine enorme genetische Breite aufweisen. Da verliert sich jeder Versuch, eine Klassifikation einzuführen. Dazu kommt, dass die einzelnen Biome nicht nur miteinander kommunizieren, sondern auch untereinander Gene austauschen und so dauernd neue genetische Zusammensetzungen erzeugen.

Wir sind also ein Sammelsurium aus verschiedensten Elementen, aus Billionen von Identitäten. Wir können nicht einmal sagen, dass die Zellen, die aus der Ei- und der Samenzelle stammen, aus der wir entstanden sind, , also unser Genpool "eigener" sind als jene, die innerhalb dieses daraus gebildeten Körpers leben. Denn wir könnten ohne diese Bakterienkulturen nicht leben und wir wären anders, wenn diese Bakterien anders wären. Das, was wir unser individuelles Leben nennen, ist eine permanente Wechselwirkung zwischen unserem Genmaterial und dem der Biome. Unsere Identität ist diese sich beständig verändernde interaktive Gewebe zwischen all den Genomen, die in jedem Moment eine faszinierende Form der Zusammenarbeit finden, die bewirkt, dass wir leben und dass wir so leben, wie wir leben.

Macht es einen Sinn, für dieses dynamische Geschehen, das wir sind, den Begriff der Individualität anzuwenden? Natürlich sind wir einzigartig, noch radikaler einzigartig, als wenn wir nur von dem von den Eltern ererbten Genpool ausgehen. Wir unterscheiden uns auf viel mehr Ebenen voneinander als wir sonst annehmen. Individualität heißt Unteilbarkeit, aber was sollen wir mit diesem Begriff, wenn sich unsere innere Zusammensetzung laufen verändert? Da gibt es nicht einmal irgendeinen „Kern“, der nicht mehr geteilt werden kann, sondern das ausdrückt, was wir „in unserem Wesen“ sind.

Angesichts dieser erdrückenden Einsichten in die Überlegenheit der Dynamik über alle Festlegungen, der Veränderbarkeit über alle Kategorien können wir jedes starre Konzept über unsere Identität und unsere Individualität loslassen. Diese Konzepte sind ja nur Versuche, uns an die Erwartungen der anderen anzupassen, die viel Kraft und Energie erfordern. Denn innerlich ändern wir uns dauernd, und diese Ungewissheit wollen wir unseren Mitmenschen und uns selbst nicht zumuten. Also bilden wir uns Wesensbegriffe übereinander, mittels derer wir uns wechselseitig berechenbar machen. Das sind aber nur willkürliche Festlegungen, die uns darüber täuschen, dass wir in Wirklichkeit von Moment zu Moment in Veränderung sind.


Aktueller Nachtrag: Heute wurde die Nachricht veröffentlicht, dass es einem Innsbrucker Forscherteam gelungen ist, ein Darmbakterium namens Alistipes als Auslöser für Dickdarmkrebs zu identifizieren. Das Protein LCN2 kann der Entstehung von Darmtumoren vorbeugen, weil es dem Alistipe-Keim die Nahrung entzieht.

Vgl. Des Pudels Kern

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