Donnerstag, 31. Januar 2019

Akzeptiere was ist, dann verändert es sich

Es gibt zwei Lebensanschauungen, zwei Erziehungsprinzipien, zwei Formen der Selbstdisziplin, die wie Antagonisten zueinander stehen. Sie ziehen sich durch die Sozial- und Kulturgeschichte ebenso wie durch die Biographien der Menschen unserer westlichen Gesellschaften. Sie lassen sich durch zwei Sätze formulieren:

1. Wenn du akzeptierst, was ist, wird sich nie etwas ändern.
2. Akzeptiere was ist, dann wird es sich von selber verändern. 

Wir sehen sofort den Unterschied. Im ersten Satz äußert sich eine rigide Erziehungshaltung und Einstellung zu sich selbst. Aber sie ist geprägt von einigen Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden an Erziehungs- und Disziplinierungsgeschichte. Es ist die Philosophie vom inneren Schweinhund, dem inneren Saboteur, der jede Anstrengung vermeiden will und sich nur unter Drohungen und Zwang von seinem Faulbett aufrafft. 

Es kommt ein Misstrauen gegen andere und gegen sich selbst zum Ausdruck. Wenn wir anderen ihre Fehler durchgehen lassen, machen sie die gleichen Fehler immer wieder. Wenn wir uns selber mit einem Fehler annehmen, werden wir ihn genauso wiederholen und nie was lernen. Andere sind unvollkommen und müssen zur Vollkommenheit oder zumindest zur Verbesserung gebracht werden, und wir selber sind noch immer unvollkommen und müssen uns fortwährend bessern. 

Außerdem steckt hinter dem ersten Satz die Furcht vor der Trägheit und Faulheit, bei sich selber und bei den anderen Menschen. Akzeptieren bedeutet so viel wie sich in der Wohlfühlcouch zurücksinken zu lassen und alles seinen Gang gehen zu lassen, das, was einem passt und das, was einem auf den Geist geht. Die Angst ist also, dass wir ohne den erhobenen Zeigefinger oder die drohende Peitsche sofort in eine resignative Haltung verfallen, die besagt: Was ist, ist, wie es ist, da kann man nichts ändern. Veränderungen erfordern Kraft und Einsatz, und wenn wir uns zu sehr der Bequemlichkeit hingeben, kommen wir nicht weiter. Zum Fortschritt kommt es nur, wenn wir etwas, was ist, eben NICHT akzeptieren. Wir brauchen unsere Gegnerschaft zu dem, was ist, denn aus dieser Spannung entsteht dann auch der Imperativ zur Tat, die dem Missstand abhelfen kann. 

Das Akzeptieren des Ist-Zustandes wird also mit der Bejahung gleichgesetzt: Was wir akzeptieren, heißen wir gut und unterstützen es damit. Das bedeutet, dass wir im Status Quo verharren wollen. Wenn wir einverstanden sind mit dem, was ist, sehen wir keinen Anlass und keinen Grund für Veränderungen und werden uns auch nicht dafür einsetzen.  

Eine solche Haltung wäre verheerend aus der Sicht von Pädagogen, die tagtäglich mit der Lernunlust von Schülern konfrontiert sind. Wenn ein junger Mensch akzeptiert, dass er schlecht Englisch spricht, bedeutet das in dieser Sichtweise, dass er keinerlei Anstrengungen unternehmen wird, Vokabeln zu lernen und die Aussprache zu üben. Es geht also darum, ihm klarzumachen, dass er seine Einstellung ändern muss und den Schaden mangelhafter Englischkenntnisse für sein weiteres Leben sieht. Schüler brauchen ein Bewusstsein über ihre Unvollkommenheit, speziell in den Bereichen, die in der Schule wichtig sind, und dieses Bewusstsein muss auch mit einem Leiden daran verbunden sein. Sie müssen unzufrieden mit sich selber sein, damit sie zu lernen beginnen. Selbstakzeptanz ist nur eine Ausrede für Faulheit und Bequemlichkeit. Es braucht Druckmittel, damit diese unproduktive Haltung überwunden wird und junge Leute dazu gebracht werden, dass sie sich für Leistungen anstrengen.

Hinter dieser Haltung steckt die Überzeugung, dass das Leben ein Kampf ist, in dem es nur zwei Optionen gibt: Gewinnen oder verlieren. Deshalb ist eine andauernde Anstrengung notwendig, jedes Nachlassen könnte Nachteile nach sich ziehen. Wir müssen nicht nur unseren eigenen inneren Schweinehund bekämpfen, sondern auch die Fehlerhaftigkeiten und Nachlässigkeiten unserer Mitmenschen, die uns damit am Gewinnen hindern.

Ist damit der zweite Satz erledigt? Er beruft sich auf ein Vertrauen, und die Frage ist, ob es berechtigt oder blind ist. Wenn wir akzeptieren, was ist, gehen wir aus der Spannung heraus, die mit dem Nichtakzeptieren verbunden ist. An allem, was wir nicht akzeptieren, leiden wir. Die lauten Nachbarn, die blöden Politiker, die sturen Vorgesetzten, das hässliche Wetter, unsere eigene Vergesslichkeit, Unachtsamkeit usw. Der erste Satz geht also davon aus, dass inneres Leiden zum Handeln führt und Nichtleiden zum Nichthandeln. Wir tun also nur dann etwas, wenn wir unter Druck sind oder an etwas leiden, das wir ändern wollen. Es sind die äußeren Umstände, die uns zum Handeln motivieren – oder zwingen. Die Angst vor den negativen Konsequenzen des Nichthandelns ist dann größer als die Beharrungskraft und die Angst vor der Veränderung und dem damit verbundenen Risiko. (In einem früheren Artikel auf dieser Seite wurde diese Haltung als reaktive Orientierung beschrieben und von der kreativen Orientierung unterschieden.)


Akzeptieren, was ist


Diese Einstellung hat eine simple Einsicht zur Grundlage. Was ist, ist, ob es angenehm oder unangenehm, gewünscht oder gehasst ist. Dadurch, dass wir etwas nicht akzeptieren, hört es nicht auf zu sein. Wenn wir es akzeptieren, bejahen wir dessen Sein, also die Tatsache des Existierens, nicht aber sein So-Sein, also die Art und Weise des Existierens. Aus dieser Unterscheidung gewinnt der zweite Satz seine Kraft. Und dieses Missverständnis muss vermieden werden, wenn wir diese Kraft verstehen und nutzen wollen. 

Wenn wir das, was ist, in seinem Sein akzeptieren, dann verzichten wir auf den Widerstand gegen diesen Teil der Realität, und dieser Widerstand ist eigentlich unsinnig wie bei jemandem, der sagt: Ich bin gegen die Existenz des Mondes oder der Schwerkraft. Widerstand verbraucht Energien, die wir für andere Zwecke sinnvoller einsetzen können. Widerstand bindet uns an das, was wir ablehnen – und an diesen Teil in unserem Verstand, der sich damit wichtig machen will. 

Im Akzeptieren entsteht eine Übereinstimmung zwischen der Wirklichkeit und unserer inneren Repräsentation, oder einfacher gesagt, zwischen Innen und Außen. Diese Resonanz ist die beste Voraussetzung für ein situationsangepasstes Handeln: Tun, was zu tun ist, und lassen, was zu lassen ist. Das Nicht-Akzeptieren hingegen bestärkt die Trennung zwischen Ich und Welt, die erst wieder mühsam überwunden werden muss, um handlungsfähig zu werden. 


Veränderungen geschehen


Weshalb aber soll es, wenn wir etwas in seinem Sein akzeptieren, dann zu Veränderungen kommen? Das Akzeptieren steht nicht im Gegensatz zum Handeln. Es hilft vielmehr, die Voraussetzungen für das eigene Handeln besser zu überschauen. Solange wir im Widerstand zur aktuellen Wirklichkeit sind, ist unsere Blickweise beschränkt und fokussiert auf die negativen oder störenden Aspekte dieser Wirklichkeit. Wenn wir anerkennen, dass ist, was ist, weitet sich unser Blick und unser Verständnis für die Wirklichkeit. Aus diesem Verständnis können wir stimmigere und sinnvollere Handlungen setzen als aus dem Druck und Zwang heraus, der aus dem Nichtakzeptieren kommt.

Es gibt Teile der Realität, auf die wir einen direkten Einfluss ausüben können, wie z.B. das Putzen unserer Zähne oder die Entscheidung für den Kauf gesunder Lebensmittel, und andere, die wir von uns aus nicht direkt ändern können, wie z.B. das Verhalten anderer Menschen oder die Veränderungen im Klima und in der Arbeitswelt. Bei den Problemen innerhalb unserer direkten Einflusssphäre kann uns die akzeptierende Einstellung helfen, auf Selbstverurteilungen und Selbstkritik zu verzichten. Wir haben unsere Vorsätze und wir halten sie immer wieder nicht ein. Mit der ersten Haltung werten wir uns als inkonsequent und unzuverlässig ab und machen uns Vorwürfe wegen unserer Charakterschwächen. Mit der zweiten Haltung akzeptieren wir, dass wir so sind, wie wir sind, manchmal konsequent, manchmal inkonsequent, und überlegen uns, was wir wollen und wofür wir uns entscheiden. Wir fühlen uns freier, wenn wir uns nicht mit Selbstkritik belasten. Wir erkennen, dass wir nicht aus Druck heraus, z.B. um unserem Selbstbild oder den Erwartungen anderer Menschen zu entsprechen, handeln müssen, sondern aus dem, was wir für richtig finden. 

Im Akzeptieren nehmen wir das Besserwissen und Kontrollierenmüssen aus der momentanen Erfahrung heraus. Wir geben der Wirklichkeit die Erlaubnis, so zu sein, wie sie ist. Diese Erlaubnis gibt uns, aber auch den anderen Teilen der Wirklichkeit die Freiheit, sich von sich aus zu verändern. Wir übergeben die Verantwortung dorthin, wo sie hingehört. Wo Druck herrscht, kann es zu Veränderungen kommen, die dem entsprechen, was der Druck will oder auch nicht. Lehrer, die auf ihre Schüler Druck ausüben, können bewirken, dass sie lernen, was vorgegeben ist oder auch nicht, denn Druck kann auch Gegendruck erzeugen und den inneren Widerstand verstärken. Wo der Druck herausgenommen wird und an seine Stelle die Verantwortung übernimmt, kommt es unter Umständen auch nicht zu dem von außen gewünschten Resultat, aber zu einer Handlung, die der handelnden Person entspricht. Alles, was wir tun „müssen“, stößt auf ein inneres „Nicht-Wollen“. Dieser Widerstand sabotiert das Tun, wir machen leichter Fehler oder vergessen wichtige Details usw. Sigmund Freud hat diese Mechanismen unserer Psyche in seinem Buch über die Fehlleistungen („Zur Psychopathologie des Alltagsleben“, 1901) anschaulich beschrieben. 

Schließlich kommt auch noch der Aspekt zum Tragen, dass sich die Wirklichkeit, in uns und um uns herum, permanent verändert, erneuert und verbessert. Es gibt keinen Stillstand und kein Anhalten in der Natur; die Stopptafeln haben die Menschen erfunden. Gleich ob wir etwas akzeptieren oder ob wir dagegen sind, es verändert sich. Manchmal entspricht es unseren Erwartungen oder Planungen, und manchmal nicht.


Die leidige Neigung zur Selbstkritik


Wie kommen wir überhaupt auf die Idee, uns selbst zu kritisieren? Den Vorgang nennt man Internalisieren. Wie wir von den Bezugspersonen unserer Kindheit behandelt wurden, so behandeln wir uns später selbst. Wenn sie uns kritisiert haben, haben wir die Meinung gebildet, dass etwas an uns nicht in Ordnung ist und kritisiert werden muss. Schließlich sind sie die Großen, die es wissen müssen, und wir die Kleinen, die es lernen müssen. Unter Erwachsenwerden verstehen wir, dass wir das selber machen, was vorher die Eltern für uns gemacht haben: Pullover anziehen, Frühstück machen, Einkaufen gehen, und: Kritisieren und Abwerten bei Fehlern. Wir entlasten unsere Eltern und werden zu noch strengeren Beurteilern unserer Handlungen.

Unsere Selbstbeziehung spiegelt die Beziehungen unserer Eltern zu uns. In dem Maß, wie sie uns wertschätzen konnten, können wir uns selbst wertschätzen, in dem Maß, wie sie uns kritisierten, kritisieren wir uns selbst. In dem Maß, wie sie uns akzeptieren konnten, können wir uns selbst und auch die anderen akzeptieren.

Die Einstellung zum Weiterkommen im Leben, die unsere Eltern hatten, übernehmen wir mit Überzeichnungen oder mit Abstrichen, aber in den Grundzügen. Die „Schweinehund-Philosophie“ ist deshalb so prägend in unserer Kultur, weil sie in vermutlich jede Erziehungsbeziehung einfließt und damit von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Eltern denken, mein Kind muss lernen ein Leistungsbewusstsein zu entwickeln, sonst wird es in der Gesellschaft keinen Platz finden. 

Nach dem Modell von der Bewusstseinsevolution markiert diese Auffassung schon den Übergang von der tribalen zur emanzipatorischen Stufe und verfügt deshalb über einen tief gelagerten und mächtigen Sitz im kollektiven Unbewussten. In dem, was wir heute die Leistungsgesellschaft nennen, ist sie fest verankert. Von jedem Mitglied dieser Gesellschaft wird Leistung erwartet, ob es das selber will oder nicht. Wenn jemand seine inneren Widerstände nicht überwinden kann, verdient er keine Rücksichtnahme und landet am unteren Ende der sozialen Leiter. Auch das Ausmaß und der Umfang der geforderten Leistung werden vordefiniert und steigen immer mehr an, wie viele heutige Arbeitnehmer und Manager bestätigen.


Leben im Fließen


So vieles in unserem Leben verläuft nach dem Prinzip „Akzeptanz->Handlung“, nämlich all das, was wir nicht mit unserem Denken problematisieren. Milz, Leber und alle anderen Organe, Gewebe, Nerven tun, was sie tun, ohne Druck oder Müssen. Die meisten Tätigkeiten im Leben laufen ab, ohne dass wir überlegen, ob wir das Richtige oder das Falsche tun. Wir erkennen, was zu tun ist, die Wirklichkeit, wie sie gerade ist, und tun, was sich daraus ergibt. 

Wir spazieren durch den Wald und plötzlich stolpern wir über eine Wurzel, der Körper merkt, was los ist, verhindert sofort, dass wir fallen und korrigiert die Haltung wieder, ohne dass wir denken müssen – und dann kommt aber das Denken und wirft uns vor, dass wir besser hätten aufpassen sollen. Was passiert ist, ist schon vorbei, aber unser Denken spielt sich auf, ohne irgendetwas zur Bewältigung der Störung beizutragen. Es kann nicht akzeptieren, was geschehen ist, weil es mit seiner Prägung glaubt, dass das Gleiche sofort wieder vorfallen wird, wenn es nicht klar und deutlich vermerkt, wie ungeschickt und unbedacht wir vorgegangen sind. Es hat wieder sein Prinzip des Nicht-Akzeptierens zur Anwendung gebracht.

Wir sehen: Ein kleines Hirnareal sieht seine Hauptaufgabe darin, mit dem Grundsatz des Nicht-Akzeptierens zu arbeiten, während unser restlicher Organismus nach dem Prinzip „Akzeptanz->Handlung“ funktioniert. Es ist vom Unbewussten der Menschen geprägt, die in unseren früheren Jahren das Sagen hatten. Selten hilft es uns, meistens macht es uns das Leben schwerer. Wenn wir hingegen nach dem Prinzip der Achtsamkeit die Aufmerksamkeit in den Moment bringen, wird es überflüssig, und wir pendeln von der Akzeptanz zum Tun, Zyklus für Zyklus. Und wir werden sehen, dass es uns das Leben leichter und einfacher macht.

Zum Weiterlesen:
Sag Ja zum Moment
Widerstand und Verwandlung
Von den Absichten zur Absichtslosigkeit
Reaktive und kreative Lebensorientierung

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