Montag, 9. Juli 2018

Achtsamkeit: Jeder Moment hat die gleiche Bedeutung

Achtsamkeit heißt, jedem Moment des Erlebens die gleiche Bedeutung zu verleihen. Gleich heißt dabei gleichwertig im formalen Sinn, es gibt also keine Wertunterschiede und keine Vergleichbarkeit. Denn jeder Moment trägt als Inhalt eine einzigartige Qualität in sich und unterscheidet sich von jedem anderen. Deshalb gehört zur Haltung der Achtsamkeit, jedem Moment die gleiche Achtung entgegenzubringen, also nicht einen Moment über oder unter den anderen zu stellen. 

Wenn uns diese Haltung gelingt, erübrigen sich alle Unterschiede von wichtig oder unwichtig, spannend oder fad, intensiv oder flach, exzeptionell oder banal. Gerade da jede Erfahrung eine spezifische Wertigkeit in sich trägt, die mit keiner anderen verglichen werden kann, sind alle von der übergeordneten Position der Achtsamkeit grundsätzlich gleich. 

Um zu dieser Einsicht zu gelangen, bedarf es allerdings der vollen Präsenz im Moment. Die Unterschiede in der Bewertung stammen aus dem Verstand und erscheinen, sobald sich die Präsenz aus dem Moment entfernt, sobald also die Achtsamkeit hinter dem Denken verschwindet. Dann sagen wir etwa: Das war eine wichtige Einsicht, das war ein herausragendes Erlebnis, gestern war alles besser im Vergleich zu heute oder umgekehrt. Wir erzählen die „Highlights“ des Tages, und das sind die Erlebnisse, die der Verstand aus der Vielzahl an Möglichkeiten nach seinen Kriterien herauspickt. 


Was bleibt dann noch zu erzählen?


Natürlich können wir nicht alles, was wir erleben, wiedergeben, wenn uns jemand nach unserem Tag fragt. Das wäre unsinnig und langweilig bis unhöflich für die fragende Person:“ Ich habe, nachdem ich das Haus verlassen habe, zuerst den linken Fuß auf den Boden gesetzt und bin dabei auf ein Eichenblatt gestiegen.“ Usw. Der Gesprächspartner ist ja nicht an jedem Detail unseres Erlebens interessiert, und auch nicht jeder Moment eines Tageserlebens kann in unserem Gedächtnis gespeichert werden. 

Der Wert für Erzählen oder Erinnern ist ein ganz anderer als der des Erfahrens, und darauf ist die Intention der Achtsamkeit gerichtet. Wenn wir erzählen, müssen wir eine Auswahl treffen, müssen diese Auswahl aber nicht mit einer Bewertung versehen, die sie über die anderen Erfahrungen stellt. Wir verleihen  diesen ausgewählten erzählungswerten Erfahrungen nur eine weitere Bedeutung, die im aktuellen Geschehen des Erzählens oder Erinnerns entsteht.

Die Achtsamkeit verweilt dabei auf der Auswahl, auf dem Erzählen, auf dem Erinnern, auf dem Teilen und auf der Reaktion der zuhörenden Person. Diese Momente eines lebendigen Geschehens wiederum haben die gleiche Bedeutung wie das, was vorher war und was nachher sein wird.


Auf Augenhöhe mit der Wirklichkeit


Aus der Perspektive der Achtsamkeit begegnen wir der Realität im Außen wie im Innen auf Augenhöhe. Wir nehmen eine egalitäre und demokratische Perspektive ein, weil es gar keine andere geben kann, wenn wir uns auf dieser Erfahrungsebene befinden. Sie schenkt uns den Einblick in die universale Gleichwertigkeit des Seins. 


Die Menschenrechte – eine Voraussetzung für eine achtsame Menschheit


Die allgemeinen Menschenrechte beinhalten die Gleichstellung aller Menschen gegenüber jeder Form von Diskriminierung, sie es wegen der Geburt, des Standes, des Geschlechts usw. Diese fundamentale Gleichheit aller Menschen in der Wertigkeit ihres Menschseins ist deshalb intuitiv so einleuchtend, weil sie eine Anwendung der achtsamen Welterfahrung darstellt. Sie ist nur ein Sonderfall, freilich einer, der eine ebenso grundlegende und unhinterfragbare Geltung hat wie alle anderen Teile der Realität. Was für alles gilt, was es gibt, sollte in jedem Fall für die Menschen gelten. Deshalb muss jedem Rütteln und Relativieren dieser Grundrechte mit vehementer Kritik begegnet werden. Grundrechte müssen verteidigt werden, da sonst der Überlebenskampf zur Regel wird und damit jede Form von Gewalt legitimiert wird.

Leider sehen das viele Menschen anders, die noch in fixen Abwertungen und diskriminierenden Ansichten stecken. Denn der Zugang zu dieser Form der Realitätserfahrung ist nur möglich, wenn wir uns tiefer mit uns selbst verbinden statt dem an- und nachzuhängen, was uns von anderen vorgebetet und eingebläut wird. Wir spalten uns gleichzeitig von anderen Menschen und von Teilen von uns ab, sobald wir uns mit den angstbesetzten Aspekten unserer Seele identifizieren. 

Erkennen wir, dass wir in uns Licht- und Schattenseiten tragen, sehen wir schnell, dass wir weder besser noch schlechter als irgendjemand anderer sind. Selbst wenn wir weniger Unheil als einer der Gräueldiktatoren angerichtet haben, sollten wir zu allen Unbewusstheiten stehen, die uns unterlaufen sind, bevor wir uns vergleichen. Quantitative Vergleiche auf dieser Ebene anzustellen, bringt nichts, weil sie nur auf graduelle Unterschiede verweisen, die nichts über das Menschsein als solches aussagen. Unser eigenes „kleines“ Menschenleben ist genauso bedeutsam und inhaltsreich wie das eines berühmten oder eines berüchtigten Menschen. 


Die innere Seite der Achtsamkeit


Auf der subjektiven Seite dieser Medaille können wir folgendes entdecken: Nicht nur jeder Moment hat die gleiche Bedeutung, sondern auch jede Erfahrung, also das, was unser subjektives Erleben jedes Momentes ausmacht. In diesem Sinn deckt sich Inneres und Äußeres, Subjektives und Objektives. Damit nehmen wir zugleich uns selbst als Erfahrende so an, wie wir gerade die Realität wahrnehmen. Spielen wir dagegen Erfahrungen gegeneinander aus, indem wir z.B. eine Situation als besser bewerten als eine andere, so bewerten wir uns dabei als Erfahrende: Im einen Moment war ich besser mit der Realität verbunden als im anderen.  

Natürlich genügen wir diesem Anspruch an Achtsamkeit nicht in jedem Moment. Einmal sind wir eins mit dem, was gerade ist, ein andermal nicht. Wir haben Momente der Achtsamkeit und Momente der Unachtsamkeit. Und auch hier gilt es, den Anspruch der Achtsamkeit zu berücksichtigen, sobald uns das gelingt: Ob wir gerade achtsam sind oder nicht – beides zählt gleich viel. Diese Gleichwertigkeit fällt uns allerdings nur auf, wenn wir in der vollen Präsenz der Achtsamkeit sind.

Sollen wir das Bewerten von Situationen überhaupt sein lassen? Indem wir eine Erfahrung als mangelhaft oder unangenehm bewerten, haben wir die Möglichkeit, daraus zu lernen. Wir können dafür sorgen, unser Verhalten und unsere Einstellung zu verändern, Fehler und Unbewusstheiten vermeiden und rücksichtsvolles und liebevolles Handeln vermehren.


Lernen in der Achtsamkeit


Auf der Ebene der Achtsamkeit gibt es kein inhaltliches Lernen, weil alles, was sich gerade ereignet, gleich wichtig und stimmig ist. Es gibt nur ein Lernen in Hinblick auf das Praktizieren der Achtsamkeit, durch die Steigerung unserer Bewusstheit. So bekommen wir ein Gespür dafür, wann wir uns im Zustand der Achtsamkeit befinden und wann nicht. Wir können z.B. durch die Praxis der Meditation oder anderer Achtsamkeitsübungen lernen, schneller und dauerhafter in die Präsenz zurückzukehren.
Alles Lernen, das im Rahmen der Achtsamkeit stattfindet, z.B. das achtsame Lernen einer Fremdsprache oder des Umgehens mit Gefühlen usw., gilt gleichviel wie andere Erfahrungen, in denen nicht gelernt wird, sondern z.B. spazieren gegangen oder ein Frühstück bereitet wird. 


Warum wir Erfahrungen bewerten


Bedeutung messen wir unseren Erfahrungen in der Weise zu, wie wir glauben, dass sie auf die Zukunft wirken. Wir sagen z.B., dass das Erlebnis, am Gipfel eines Berges zu stehen, von größerer Wichtigkeit ist als einzelne mühsame Momente beim Aufstieg. Oder: Die Fahrt mit der Eisenbahn war langweilig, aber die Begegnung mit dem Menschen, den wir am Zielort getroffen haben, bereichernd. Wir nehmen an, dass wir von der Eisenbahnfahrt oder vom Bergaufstieg weniger Gewinn für unser Leben mitnehmen können als vom Gipfelerlebnis oder vom freundschaftlichen Gespräch. Doch woher wollen wir das wissen? Woher nehmen wir diese Gewissheit in Hinblick auf unsere Zukunft?  

Wir glauben intuitiv, dass unangenehme oder langweilige Erlebnisse weniger bedeutsam sind als angenehme, glückbringende und erfüllende. Aber auch hier gibt es keine Gewissheit. Oft haben unangenehme Erfahrungen angenehme Folgen, und auf besonders tolle Erlebnisse folgen schlechtere Zeiten. Wir messen also unseren Erfahrungen situativ Bedeutungen zu, die sich im Lauf der Zeit verändern, tun aber so, als wären sie für alle Zeiten festgelegt. 

Die achtsame Haltung hält sich von solchen Festlegungen frei. Alles an unserem Erleben ist in dauernder Veränderung, und die Achtsamkeit nimmt den jeweiligen Moment in diesem Fließen wichtig, während alles, was davor gewesen sein könnte oder danach werden könnte, ausgeblendet bleibt. Unsere Einzelerlebnisse sind wie die Wellen in diesem Fließen, mal so und mal so, aber ohne Unterschiede untereinander. Jede Welle ist anders und jede Welle ist gleich.

Deshalb verfügen wir in dieser Position über keinen Vergleichsmaßstab und brauchen diesen auch nicht. Wir vergleichen Optionen, wenn wir etwas erwerben wollen: Welches der angebotenen Lebensmittel ist gesünder, frischer, geschmackvoller, natürlicher, ökologischer usw.? Auch in solchen Entscheidungsprozessen können wir in der Haltung der Achtsamkeit bleiben, indem wir beobachten, was da geradeabläuft. Warum jedoch sollten wir etwas, das jetzt ist und gleich darauf für immer verschwunden sein wird, vergleichen mit etwas, das genauso nur in einem Jetzt existiert hat und dann für immer vorbei war? 

Wenn wir eine Erinnerung mit einer anderen vergleichen, füttern wir einfach unseren Verstand. Wenn wir zur Achtsamkeit zurückkommen, sind wir im Moment, in dem es nichts zu vergleichen und zu bewerten gibt. Wir können natürlich unsere Aufmerksamkeit auf die Aktivität des Vergleichens und Bewertens lenken und erkennen damit die Ebene, auf der es abläuft, eben die Ebene des Verstandesdenkens. 


Achtsamkeit: Meta- und In-Position


Achtsamkeit ist eine Meta-Fähigkeit oder Meta-Position, die sich nicht in die Realität, also in das, was ist und was geschieht, einmischt. Vielmehr ist sie in und mit allem, was ist und geschieht. Da sie keine Distanz zu allem, was ist, einnimmt, kann sie gar nicht bewerten oder vergleichen. In diesem Sinn verfügt die Achtsamkeit über keine Meta-Position als etwas, das über der Realität stünde, sondern nimmt eine In-Position ein, indem sie den Unterschied von Subjekt und Objekt überwindet. Deshalb führt der Weg zur achtsamen Präsenz zur Erfahrung der Einheit des Seins. 

Zum Weiterlesen:
Die Gleichberechtigung des Seins
Demut als spirituelle Haltung
Achtsamkeit und Lebenspraxis

3 Kommentare:

  1. Lieber Wilfried,
    ich bewundere deine Gabe Dinge so auf den Punkt zu bringen! AL Erich

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  2. Wozu Bewusstheit erreichen, das Sein sind wir sowieso!
    Es gibt nichts zu gewinnen.
    Unser SEIN was wir sind,ist ja nur überdeckt von unserer Idendifikation mit unserem Ich.
    Unserer Angst vor Auflösung.
    Sterben solange wir Leben ist Erleuchtung, und dann haben wir was erreicht?
    Das was ja eh schon ist.
    Wozu dann das ganze Theater von wegen Urknall und Materie?
    Nur in einer dualen Welt ist es möglich Gefühle wahrzunehmen, Unterschiede zu erkennen, Gefühle zu haben.
    Das ist das wunderschöne Geschenk des Seins.
    Und durch die Entropie ist Erkenntnis überhaupt erst möglich, da Ursache und Wirkung nur auf einer linearen Zeitlinie verstehbar werden.

    Unser Job in der Materie ist es, Hier und Jetzt Bewusstsein zu integrieren, damit unnötiges Leid und Destruktivität überwunden werden können. Aus Mitgefühl, das ist der einzige Grund.
    Dem Sein ist es egal wieder Äonen von Zeit verstreichen zu lassen bis sich wieder so komplexe Lebensformen wie die unsere entwickeln.
    Zuflucht in geistigem Sein zu suchen ist nicht nötig, da der Tod nur eine Illusion ist.
    Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatten wir die Möglichkeit unseren Planeten umfassend zu zerstören, genauso wie wir auch noch nie in der Lage waren, umfassend Bewusstseinsfördernde Information für alle Menschen zugänglich zu machen.

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