Freitag, 4. Januar 2019

Mehr Konflikte durch gelingende Integration - und das soll gut sein?

Aladin El-Malaalani: Das Integrations-Paradoxon. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Kiepenheuer&Witsch 2018

„Die zentrale Folge gelungener Integration ist ein erhöhtes Konfliktpotenzial.“ (S. 59)

So lautet die überraschende Kernthese dieses empfehlenswerten Buches über den vieldiskutierten Themenkomplex Migration und Integration. Denn die meisten erwarten sich von gelingender Integration ein Abnehmen der Konflikte und damit mehr Frieden. Die eingewanderten Ausländer sollen sich anpassen, sodass sie nicht auffallen, und dann sollte es keine Wickel mehr geben.

Doch der Autor muss es wohl besser wissen. Er arbeitet an einer deutschen Fachhochschule als Forscher, ist also ein deutscher Wissenschaftler – oder doch nicht? Seine Eltern sind vor 40 Jahren aus Syrien emigriert, er trägt einen arabischen Namen, schaut nicht wie ein "typischer Deutscher" aus und hat also einen „Migrationshintergrund“; ein Begriff, der im Buch kontroversiell diskutiert wird, ebenso wie die Frage, was denn „deutsch“ eigentlich ist.

Warum nun muss eine gelungene Integration mehr Konflikte hervorrufen? Menschen, die neu in ein Land kommen, ordnen sich zunächst unter. Sie sind froh, dass sie es geschafft haben, ihrem Fluchtgrund entkommen zu sein und lassen sich langsam auf die neue Situation ein. Sie stellen wenig Ansprüche und nehmen vieles hin. Menschen, die sich dann nach einiger Zeit in die  Gastkultur integriert haben, fühlen sich mehr zugehörig und sehen mehr Gemeinsamkeiten mit anderen Mitgliedern dieser Kultur. Auf dieser Grundlage wollen sie sich aber auch mehr einmischen und mehr teilhaben. Dadurch kann mehr Streit entstehen.



Diskriminierung ist eine Folge von Bewertungen und Erwartungen


Je mehr Vertrautheit sich im neuen Land und in der neuen Gesellschaft entwickelt, desto schneller wachsen die Ansprüche und die Empfindlichkeiten. Mit dem stärker werdenden Gefühl für Zugehörigkeit wird auch deutlicher spürbar, wo es Diskriminierungen und Unduldsamkeiten gibt, die nicht länger akzeptiert, sondern kritisch thematisiert werden. „Wahrgenommene Diskriminierung entsteht erst durch die Bewertung. Nur dann, wenn eine Ungleichbehandlung als illegitim bewertet wird, fühlen sich Menschen diskriminiert. Als illegitim bewerten sie Handlungen und Situationen dann, wenn die Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität zu groß wird, wenn also die Realität zu weit von den Erwartungen abweicht.“ (85)

Als Beispiel kann man vergleichsweise darauf hinweisen, dass die Frauen in den 1960er Jahren mit ihrer viel schlechteren Rolle zufriedener waren, als sie es heute mit ihrer viel besseren sind. Mit einer erfolgreichen Integration steigen die Erwartungen, und daraus erwachsen wiederum mehr Sensibilitäten, was Diskriminierungen anbetrifft. Solche Schlechterstellungen anzuprangern, zeugt von einem verstärkten Sicherheitsgefühl in der neuen Umgebung, erzeugt aber auch mehr Konflikte. „Integration steigert das Konfliktpotenzial in einer Gesellschaft. Es gibt aufgrund gelungener Integration Konflikte, die es ohne Integration nicht gegeben hätte.“ (123)

Der Autor sieht Streit (in einer konstruktiven Form) als Kitt der Gemeinschaft – unterschiedliche Sichtweisen und Perspektiven steigern das kreative Potenzial. Deshalb sind klassische Einwanderungsländer besonders produktiv und innovativ. Das gegenseitige Lernen, das beim respektvollen Streiten passieren kann, erweitert die Horizonte und schafft neue Möglichkeiten. „Näherkommen und Zusammenwachsen können dazu provozieren, die Differenzen zu betonen, weil sie kleiner werden.“ (S.15) 



Integration ist mit Ängsten und Schmerzen verbunden - für beide Seiten


„Zusammenwachsen dauert und tut weh“ (S. 37), weil eigene Vorstellungen relativiert und liebgewonnene Gewohnheiten in Frage gestellt werden müssen und Fremdes und Unvertrautes näher rückt, was Unsicherheiten und Ängste auslöst. Viele hätten es lieber behaglich in der eigenen bekannten Umgebung mit den althergebrachten Traditionen, statt sich auf Neues und Fremdes einstellen zu müssen. So lautet das Kalkül der Bewahrer und der Gegner der Öffnung. Nur bewirkt das Zumachen der Grenzen den Verzicht auf Entwicklung und Wachstum. Das sei allen Enthusiasten von Mauern und Zäunen ins Stammbuch geschrieben.

Meist sind das auch die Leute, die fordern, dass sich die Menschen assimilieren, wenn sie schon ins eigene Land gelassen wird. Doch dieser Erwartung erteilt der Autor eine entschiedene Absage: Das Ansinnen, die eigene Identität, die durch das Aufwachsen in der Heimatkultur entstanden ist, aufzugeben, ist unsinnig. Die eigene Identität kann nur aufgeben, wer mit sich selber uneins ist, und wer mit sich uneins ist, braucht eine Therapie. Menschen migrieren aber nicht, weil sie mit sich selber im Zerwürfnis sind, sondern weil es die äußeren Umstände erzwingen. Sie kommen meist mit einer Bejahung ihres Glaubens, ihrer Werte, ihrer Sprache in die neue Umgebung. Sie haben keinen Grund, sich selber deshalb zu verleugnen. Wer das verlangt, denkt unmenschlich: Wir brauchen uns nur auf das Gedankenexperiment einlassen, selber auswandern zu müssen, und da würde ein Gastland z.B. Japan fordern, man müsse dort Japaner werden und alles, was zur eigenen kulturellen Identität gehört, aufgeben. Das will wohl niemand.



Loyalität und Erfolg


Allerdings wird das Problem dort komplexer, wo die Kinder ins Spiel kommen. Sie sollen es in der neuen Kultur besonders gut schaffen und ihr Bestes geben, um erfolgreich zu sein. Dazu müssen sie sich sehr an die im Gastland herrschenden Anforderungen und Werte anpassen und entfremden sich damit ein Stück von der Welt der Eltern, die sich als Migranten in der fremden Umgebung umso mehr an die eigenen Traditionen und kulturellen Elemente klammern. Sie müssen ihre eigene Identität aus einer Mischung der familialen und der neuen Kultur entwickeln. Es entsteht ein Konfliktfeld zwischen Loyalität und Erfolg, das sich durch viele Familien „mit Migrationshintergrund“ zieht und das konstruktiv bewältigt werden muss.


Die beste aller bisherigen Welten


Während wir in den Medien immer wieder über Katastrophen, Kriege und Konflikte informiert werden, geht unter, dass sich der Lebensstandard der Menschen in der ganzen Welt seit Jahrzehnten schrittweise bessert – es gibt weniger Armut und Hunger, höhere Lebenserwartung und Durchschnittseinkommen, eine enorm gestiegene Alphabetisierungsrate und eine erhebliche Steigerung des Zugangs zur Elektrizität und auch zu Bildung. Also leben wir in einer Welt, in der es so vielen Menschen noch nie so gut gegangen ist, was die Basisbedingungen und Entwicklungschancen angeht. Aus dieser Perspektive betrachtet, leben wir in der besten aller bisherigen Welten – und deshalb auch in der Welt mit dem höchsten Verbesserungsbedarf.


Nun könnten wir meinen, dass diese schon über Jahrzehnte wirkenden Trends zu einem Rückgang der Migration führen müssen. Doch sollten wir nicht außer Acht lassen, dass die Migranten nicht aus den ärmsten Ländern kommen, sondern aus Schwellenländern. Migration erfordert „ein vergleichsweise hohes Maß an Fitness, viel Geld und gute Netzwerke. ...Es kommen nicht die Ärmsten und Schwächsten.“ (149)

Deshalb ist es auch naiv anzunehmen (wie das viele Politiker tun und ihren Anhängern vorgaukeln), dass die Zuwanderung nach Europa dadurch reduziert werden könnte, wenn die Entwicklungshilfe und Wirtschaftsförderung ausgeweitet wird („Die Migrationsursachen vor Ort bekämpfen“). Die Forschung geht von gegenteiligen Entwicklungen aus, denn mit dem steigenden Wohlstand in einem Land steigen auch die Ressourcen für eine Auswanderung bei denen, die noch mehr Anteil am globalen Kuchen wollen.

Statt dessen sollte der Blick darauf gerichtet werden, was die europäische Politik direkt zur Ankurbelung der Migration beiträgt: „Unfaire Handelsabkommen, interessengeleitete Subventionspolitik und natürlich nicht zuletzt … Waffenlieferungen“ (152). Migration hingegen leistet umgekehrt einen recht effektiven Beitrag zur Entwicklungsförderung, denn die Migranten, die es im neuen Land geschafft haben, überweisen Gelder zurück in ihre Heimatländer, die dort direkt den Menschen zugute kommen und an der Basis in die Wirtschaft einfließen, und nicht, wie es bei Finanzmitteln aus der Entwicklungshilfe häufig der Fall ist, in korrupten Kanälen versickern.

Ob es uns passt oder nicht – wir müssen uns darauf einstellen, dass die Migration weitergeht. Sie war und ist Teil unserer Geschichte (in der Zwischenkriegszeit war Deutschland das Auswanderungsland Nummer 1 und auch in Randgebieten Österreichs haben sich ganze Gegenden durch die Migration nach Amerika entvölkert) und sie wird auch Teil unserer Zukunft sein. Wir sollten nicht vergessen, dass es die europäischen Eroberer und Auswanderer waren, die die Globalisierung erfunden haben und dass Europa über Jahrhunderte enorm davon profitiert hat – und auch in Zukunft daraus Gewinn schöpfen kann, wenn es gelingt, die mit der Integration migrierter Menschen verbundenen Konfliktfelder konstruktiv und kooperativ zu nutzen. Wir verfügen über ein reichhaltigen Wissen über Konfliktlösungen; wenn wir darauf vertrauen, brauchen wir keine Angst vor Zuwanderung oder Überfremdung haben, sondern können sie als Chance sehen.

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